An: Giacomo — jackcarr62@yahoo.com
Gesendet — Gmail — 12. Dezember 2008 23:31
Betreff: Wertvoll
Von: Marco Carrera
Ich schicke Dir heute diese Mail, lieber Giacomo, um Dir zu erzählen, wie ich Papas drei Modelleisenbahnanlagen untergebracht habe. Es war nicht leicht, aber vielleicht ist es am Ende mein Meisterstück geworden. Einfach war es, die Architekturmodelle wegzugeben. Das des Ponte all’Indiano, das die Konstrukteure ihm geschenkt hatten, nachdem er den Wettbewerb gewonnen hatte, habe ich der Ingenieurfakultät gegeben, und es ist sofort im Auditorium Maximum aufgestellt worden. Das der Villa von Mansutti in Punta Ala habe ich Titti gebracht, die immer noch lebt und klar im Kopf ist. Ich hatte sie seit, ich weiß nicht, dreißig, vierzig Jahren nicht mehr gesehen, und obwohl die Villa schon lange verkauft ist, hat sie das Modell angenommen und war ganz gerührt. Das Modell der Cupola del Brunelleschi, das große, nicht das kleine, das Papa schon ich weiß nicht wem geschenkt hatte, das große, sagte ich, an das Du Dich sicher erinnerst, da Du Dir einmal Ärger eingehandelt hast, weil Du Soldat gespielt hast, habe ich zum Sitz des Ordine degli Ingegneri di Firenze gebracht und ihnen zur Verblüffung aller geschenkt. Im Gegenzug habe ich sie gebeten, nicht mehr den Zahlschein und die Mahnung für Papas Jahresbeitrag zu schicken. Das Modell des berühmten ungenehmigten Anbaus in Bolgheri habe ich behalten, obwohl es das hässlichste ist. Und dann, na ja, ist da noch das Puppenhaus auf dem Wasserfall, das er für Irene als perfekte Kopie desjenigen von Wright gemacht hat und das ich nicht angerührt habe; ich habe es in Irenes Zimmer gelassen, und wenn wir verkaufen, werden wir weitersehen. Kurz und gut, mit ihnen ist es einfach gewesen.
Das Problem waren die drei Modelleisenbahnanlagen. Eine kennst Du nicht, da Papa sie gemacht hast, als Du schon gegangen warst; minimalistisch, äußerst ausgeklügelt, dreieinhalb Meter lang und nur sechzig Zentimeter breit, ermöglicht sie, dass bis zu elf Züge gleichzeitig fahren, auf eine Weise, die an ein Wunder grenzt. Dabei ist das Geheimnis im Grunde ganz banal: Sie ist auf zwei Ebenen konstruiert, eine sichtbar, die andere, darunter, unsichtbar, verborgen im Hohlraum des Fundaments, durch den die Züge, wenn sie das Ende der Anlage erreicht haben, in einen Tunnel einfahren und die Fahrtrichtung ändern, und eine Weiche bringt sie nach unten, wo sie zurückfahren, ohne dass man sie sieht, und dann auf der anderen Seite wieder nach oben kommen, immer noch in einem Tunnel, erneut die Fahrtrichtung wechseln und wieder auftauchen, wie Laurel in dem Stummfilmsketch, in dem er mit einer Sprossenleiter auf der Schulter auftaucht, und dann sieht man die Leiter, die vorbeizieht, lang, immer länger, und am Ende Laurel, der sie auch am anderen Ende auf der Schulter trägt. Kurz, ein Juwel, das nicht weggeworfen werden durfte. Aber auch die beiden anderen, an die Du Dich erinnern müsstest, die riesige aus den sechziger Jahren und diejenige, die bergauf führt und die Haarnadelkurve der Porrettana bei Piteccio nachbaut, waren zu schön, um zerstört zu werden. Allerdings kann das Haus nicht verkauft werden mit diesen beiden Katafalken, die ein ganzes Zimmer beanspruchen. Also habe ich nach einem Weg gesucht, sie jemandem zu geben, der sie zu schätzen weiß. Ich habe mich erinnert, dass Papa in der letzten Zeit, bevor seine Krankheit sich verschlimmerte, von einer erstklassigen Modelleisenbahnanlage erzählt hatte, die im Keller des Dopolavoro Ferrovario aufgebaut ist, weißt Du, dort, wo auch der Tennisclub war, in der Nähe des Parco delle Cascine. Ebendort. Also bin ich hingegangen, und ich spreche hier von mehr als vierzig Jahren, Giacomo, seit ich das letzte Mal dort gewesen bin. Es hat sich natürlich sehr verändert, und es hat mich eine Menge Zeit gekostet, um auch nur einen zu finden, der wusste, wovon ich spreche. Tatsache ist, dass die Modellbauer, die sich in diesem Keller treffen, schwer fassbar sind, das heißt keine festen Tage und präzisen Zeiten haben; wenn sie nicht in dem Keller sind, ist er verschlossen, und keiner der anderen Clubmitglieder weiß etwas. Ich musste ihnen einen Monat lang auflauern, aber am Ende ist es mir gelungen, an einem Samstagvormittag den Präsidenten des Vereins der Modellbauer anzutreffen, einen gewissen Beppe, der mit den anderen Mitgliedern Rommé spielte. Als ich Papa erwähnte, ließ er sofort Spiel Spiel sein und ging mit mir in den Keller, obwohl er geschlossen war, und ich muss sagen, dass Papa recht hatte, die Modelleisenbahnanlage, die sie dort in dem Raum aufgebaut haben, ist wirklich unglaublich. Beppe hat sie extra für mich in Betrieb gesetzt, und ich versichere Dir, es ist wirklich verrückt, ein Stück Stadteisenbahn so groß wie der ganze Raum, mit maßstabgetreuen