Mit zwanzig begannen Marco Carrera und Duccio Chilleri die Casinos im Ausland — hauptsächlich in Österreich und in Jugoslawien — zu besuchen, aber die langen Autofahrten, die Duccio einschließlich Bordells und Restaurants plante, hingen Marco mit der Zeit zum Hals heraus. Abgesehen davon, dass die zehn, zwölf Stunden im Inneren des kleinen Fiat X1 / 9 seines Freundes wirklich schwer erträglich geworden waren, empfand Marco Carrera das Verlangen nach professionelleren Dienstreisen, ohne jugendliche Leichtsinnigkeit, ohne die Huren, ganz darauf ausgerichtet, die Spielgewinne zu optimieren. In Wirklichkeit hatte er, wie wir schon gesagt haben, kein Interesse mehr an der Freundschaft, die der Unaussprechliche immer noch für ihn empfand; der Wunsch, Spritztouren mit ihm zu unternehmen, der Reiz, Zeit mit ihm zu verbringen, waren verflogen; allein das Verlangen, in Begleitung dieses außergewöhnlichen Gefährten die Casinos aufzusuchen, der sich wie kein anderer mit den Systemen des Roulettes auskannte, mit übersinnlichen Fähigkeiten für Craps ausgestattet war und über einen raubtierhaften Instinkt beim Black Jack verfügte, hatte noch Bestand. Daher fasste er eines Tages kurzerhand den Entschluss, diesmal das Flugzeug zu nehmen, obwohl Duccio Chilleri Angst vorm Fliegen hatte. Vier ganze Tage waren notwendig, um ihm seine Abneigung gegen die »Eisenvögel« zu nehmen, indem er — und das war der Gipfel — die gleichen rationalen und Unheil abwendenden Argumente benutzte, die er allen anderen gegenüber bemühte, um ihnen ihre Angst vor dem Unaussprechlichen auszureden. Schließlich hatte er ihn so weit; an einem lauen und duftenden Mainachmittag waren die beiden zum Flughafen von Pisa gefahren mit der Aussicht auf ein langes Wochenende im Casino von Ljubljana; im Jahr zuvor waren sie mit dem Auto dort gewesen und hatten eine nicht unbeträchtliche Summe gewonnen. Auch diese Reise würde dauern, denn Marco hatte einen sehr günstigen Charterflug einer jugoslawischen Fluggesellschaft namens Koper Aviopromet ausfindig gemacht, der allerdings aus unbekannten Gründen die Strecke zwischen Pisa und Ljubljana für einen rätselhaften Zwischenaufenthalt in Larnaca (Zypern) unterbrach. Aufgrund dieser Absurdität dauerte die Reise viermal so lang, der Ticketpreis jedoch verringerte sich geheimnisvollerweise umgekehrt proportional.
Beim Einchecken war Duccio Chilleri sehr nervös. Marco hatte ihm ein paar Beruhigungspillen gegeben, die er sich aus der Privatapotheke seiner Schwester besorgt hatte, die eine große Konsumentin von Psychopharmaka war — aber die Unruhe des Freundes hatte sich nicht gelegt. Nachdem sie ihre Plätze eingenommen hatten, hatte Duccio angefangen, Zeichen von Unduldsamkeit zu zeigen, indem er die Abnutzung der Sitze und Gepäckfächer monierte — ihm zufolge ein Hinweis auf die schlechte Wartung der kleinen Maschine —, was ihn aber vor allem in Angst und Schrecken versetzte, waren die Leute, die an Bord gingen. Schreckliche Menschen, sagte er immer wieder, vom Tode gezeichnet. Schau sie dir an, wiederholte er, sie sehen aus, als wären sie schon tot; schau dir den an, sagte er, und den da, es ist, als sähe man ihr Foto in der Zeitung. Marco wiederholte immer wieder, er solle sich entspannen, doch die Angst des Unaussprechlichen wurde nicht geringer.
