An: Giacomo — jackcarr62@yahoo.com
Gesendet — Gmail — 17. Oktober 2008 23:39
Betreff: Urania-Romane
Von: Marco Carrera
Lieber Giacomo,
heute möchte ich mit Dir über Papas (fast) vollständige Sammlung von Urania-Romanen sprechen. Auch diese Sammlung hat, so unvollständig sie auch ist, einen Handelswert aufgrund der Sorgfalt, mit der Papa diese Bücher aufbewahrt hat, der Schutzumschläge aus Seidenpapier, mit denen er jedes einzelne geschützt hat, und des daraus resultierenden erstaunlich guten Zustands, in dem sie sich nach fünfzig oder sechzig Jahren befinden; aber nicht darüber will ich mit Dir sprechen. So wie ich die Dinge sehe, sollen diese Hefte Dir gehören, aus Gründen, die ich Dir gleich sagen werde, und da sie nicht viel Platz beanspruchen, werde ich sie aufheben, wenn Du sie nicht willst, aber es würde mir nicht im Entferntesten in den Sinn kommen, sie zu verkaufen.
Also. Die Sammlung. Sie geht von Nummer 1 bis Nummer 899, das heißt von 1952 bis 1981; es fehlen nur sechs Ausgaben. Hier die Liste und die Gründe:
Nr. 20, Pària dei cieli, von Isaac Asimov, vom 20. Juli 1953.
Seltsam — findest Du nicht —, dass nach neunzehn Nummern, die Papa mit 27 kurz nach dem Hochschulabschluss regelmäßig gekauft hat, gerade dieses fehlt, wie es scheint, eines der schönsten Bücher, die sein Lieblingsautor geschrieben hat. Tatsächlich hatte er es gekauft, denn im Regal in seinem Arbeitszimmer, in dem seine Urania-Sammlung immer gestanden hat (in dem Inventar, das Brachi im letzten Monat erstellt hat und das ich Dir geschickt habe, ist es als Bücherregal Sergesto aufgeführt, und Du wirst Dich zwangsläufig daran erinnern, weil Du das gleiche in Deinem Zimmer hattest, das auch immer noch da ist mit den Tex-Heften und den anderen Comics, die Du gelesen hast), in dem Regal, sagte ich, steckt zwischen dem Heft davor, der Nr. 19, Preludio allo spazio von Arthur C . Clarke, und dem danach, der Nr. 21, Terrore sul mondo, von Jimmy Guieu, ein Kärtchen, auf dem steht: »A. geliehen«, mit dem Datum »19. April 1970«. A. ist, da wirst Du mit mir übereinstimmen, mit Sicherheit sein Freund Aldo Mansutti, »Aldino«, wie er ihn nannte, der bei dem absurden Motorradunfall ums Leben kam, von dem zu Hause so viel gesprochen wurde und wegen dem unsere Eltern sich so gesträubt hatten, das Moped zu kaufen. Ich erinnere mich sehr gut, wie wir alle auf die Beerdigung dieses Aldino gingen, ich war damals mit Sicherheit in der Mittelschule, vermutlich in der ersten Klasse, oder am Anfang der zweiten — deswegen muss es 1970 gewesen sein. Es muss also so gewesen sein: Papa hatte das Buch Aldino geliehen, und er hat das Kärtchen an seine Stelle im Regal gesteckt, um sich daran zu erinnern, denn seine Sammlung lag ihm am Herzen, aber kurz darauf ist Aldino gestorben, und er hat offensichtlich nie daran gedacht, es von seiner Frau zurückzuverlangen — Titti, Du erinnerst Dich sicher, Titti Mansutti, die ich vor ein paar Tagen wiedergesehen habe, uralt, wegen einer anderen Sache, von der ich Dir erzählen werde. Umso mehr, als damals, 1970, die Sammlung schon nicht mehr vollständig war, da auch fünf andere Nummern fehlten, nämlich die 203, die 204, die 449, die 450 und die 451. Folge mir, Giacomo, hör nicht auf zu lesen. Versuchen wir zu verstehen, warum diese fünf Hefte fehlen.
Nr. 203, Il vampiro del mare, von Charles Eric Maine, vom 10. Mai 1959, und Nr. 204, La razza senza fine, von Gordon R. Dickson, vom 24. Mai 1959.
