Eines Abends hörten Marco, Irene und Giacomo Carrera in dem Haus an der Piazza Savonarola ihre Eltern streiten. Es kam nie vor, dass sie offen stritten; gewöhnlich taten sie es heimlich, flüsternd, damit die Kinder sie nicht hörten, mit dem Ergebnis, dass nur Irene sie hörte, weil Irene spionierte. Für Marco und Giacomo war es das erste Mal. Gegenstand des Streits war Marco, aber das merkten er und sein Bruder nicht; nur Irene wusste es, weil sie den Streit von Anfang an verfolgt hatte, während sie sich erst dann zu ihr hinter der Schlafzimmertür der Mama gesellt hatten, als die Eltern zu schreien begonnen hatten. Tatsache ist, dass Marco nicht ordnungsgemäß gewachsen war; ab dem ersten Jahr seiner körperlichen Entwicklung war er stets unter den niedrigsten Perzentilen geblieben, und seit er drei war, wurde er von den Diagrammen gar nicht mehr erfasst. Dabei war er immer sehr schön und wohlproportioniert gewesen, was laut Letizia eine präzise Absicht der Natur ihn betreffend signalisierte — ihn aus der Menge herauszuheben und zu unterscheiden, um deutlich zu machen, dass sie ihn mit sehr seltenen Gaben ausgestattet habe. Die Harmonie, die dieser Junge laut ihr stets verkörpert habe — winzig, okay, aber immer hell im Kopf, graziös und auch, so übertrieben das in Hinblick auf einen kleinen Jungen auch klingen mag, viril —, war offensichtlich zusammen mit einem vollkommen anderen Wachstumsrhythmus angeboren, denn auch der Zahnwechsel setzte erst sehr spät bei ihm ein. Es bestand kein Grund zur Sorge. Im Übrigen hatte sie, sobald dieses Defizit offenbar geworden war, für ihren Jungen den beruhigendsten aller Spitznamen geprägt, Kolibri, um zu betonen, dass Marco mit diesem anmutigen Vögelchen neben der Kleinheit eben auch die Schönheit und die Schnelligkeit gemeinsam hatte: die körperliche — in der Tat bemerkenswerte —, die ihm beim Sport zugutekam, und die — vor allem behauptete — geistige in der Schule und im gesellschaftlichen Leben. Daher war sie nicht müde geworden, das immer gleiche Mantra zu wiederholen, Jahr für Jahr: kein Grund zur Sorge, kein Grund zur Sorge, kein Grund zur Sorge.
Probo dagegen hatte sich sofort Sorgen gemacht. Solange Marco ein Kind gewesen war, hatte er sich allerdings gezwungen, den beruhigenden Worten seiner Frau zu glauben, doch als die Jugend sich ankündigte, ohne dass der Körper seines Sohnes die geringste Absicht erkennen ließ, sich normgerecht entwickeln zu wollen, hatte er sich schuldig gefühlt. Wie hatten sie beide nur der Natur freien Lauf lassen können? Das war eine Krankheit, von wegen Kolibri, wie konnten sie nur so verrückt sein, sich keine Sorgen zu machen? Was funktionierte da nicht in Marco? Er hatte angefangen, die Wissenschaft zu befragen, zuerst ganz allgemein, ohne den Jungen ins Spiel zu bringen — doch dann, als Marco 14 geworden war, wurde es für Probo wirklich unerträglich, ihn auf der Vespina wie einen Beduinen auf dem Kamel hocken zu sehen, und bezog ihn ein. Das Ergebnis war eine Reihe von Arztbesuchen, Untersuchungen und Diagnosen, an deren Ende festgestellt wurde, dass Marco an einer Form von Wachstumsstörung litt (vielen Dank, das war nicht zu übersehen), moderat und nicht schlimm (zum Glück, aber auch das war nicht zu übersehen), zurückzuführen auf eine ungenügende Produktion von Wachstumshormonen. Das Problem war, dass es damals noch keine Therapie gab; es gab Protokolle von Experimenten, aber die waren in der Regel begrenzt auf schwere Fälle von Wachstumsstörungen, das heißt Zwergwuchs. Nur einer der zahlreichen konsultierten Spezialisten, ein pädiatrischer Endokrinologe aus Mailand namens Vavassori, hatte erklärt, er könne ihm helfen, dank eines Programms, das er seit einigen Jahren mit, wie er versicherte, ermutigenden Ergebnissen vorantreibe. Daher der Streit. Probo teilte Letizia mit, dass er die Absicht habe, Marco an diesem