Marco Carrera
Piazza Savonarola 12
50132 Firenze
Italia
Paris, 15. März 1983
Ciao Marco,
ich denke mir, dass Du Dich fragst, wer Dir auf der Schreibmaschine aus Paris schreibt, einschließlich der Adresse auf dem Umschlag. Vielleicht bist Du schon an das Ende des Briefs geeilt, um die Unterschrift zu sehen, vielleicht hast Du nach dem Absender geschaut, wo ich allerdings nur meine Initialen hingeschrieben habe, oder vielleicht (und das ist die Möglichkeit, die mir am liebsten wäre) hast Du intuitiv begriffen, dass ich es bin. Wie auch immer, ich bin es. Ich bin es, die Dir aus Paris schreibt, Marco, auf der Schreibmaschine meines Vaters. Ja, ich, die ich mich nie gemeldet habe, seit wir hierhergezogen sind.
Was mache ich? Wie geht es mir? Ich studiere. Mir gefällt der Ort, wo ich jeden Tag zum Studieren hingehe. Und so weiter. Ich schreibe Dir nicht, um Dir diese Dinge zu erzählen.
Ich denke oft an Dich. Du bist der einzige Italiener, an den ich immer wieder denke, zusammen mit einem anderen jungen Mann, den ich nicht aus dem Kopf bekomme. An ihn denke ich in den schlimmen Augenblicken, und an Dich denke ich in den schönen Augenblicken. Nicht nur, wenn ich, wie heute, Deinen roten Pullover anziehe. Ich denke an Dich vor allem im Taxi, in den berühmten langen Nächten, in denen Du es liebtest, warme Schiacciatine zu kaufen, aber Angst hattest, dort Deiner Mutter und ihren Freunden zu begegnen. Ich denke an Dich im Taxi, wenn ich spätnachts nach Hause zurückkehre, halb betrunken, nach einer Feier, und ich fühle mich so, wie ich mich, wie Du mir einmal sagtest, sehen soll, »fröhlich verloren«.
Ich bin nie Taxi gefahren. Ich glaube, in Florenz habe ich nie allein ein Taxi genommen. Ich wusste nicht, wie schön es ist, nachts Taxi zu fahren. Es anzuhalten, indem man vom Bürgersteig aus mit der Hand winkt, wie in den Filmen. Ich wusste überhaupt nichts über Taxis. Ich habe beispielsweise gelernt, dass, wenn das Schild »Taxi Parisien« orange leuchtet, angezeigt wird, dass das Taxi besetzt ist. Und wenn es weiß leuchtet, muss man nur den Arm heben, und es hält an. Das ist unglaublich. Aber Du weißt das vielleicht, klar, sicher weißt Du das. Ich nicht, ich wusste es nicht. Und wenn ich drinsitze und dem Fahrer die Adresse gesagt habe, und der Wagen losfährt und durch die erleuchteten Straßen und über die erleuchteten Plätze gleitet, beginne ich zu spüren, wie all die Dinge, die ich an dem langen Abend, der gerade zu Ende geht, gemacht habe, sich auflösen; die Gesichter der jungen Männer, mit denen ich getanzt, getrunken, geraucht habe, lösen sich auf, die Banalitäten lösen sich auf, alles löst sich auf, und ich fühle mich gut. Und in solchen Augenblicken denke ich an Dich. Ich spüre, wie alle überflüssigen Dinge von mir abfallen, und mir wird bewusst, dass, wenn ich alle überflüssigen Dinge aus meinem Leben entferne, nur Du übrigbleibst.
Und doch ist es nicht leicht, an Dich zu denken. Vor allem nach dem, was geschehen ist. Und ich habe nur sehr wenige Anhaltspunkte, wenige Bilder, an die ich mich erinnern kann. Ich flüchte mich immer in das, wo Du auf dem Sofa bei mir zu Hause, in Bolgheri, sitzt, mit Kopfhörer und Walkman, die Dich von der Welt isolieren, während ich und meine Freunde Ravioli essen. Es mag an der Uhrzeit liegen, es mag am Taxi liegen, aber für mich ist es eine schöne Erinnerung.