An der Stelle dieser Nummern steckt kein Kärtchen im Regal, ein Zeichen, dass er sie nicht verliehen, sondern diesmal einfach nicht gekauft hatte. Und wenn ich mir die Daten ansehe, dann verstehe ich den Grund: der berühmte Sturz Irenes vom Kinderhochstuhl. Erinnerst Du Dich? Sie haben es uns bestimmt hundertmal erzählt: Irene, die vom Kinderhochstuhl in der Küche im Haus an der Piazza Dalmazia fällt und mit dem Kopf aufschlägt und zwei Tage in der Meyer-Klinik im Koma liegt, und Mama, die schwört, mit dem Rauchen aufzuhören, wenn sie aufwacht, Irene, die aufwacht, die Mama, die nicht zu rauchen aufhört, Irene, die wieder ganz gesund wird und trotzdem später in diesem Sturz die Ursache all ihrer darauf folgenden Störungen sieht … Tja, wir waren damals noch nicht geboren, aber wir müssen zugeben, dass das Dramatischste, was in unserer Familie geschehen ist, zumindest bis zu ihrem Tod, dieser Sturz Irenes vom Kinderhochstuhl gewesen ist. So dramatisch — und das ist der Grund —, dass er Papa zweimal, das heißt 28 Tage lang, daran gehindert hat, seinen Urania-Roman zu kaufen. Jetzt gibt es niemanden mehr, der uns sagen kann, zu welchem Zeitpunkt des Jahres das war, aber was, falls Du dich erinnerst, diese Geschichte noch dramatischer machte, war die Tatsache, dass Mama mit mir schwanger war. (Dramatisch war, wenn man so will, auch die Tatsache, dass Mama es nicht geschafft hat, mit dem Rauchen aufzuhören, nicht einmal während der Schwangerschaft.)
Ich habe sie mir in meinem Kopf immer mit dickem Bauch vorgestellt, in Sorge um dieses Mädchen, das stürzt und bewusstlos wird, und dann mit ihr im Krankenwagen, und dann an ihrem Krankenbett in der Meyer, aber in Wirklichkeit muss man bloß annehmen, dass sie erst im zweiten Monat war, und das ändert alles. Ich wurde am 2. Dezember geboren, richtig? Was bedeutet, dass ich Anfang März gezeugt worden bin. Die beiden fehlenden Nummern sind im Mai erschienen, also um den zweiten, dritten Monat herum. Daher kein dicker Bauch damals, aber das erklärt, warum Papa diese beiden Ausgaben versäumt hat: Irene auf der Intensivstation, Irene zur Beobachtung auf Station, Irene gerade aus dem Krankenhaus nach Hause zurückgekehrt. Und als dann nach etwa einem Monat die Gefahr gebannt war, hat er wieder angefangen, regelmäßig die Romane zu kaufen (Nr. 205, La grande luce, von Robert Randall, 7. Juni 1959), und das mehr als sieben Jahre lang, ohne auch nur eine Ausgabe zu versäumen, bis es wieder drei fehlende Nummern gibt, nämlich:
Nr. 449, Gomorra e dintorni, von Thomas M. Disch, vom 20. November 1966, Nr. 450, C’e sempre una guerra, Verschiedene Autoren (Walter F. Moudy, Poul Anderson, Robert E. Margroff, Piers Anthony, Andrew J. Offutt), vom 4. Dezember 1966, und Nr. 451, Ed egli maledisse lo scandolo, von Mack Reynolds, vom 18. Dezember 1966.