Programm teilnehmen zu lassen, Letizia erwiderte, das sei Wahnsinn, Probo entgegnete, es sei Wahnsinn gewesen, dass sie den Dingen in all den Jahren einfach ihren Lauf gelassen hätten, Letizia kam ihm wieder mit der Harmonie-und-Kolibri-Geschichte — bis dahin hatten sie leise diskutiert, wie immer, und nur Irene hatte sie gehört. Der Streit trat in eine neue Phase, als Letizia, um ihre These über die Notwendigkeit, nicht in die Natur einzugreifen, zu untermauern, ein Buch erwähnte oder, besser, nicht ein Buch, sondern das Buch, den Fetisch ihrer Generation von Architekten oder zumindest derjenigen, mit denen sie sich zusammengetan hatte, das heißt den intelligentesten und internationalsten, da es auf Englisch gelesen wurde und nie ins Italienische übersetzt worden war: On Growth and Form von D’Arcy Wentworth Thompson. An dem Tag erschütterte ein markerschütternder Schrei das große Haus an der Piazza Savonarola, das in der Regel ruhig war, und drang laut und störend an die Ohren der beiden Brüder, die vor dem Fernseher saßen: »DU KANNST DIR DEINEN THOMPSON IN DEN ARSCH SCHIEBEN, HAST DU VERSTAAANDEN?!!?«
Von da an hatte sich der Streit wie eine akademische Kontroverse fortgesetzt, allerdings lauthals geschrien und strotzend vor Beleidigungen; die beiden Brüder verstanden nichts, Irene grinste und sagte nichts. Letizia nannte Probo einen Scheißkerl, Probo erwiderte, sie zitiere dieses Scheißbuch zwar, hätte es aber nicht mal gelesen, so wie es auch ihre Arschlöcher von Professoren nicht gelesen hätten, die es alle naselang erwähnten; daraufhin war Letizia gezwungen, in auch für einen Minderbemittelten verständlichen Worten die Bedeutung des ersten Kapitels mit der Überschrift Magnitude (Größe) zusammenzufassen, in dem eben mathematisch bewiesen würde, dass Gestalt und Entwicklung in der Natur durch ein intrinsisches und unauflösliches Harmoniegesetz miteinander verbunden seien, und Probo nannte sie eine Kanaille, weil sie immer dieses Kapitel zitiere, das erste, und das einzige, das sie gelesen habe; und so weiter und so fort. Der Streit dauerte an und entfernte sich immer weiter von dem Funken, der ihn ausgelöst hatte — geführt von ihr mit Begriffen, die ein gescheiterter Ingenieur im Leben nicht begreifen würde, wie das Jung’sche Mandala und die Steiner’sche Kunsttherapie, während er immer die gleiche Aufforderung wiederholte, nämlich sich Mandala und Kunsttherapie und Jung und Steiner in dieselbe Körperöffnung zu schieben wie kurz zuvor On Growth and Form. Und noch weiter: Letizia hatte es satt, bis obenhin satt und ertrug es nicht mehr. Und was, verdammte Scheiße, habe sie satt? Die Anstrengung, die es sie koste, ein Arschloch wie ihn zu ertragen. Und sie habe ja keine Ahnung, wie sehr ihr Scheiß ihm auf die Eier gegangen sei. Leck mich am Arsch. Leck du mich am Arsch. Die beiden Jungs fingen an, sich Sorgen zu machen: Es sah wirklich so aus, als würden ihre Eltern sich trennen. Doch Irene, anstatt Zeit damit zu verlieren, sich Sorgen zu machen, handelte: »Was zum Teufel ist los mit euch?«, schrie sie und hämmerte an ihre Tür. »Hört endlich auf damit!« Ihre Brüder rannten sofort ins Wohnzimmer, aber Irene blieb, wo sie war, und stellte sich ihnen entgegen. Sie war inzwischen volljährig; so wie sie die Dinge sah, durfte niemand das Haus verlassen, bevor sie es tun würde — folglich keine Trennung. Ihre Mutter kam an die Tür und entschuldigte sich, gefolgt von ihrem Vater, der sich seinerseits entschuldigte. Irene sah sie verächtlich an und sagte nur, dass Marco zum Glück nicht verstanden habe, worum es in dem Streit gegangen war, und das genügte (das kann man allerdings nur im Nachhinein sagen, aber man kann es sagen), um über die Zukunft von mindestens drei Mitgliedern der Familie zu entscheiden, wenn nicht von vier oder sogar allen fünf: dem ihrer Eltern und dem von Marco mit Sicherheit.