Plötzlich, während die Leute weiter einstiegen, stand er auf und fing an zu schreien, fragte, ob eine berühmte Person an Bord sei, ein Fußballer, ein Schauspieler, ein VIP — jemand, dem das Leben zugelächelt hat. Die Passagiere, die sich mühsam einen Weg durch den Gang zu ihren Plätzen bahnten, sahen ihn verblüfft an, einer fragte ihn, auf wen er denn wütend sei. Auf euch, erwiderte Duccio Chilleri, weil ihr schon tot seid und auch mich töten wollt. Marco Carrera packte ihn an den Schultern, drückte ihn auf seinen Sitz zurück, bemühte sich sanft, ihn zu beruhigen, umarmte ihn, wobei er gegen den Trattoriamief ankämpfen musste, der in seiner Jacke hing, und versuchte auch die anderen zu beruhigen, die um sie herum allmählich nervös wurden. Nein, es ist nichts, sagte er immer wieder, und Duccio kommentierte, klar, wir sterben hier alle, und es ist nichts. Knurrend, das Gesicht zwischen den Händen, den Tränen nahe, im Zaum gehalten von seinem Freund, hörte er auf, die anderen zu belästigen, und schien sich in sein Schicksal zu fügen. Als jedoch eine Gruppe von Pfadfindern das Flugzeug bestieg, überschlugen sich plötzlich die Ereignisse. Empört rief Duccio Chilleri: Nein! Keine Pfadfinder! Dem ersten in der Reihe stellte er sich in den Weg, einem struppigen, massigen Burschen, der besonders lächerlich wirkte in seiner Gruppenführeruniform: Wohin wollt ihr? Der Bursche war sprachlos, vielleicht verwechselte er ihn mit einem Steward, denn er zeigte ihm seine Bordkarte. Verpisst euch! Los, raus hier! Marco sprang erneut auf, um ihn zu beruhigen, aber diesmal verlor Duccio Chilleri die Kontrolle: Er packte den Kopf des verängstigten Pfadfinders und schüttelte ihn — Mörder, schrie er, verschwindet! —, und als einige sich zu wehren begannen, schubsten und Beleidigungen riefen, begriff Marco Carrera, dass das Wochenende in Ljubljana ins Wasser fallen würde. Er gab sich als Arzt aus — er war erst im zweiten Jahr seines Medizinstudiums und noch meilenweit davon entfernt —, diagnostizierte bei seinem Freund einen Epilepsieanfall des Typs B (frei erfunden) und verlangte, dass die Flugzeugtür wieder geöffnet werde, um ihn hinauszuschaffen. Das Bordpersonal konnte es nicht fassen, dass es diesen Besessenen wieder loswurde, und so kehrten die beiden jungen Männer, nachdem sie das Gepäck direkt auf der Piste aus dem Laderaum geholt hatten (auf dem Flughafen von Pisa ging es damals recht zwanglos zu), in den Terminal zurück, während das Flugzeug über die Piste zu rollen begann. Kaum hatte er wieder den Boden betreten, hatte Duccio Chilleri sich übrigens schlagartig beruhigt — ja, er zeigte sogar eine absurde Euphorie, wie jemand, der buchstäblich aus der Hölle in die Welt zurückkehrt. Marco Carrera hingegen war wütend, aber um zu vermeiden, sich erneut auf groteske Weise bis auf die Knochen vor allen zu blamieren, hatte er sich gezwungen, seine Wut zu bezähmen, indem er sich in Schweigen hüllte. Ein tiefes, aber zunehmend auch finsteres Schweigen, denn während er am Steuer saß, um nach Florenz zurückzukehren und sich so schnell wie möglich von Duccio zu trennen, zeigten sich ihm hinter der Wut, die in seinem Inneren grollte, und hinter der Scham, die ihn veranlasst hatte, sich wie ein Dieb davonzustehlen, aus Furcht, dass sich die Nachricht von der Szene, die sie gemacht hatten, auch außerhalb des Flugzeugs verbreiten würde, zeigten sich ihm also, während er über die Autobahn fuhr, zum ersten Mal die Umrisse dessen, was geschehen war, so, wie sie jedem anderen erschienen wären. Was war in jenem Flugzeug geschehen? Sein Freund Duccio Chilleri hatte durch eine Panikattacke ein sorgfältig geplantes Wochenende vermasselt. Das war für Marco geschehen — nur das; aber was war in den Augen irgendeines anderen geschehen, der Duccio Chilleri kannte? Was für eine ungeheuerliche, fürchterliche Sache hatte der Unaussprechliche in jenem Flugzeug angestellt?
Marco brauchte sich nur in irgendeinen seiner anderen Freunde hineinzuversetzen, um Magenschmerzen zu bekommen, die er seitdem nicht mehr losgeworden war. Und auch in der Nacht, nachdem er seinen Freund vor seiner Wohnung abgesetzt hatte, ohne sich von ihm zu verabschieden, und seinen Eltern irgendein Märchen über die Programmänderung für das Wochenende aufgetischt hatte, wälzte er sich im Bett hin und her und vergegenwärtigte sich die anonymen Gesichter der Mitreisenden, die er ihrem Schicksal in dem Flugzeug überlassen hatte, dachte an die armen, ahnungslosen Pfadfinder, die weiß der Teufel wohin wollten, an die stark geschminkten slawischen Stewardessen, die richtig erleichtert gewesen waren, als er und der Unaussprechliche das Flugzeug verließen nach der orakelhaften Szene — obwohl sie, wegen der Theorie vom Auge des Zyklons, eine Menschenkette hätten bilden müssen, um das Aussteigen zu verhindern …
Während Marco Carrera sich schwitzend zwischen den Laken herumwälzte, unfähig einzuschlafen, und den Duft des Jasmins genoss, der durch das halb geschlossene Fenster hereindrang, war vor der Nordküste von Zypern die Tragödie schon geschehen, aber noch wusste er es nicht: Die DC-9-30 der Koper Aviopromet, die vergeblich auf der Landepiste des Flughafens von Larnaca erwartet wurde, war schon vom Kilikischen Meer verschluckt worden; die Menschen, an die Marco mit dieser Mischung aus Mitleid und Sorge dachte, waren bereits alle tot; die Erinnerung an die Fatwa, die der Unaussprechliche über sie verhängt hatte, war für immer durch ihre Konsequenzen ausgelöscht, und er der Einzige auf Erden, der davon Kenntnis hatte.
Da er von diesen Dingen noch nichts wusste, schlief Marco Carrera schließlich ein — spät, besorgt, aber er schlief ein —, und in einem Leben reich an zahlreichen anderen letzten Nächten war diese für ihn die letzte Nacht der Unschuld.