Hier ist der Grund offensichtlich: die Überschwemmung und Papa, der in den Schlauchbooten der Gemeinde Tiere aus der überfluteten Ebene rettet und dann in der Biblioteca Nazionale Bücher zusammen mit den Schutzleuten aus dem Schlamm. Du wirst Dich fragen: Wie kann es sein, dass er, wenn er diese drei Nummern nicht kaufen konnte, die Nr. 448, I trasfigurati von John Wyndham, vom 6. November 1966, gekauft hat, als die Überschwemmung noch andauerte und Florenz buchstäblich unter Wasser war? Und hier, lieber Giacomo, müssen wir, um das zu erklären, zu dem Grund kommen, aus dem Du meiner Meinung nach diese Sammlung nehmen solltest. Es handelt sich um etwas, das ich durch reinen Zufall entdeckt habe, und gerade deswegen scheint es mir bemerkenswert zu sein. Also, die Sache war so. Als ich die Titel der Sammlung überflog, die wohlgeordnet im Regal Sergesto standen, stieß ich auf einen Titel und einen Autor, den ich kannte: Fanteria dello spazio von Robert Anson Heinlein. Heinlein ist einer der ganz wenigen Science-Fiction-Autoren, die ich gelesen habe, und dieser Titel klang vertraut für mich wegen eines Films, den ich gesehen hatte. Daher habe ich das Heft herausgenommen und aufgeschlagen, um mich zu vergewissern, und tatsächlich, der Originaltitel lautete Starship Troopers, woraus Ende der Neunziger ein schlechter Film gemacht worden war, der in der italienischen Version Starship Troopers — Fanteria dello spazio geheißen hatte. Aber, und das ist der Punkt, nachdem ich das gesehen hatte, habe ich auf der Seite davor, auf der der Autor, der Titel und der Verlag wiederholt werden, wie heißt sie noch? Wo die Schriftsteller immer signieren, wie heißt sie gleich? Titelblatt? Lass mich nachsehen. Also, das hätten wir, sie heißt tatsächlich Titelblatt. »Die erste Seite eines Buchs«, heißt es auf Wikipedia, »oder diejenige, die der Leser als erste sieht, nachdem er das Buch geöffnet hat.« Sie ist es. Ich sagte, ich habe gesehen, dass auf das Titelblatt etwas mit Bleistift geschrieben worden war in Papas Handschrift. Wenige Zeilen nur, die ich Dir vollständig zitiere: »Guten Tag, meine Damen und Herren, ich stelle Ihnen meinen neuen Freund vor … oder nein, Freundin … das Fräulein Giovanna … oder vielleicht nein, den Herrn Giacomo … wer weiß … Und jetzt Achtung … da kommt die Krankenschwester … man sieht es noch nicht genau … jetzt bückt sie sich … Meine Damen und Herren, das ist Giacomo!«
Ist das nicht phantastisch? Die Mama hatte Dich gerade zur Welt gebracht, und er war da, jung, aufgeregt, ausgeschlossen, ohne zu wissen, ob Du ein Junge oder ein Mädchen bist, auf einem Krankenhausflur, Muratti rauchend und auf das Titelblatt eines Urania-Romans kritzelnd. Anders als wir, die wir bei der Geburt unserer Kinder dabei waren, gehüllt in den grünen Kittel, und das Geschlecht schon Monate im Voraus wussten und die Schultern unserer Frau festhielten …
Ebendeswegen solltest Du meiner Meinung nach diese Sammlung in Deinem Haus in Chapel Hill aufbewahren, das ich nur von oben auf Google Earth gesehen habe.
Und jetzt kommen wir auch zu der Erklärung für das Heft vom 6. November 1966. Nachdem ich Papas Schrift auf dem Titelblatt entziffert hatte, schloss ich das Buch und wiegte mich gerührt eine Weile in den Hüften; dann fasste ich mich wieder, und als ich das Heft zurückstellen wollte, fiel mein Blick auf das kleine rote Quadrat links unten auf dem Umschlag, auf dem der Preis (150 Lire), die Heftnummer (276) und das Datum, 25. Februar 1962, standen. Nun ist es aber so, dass Du am 12. Februar geboren wurdest; wie erklärt es sich also, dass Papa ein Buch dabeihatte, das dreizehn Tage zuvor erschienen war? Nach einem Augenblick der Verwirrtheit hatte ich eine Eingebung. Ich erinnerte mich, dass ich, als ich Tennis spielte, Match Ball abonniert hatte, eine Zeitschrift, die alle zwei Wochen erschien, und sie traf immer etliche Tage vor dem auf dem Umschlag angezeigten Datum zu Hause ein, was ich eine ganze Weile für ein Privileg gehalten hatte, weil ich Abonnent war, eine Art Vorpremiere, bis ich eines Tages ziemlich brutal entdeckte, dass die Hefte von Match Ball auch in den Kiosken viele Tage vor dem auf dem Umschlag angegebenen Datum verkauft wurden. Das ließ mir keine Ruhe, und ich stellte fest, dass es bei vielen Wochenzeitschriften, die zu Hause herumlagen, ebenso war, Panorama, L’Espresso, sogar La Settimana Enigmistica. Es musste sich um einen psychologischen Kniff handeln, um einen Eindruck von Aktualität zu vermitteln und zu vermeiden, dass der Leser, der eine Zeitung in der Hand hält, dessen Erscheinungsdatum vier, fünf, sechs Tage zurückliegt, denkt, er hätte es mit Inhalten zu tun, die bereits überholt sind. Auch wenn es wenig Sinn hatte, hatte Mondadori aus irgendeinem Grund diesen Kniff wohl für die Urania-Romane übernommen, und daher ist es mehr als wahrscheinlich, dass das Datum auf dem Umschlag dem letzten der vierzehn Tage entsprach, die das Heft in den Kiosken lag, was bedeutet, dass der Roman, den Papa am 12. Februar 1962 dabeigehabt hat, als er Mama mit Wehen ins Krankenhaus gebracht hat (ich habe es im Computer nachgeprüft, es war ein Montag), gerade erschienen war, noch druckfrisch, mit dem Erscheinungsdatum dreizehn Tage später; oder dass er es sich geradewegs am Kiosk des Krankenhauses gekauft hat, nachdem Mama auf der Station war.