Und manchmal träume ich von Dir.
Heute Nacht zum Beispiel habe ich von Dir geträumt: Deswegen schreibe ich Dir und breche von mir aus das Verspechen, das ich Dir abgerungen habe — ich weiß gar nicht mehr, warum —, mir nie wieder zu schreiben.
Es ist ein sehr schöner Traum gewesen, Marco. Rein. Heiter. Schade, dass ich mittendrin aufgewacht bin. Ich erinnere mich gut daran, weil ich danach nicht mehr einschlafen konnte und stundenlang darüber nachgedacht habe. Ich lag in einer Hängematte, in einer Art mexikanischem Patio mit einem riesigen Ventilator an der Decke, der sich ganz langsam drehte, und Du hast auf einer Ecke der Hängematte gesessen, ganz in Weiß, und hast mich geschaukelt. Wir spielten ein merkwürdiges Spiel und lachten auf eine Art, die ich nur schwer erklären kann. Du fordertest mich heraus, einen bestimmten magischen Satz zu sagen, und ich brachte es nicht fertig. Der Satz war sehr merkwürdig, ich habe ihn mir aufgeschrieben, nachdem ich aufgewacht war: »Mit achtzehn haben die Benediktiner mir beigebracht zu sprechen, etwas habe ich lernen können.« Ich schwöre, so lautete er. Und ich war nicht in der Lage, ihn zu wiederholen, ich versprach mich dauernd, und dann lachten wir, und je mehr wir lachten, desto mehr versprach ich mich. Schließlich, um dir eine Vorstellung zu geben, wie sehr wir lachten, konntest selbst Du ihn nicht mehr sagen. Dein Vater kam in den mexikanischen Patio, kurz angebunden wie immer, und wir baten auch ihn, ihn zu sagen, und er versuchte es und versprach sich ebenfalls. Ich muss Dir nicht sagen, wie sehr wir beide lachten, und nach einer Weile auch er, der es immer wieder versuchte und sich jedes Mal versprach. Er schaffte es nicht, da war nichts zu machen; manchmal sagte er: »Mit achtzehn haben die Franziskaner …« oder »haben mich gelehrt zu sprechen …« Es war wirklich ein magischer Satz, und wir lachten uns tot. Und dann bin ich aufgewacht. Wenn man ihn so erzählt, scheint es ein blöder Traum zu sein, aber ich schwör Dir, das war er nicht. Und es gab nicht die geringste Verlegenheit zwischen uns. Und auch nicht Deinem Vater gegenüber. Es lief alles glatt. Aber was willst Du, es war ein Traum.
Noch unter dem Einfluss des Traums stand ich auf, verließ das Haus, ging zur Gymnastik (ich gehe zur Gymnastik) und erlebte ein verblüffendes Phänomen: Es schneite bei Sonnenschein. Ich schwör’s Dir. Unter dem Arc de Triomphe kamen riesige, schwere, nasse Flocken hervor, aber dahinter war der Himmel klar und strahlend, und in der Ferne funkelte Notre-Dame in der Sonne. Und das war kein Traum, das war echt. Und dies ist ein konfuser Brief, merke ich, aber das macht nichts. Ich hoffe nur, dass ich Dich nicht in Verlegenheit bringe, dass ich Dir keine »aus der Luft gegriffenen« Probleme bereite. (Mir fällt gerade ein, dass ich Dich das letzte Mal in jenem Fitnessstudio gesehen habe, ein Jahrhundert ist es her. Eine peinliche Erscheinung.) Daher ist es wichtig, weiterhin in den Taxis an Dich zu denken und, wenn möglich, von Dir zu träumen, wie heute Nacht. Von Dir zu träumen bedeutet unter anderem, dass ich schlafe. Weißt Du, ich habe die Schlaflosigkeit satt, und diesen anderen jungen Mann, der sich immer wieder hinterrücks in meinen Kopf einschleicht. Ich umarme Dich, falls es Dir nichts ausmacht.
Luisa