Häusern, Straßen, Autos, Menschen, alles. Kurz und gut, ich habe ihm die Sache erklärt, und auch er war meiner Meinung, dass die Modelleisenbahnanlagen nicht zerstört werden dürfen — einfach so, aus Prinzip, denn er hatte sie ja nie gesehen. Er sprach mit größter Hochachtung von Papa, das muss gesagt werden, obwohl Papa natürlich auch die Beziehung zu ihm auf seine Weise gepflegt hatte, das heißt mit extremer Zurückhaltung, kaum ein Wort über seine Werke, nur über technische Fragen mit ihm sprechend, weswegen dieser Beppe keine Ahnung hatte, worüber wir sprachen. Wir verabredeten, dass er sie so bald wie möglich anschauen solle — einen Monat später, frag mich nicht, warum. Als er kam, war er mehr als beeindruckt, vor allem von der Porrettana, aber auch von den beiden anderen, und sagte, dass sie alle drei nehmen würden. Mit »sie« meinte er den Verein der Modellbauer, deren Präsident er ist. Einer, den Du nicht kennengelernt hast, meinte, das sei perfekt für die Schule, denn sie haben tatsächlich eine Schule, in der sie jungen Leuten beibringen, Modelleisenbahnanlagen zu bauen, stell Dir nur vor. Und dieser Beppe war begeistert, es musste nur ein Transporter gefunden werden, der groß genug war, sie wegzubringen; er notierte meine Nummer, gab mir seine, und verschwand buchstäblich für weitere zwei Monate in der Versenkung. Ich versuchte ein paar Mal, ihn anzurufen, aber der Anschluss war tot. Ich bin sogar zum Club gegangen, um mich nach ihm zu erkundigen, aber niemand konnte mir Auskunft geben. Bis er mich vor zwei Monaten anrief und mir sagte, er habe endlich einen Transporter gefunden. Wir machten einen Termin aus, und letzte Woche kam er zusammen mit zwei »Jungs«, wie er sie nennt (alle weit über fünfzig), um die Modelleisenbahnanlagen abzuholen. Tja, Giacomo, Du kannst Dir nicht vorstellen, mit welchem Respekt diese »Jungs« von Papa sprachen; sie waren zu sechst, einschließlich Beppe, alle mit dem Hut in der Hand (sie tragen alle Hüte, Typ Borsalino, die einst Mode waren, frag mich nicht, warum), entzückt, mit glänzenden Augen angesichts seiner fünfzigjährigen Arbeit. Einer stammelte, es sei eine große Ehre für ihn, hier zu sein und die Werke des Ingenieurs, wie sie ihn alle nannten, als Erbe entgegenzunehmen; er war der ehemalige Besitzer, jetzt im Ruhestand, des Geschäfts, in dem Papa die Züge gekauft und über technische Dinge diskutiert hatte, und er gestand mir, es sei immer sein größter Wunsch gewesen, Papas Modelleisenbahnanlagen zu sehen, aber er habe eine solche Befangenheit Papa gegenüber empfunden, dass er ihn nie gefragt habe. Erneut stellte ich fest, dass Papa nie jemandem sein Vertrauen geschenkt hatte und dass nie jemand versucht hatte, es zu gewinnen, so dass sie, obwohl sie von der gleichen Leidenschaft verzehrt wurden und trotz der großen Achtung, die sie voreinander hatten, jahrzehntelang in parallelen Welten gelebt hatten und sich nur sehr selten über den Weg liefen. In Florenz, verstehst Du, nicht in Tokio. Nachdem die Förmlichkeiten beendet waren, machten sie sich an die Arbeit. Sie befestigten geeignete, ich weiß nicht, wie ich sie nennen soll, Aufsätze mit Klemmen an jeder Modelleisenbahnanlage, um sie zu schützen (wie diese regulierbaren Bügel, die die Konditoren an den Tabletts mit Kuchen befestigen, damit er nicht zerdrückt wird), wickelten sie in Luftpolsterfolie und luden sie sich auf die Schultern. Eine, die große, ging nicht durch die Tür, und sie mussten sie durch das große Fenster abseilen. Anderthalb Stunden brauchten sie dafür. Am Ende dankten sie mir, alle ganz bewegt, und fuhren weg mit ihrem Transporter, Beppe am Steuer, zwei neben ihm, und die drei anderen auf der Ladepritsche, um die große Modelleisenbahnanlage festzuhalten, die einen Meter überragte und sonst heruntergefallen wäre. Wegen der Zurückhaltung, mit der Papa sie stets behandelt hat, bin ich mir sicher, dass ich sie nie mehr wiedersehen werde. Aber, um Dir zu sagen, wie sehr sie wirklich eine Art Geheimbund sind, gestern, es war ein Sonntag, bin ich in meine Stammrotisserie gegangen, um das übliche Grillhähnchen zu essen, und einer der Hähnchenbrater, der ältere, ein ganz Dürrer, mit einem Gesicht wie aus Gummi und faulen Zähnen, den ich seit Jahren kenne, kam zu mir und flüsterte mir ins Ohr: »Ich hab erfahren, dass die Jungs bei Dir gewesen sind.« Ich verstand nicht, was er damit sagen wollte, und daraufhin zwinkerte er mir zu und flüsterte noch leiser, als handelte es sich um ein Geheimnis, das die anderen Gäste nicht hören durften, auch nicht aus Versehen, »die Modelleisenbahnanlagen deines Vaters: Sie sagen, dass sie sehr wertvoll sind.« Genau das hat er gesagt, »wertvoll«.
Verstanden, wie das hier läuft?
Nein, vielleicht hast Du nicht verstanden. Meine Schuld, dass es mir nicht gelingt, es zu erklären. Meine Schuld.
Frohe Weihnachten.
Marco