Das ist also der Grund, warum Papa das Heft besitzt, welches das Datum 6. Februar 1966 trägt, obwohl er sich an dem Tag schon seit 48 Stunden in dem Schlauchboot der Feuerwehr befindet und Vieh rettet, das auf Flößen aus Heu abdriftet: weil es 13 Tage zuvor erschienen war.
Nach den drei fehlenden Nummern von 1966 hat Papa beeindruckende 15 Jahre lang keine Nummer mehr verpasst, denn von Nr. 452 (Il libro del Servizio Segreto, eine Sammlung von Erzählungen von Asimov, Tucker, Van Vogt, Martino und Philip K. Dick) an ist seine Sammlung vollständig bis Nr. 899, Le comuni del 2000 von Mack Reynolds. 447 Hefte am Stück, die er gekauft und in Seidenpapier eingeschlagen und gelesen und dann an ihren Platz im Bücherregal gestellt hat, während der Preis der Bücher von 200 auf 1500 Lire stieg und in der Welt, in Italien, in Florenz und in unserer Familie einiges geschah.
Das letzte Heft seiner Sammlung habe ich bis zum Schluss aufgehoben, denn es ist geradezu das Symbol der Endgültigkeit. Es liegt in diesem Augenblick vor mir: der weiße Umschlag mit der roten Grafik, die kreisförmige Illustration (ein Junge und ein Mädchen, die in einem Park stehen und mit einem Älteren reden, der auf einer Bank sitzt, alle drei nackt, und weitere Nackte zwischen den Bäumen in der Ferne), der Titel Le comuni del 2000, der Autor Mack Reynolds und schließlich das Datum: 23. August 1981.
Aber der 23. August ist der Tag des Weltuntergangs. Das Heft war jedoch, wie wir gesehen haben, in Wirklichkeit dreizehn Tage früher erschienen, das heißt am 10., als der Weltuntergang noch undenkbar war, und Papa hat es sicher vor Ferragosto am Kiosk in Castagneto gekauft, wo er die Zeitungen kaufte, und sicher auch innerhalb weniger Tage gelesen, wie er es immer tat, teilweise am Strand, teilweise im Bett, auf der rechten Seite, dem Nachttisch zugewandt, mit dem Rücken zu Mama, weil sie in Bolgheri im August, wenn wir alle da waren, wegen Platzmangels nicht getrennt schlafen konnten. Von Montag, dem 24. August, an wäre am Kiosk die nächste Nummer erhältlich gewesen (in Castagneto vielleicht nicht, in Castagneto wäre sie vielleicht Dienstag oder Mittwoch eingetroffen), aber das war wie alles andere für ihn plötzlich bedeutungslos geworden. Und diesmal für immer. Sodass die Nummer 899, Le comuni del 2000 von Mack Reynolds, das letzte Urania-Buch ist, das Papa gekauft und gelesen hat — das letzte seiner (fast) vollständigen Sammlung, von Nummer 1 bis 899. Das letzte seines Lebens.
Okay, Giacomo, ich habe Dich beschuldigt, und es war schrecklich, Dich zu beschuldigen. Aber verdammt, das ist dreißig Jahre her. Ich bitte Dich um Entschuldigung, dass ich Dich beschuldigt habe, ich bitte Dich um Entschuldigung, dass ich dazu beigetragen habe, das Leben in unserer Familie über einen Zeitraum von vielen Tagen unerträglich zu machen, die, obwohl sie sich immer weiter anhäuften, alle immer noch viel zu nah an jenem verfluchten Tag waren. Aber das ist dreißig Jahre her. Wir waren Jungs, jetzt sind wir Männer. Wir können doch nicht, selbst wenn wir wollten, Fremde werden. Gewöhnlich streiten Geschwister sich um das Erbe, wenn die Eltern sterben; es wäre doch schön, wenn wir uns stattdessen wegen des Erbes versöhnen würden. Mehr als alles andere wäre es typisch für unsere Familie, andersherum zu funktionieren.
Antworte mir.
Marco