Denn es geschah, dass Probo und Letizia, erschüttert darüber, dass ihre Tochter sie dermaßen angeschrien hatte, sich so schuldig fühlten, so beschämt und egoistisch, dass sie unverzüglich den Riss flickten, den dieser Streit in dem Netz verursacht hatte, das sie in all den Jahren mit so viel Mühe und so viel Scheinheiligkeit um ihr Nest gesponnen hatten. Denn ihre Verbindung zeichnete sich durch eine gewisse Tapferkeit und Unveränderlichkeit aus, die sie nicht zu erklären vermochten; weder Letizia ihrer Analytikerin in den stürmischen Sitzungen, die sich seit Jahren auf ihre Unfähigkeit, sich von Probo zu trennen, konzentrierten, noch Probo sich selbst an den langen einsamen Abenden am Arbeitstisch, mit ruhiger Hand, scharfem Auge, die Pfeife an der Nase des Rauchers, während er seinen Geist in die Ferne schweifen und sein grenzenloses Unglück umarmen ließ. Warum blieben sie zusammen? Warum, wo sie doch beim Referendum ein paar Monate zuvor beide voller Überzeugung für die Scheidung gestimmt hatten? Warum? Angst, könnte man denken — aber Angst wovor? Angst spielte sicher mit, aber es war nicht die gleiche Angst — und daher trennte auch diese sie. Es war etwas anderes, etwas Unbekanntes und Unsagbares, das sie zusammenhielt — ein einziger geheimnisvoller Berührungspunkt, der das Versprechen am Leben hielt, das sie sich vor fast zwanzig Jahren gegeben hatten, als die Veilchen erblühten, wie es in einem Lied von Fabrizio De André hieß, das unlängst erschienen war — bezogen auf den Streit, nicht auf das Versprechen, das viel länger her war, auch wenn es genau das gleiche gewesen war: »Wir werden uns niemals, niemals, nie und nimmer verlassen.« Im Übrigen trennte sie auch dieses Lied, das von ihnen sprach, wie alles, und wie alles schien es, indem es sie beide trennte, die ganze Familie aufzulösen, da Letizia und Marco es hörten (aber getrennt, mit eigenen Platten und auf eigenen Plattenspielern, und ohne voneinander zu wissen), Giacomo und Irene nicht (der eine, weil er zu klein war, die andere, weil sie es kitschig fand), und Probo ignorierte schlicht seine Existenz. Aber nichts: Die beiden blieben zusammen, die Familie löste sich nicht auf, und der immer lockerere Knoten löste sich nicht. Das Lied hieß Lied der verlorenen Liebe, aber ihre Liebe verlor sich nie; es endete mit den Worten »für eine neue Liebe«, aber eine neue Liebe gab es nie für sie.
Jedenfalls schweißte Irenes Einschreiten ihre Eltern wieder zusammen. Jedenfalls entschied es, wie wir schon sagten, über ihre Zukunft und diejenige von Marco. Denn von nun an überwog endgültig die Besonnenheit, überwog das Mitleid, überwog das Bemühen, das sogenannte und mutmaßliche Wohl der Kinder über das eigene Wohl zu stellen. Nicht, dass es funktionieren könnte, Letizia und Probo waren intelligent genug, um es zu begreifen: Das Unglück bleibt das gleiche, auch wenn man sich dafür entscheidet, und wenn es von einem bestimmten Tag an das einzige wahre Produkt einer Ehe ist, dann überträgt es sich auf die Kinder. Aber gerade die Intelligenz würde sie vor der Illusion schützen, dass das Unglück ein Unfall ist, der ihnen unverhofft passiert, denn wenn sie auch nur mit einem Minimum an Ehrlichkeit auf die eigene Vergangenheit blicken würden, wären sie gezwungen zu erkennen, dass es nie auch nur einen Hauch von Glück gegeben hatte; sie waren immer unglücklich gewesen, auch bevor sie sich kennengelernt hatten, sie hatten beide unabhängig voneinander immer Unglück produziert, so wie bestimmte Organismen Cholesterin produzieren, und die einzige Spanne des Glücks, die sie in ihrem Leben erlebt hatten, hatten sie zusammen erlebt, zu Beginn ihrer Verbindung, als sie sich verliebt, geheiratet und Kinder gemacht hatten. An jenem Abend hörten sie sofort zu streiten auf, blieben zusammen und fuhren fort, sich nicht zu ertragen, sich zu verletzen und leise zu streiten bis ans Ende ihrer Tage.
Was Marco betraf, so zwangen sie sich, sich entgegenzukommen. Letizia arbeitete hart an sich, um über Bord zu werfen, was ihre Psychoanalytikerin den Mythos des Kolibris nannte (das männliche Kind, das klein blieb, seine Anmut und seine Schönheit, die für jede Frau, die nicht sie war, unzugänglich blieb), und Probos Standpunkt zu akzeptieren, dem zufolge alles getan werden müsse, was wissenschaftlich möglich sei, um ihm zu ermöglichen zu wachsen — und auf diesem Altar die glänzenden Überzeugungen in Sachen Wachstum und Form zu opfern, die durch die (was immer Probo auch behaupten mochte, vollständige) Lektüre von D’Arcy Wentworth Thompson gereift waren. Probo versuchte, dieses Nachgeben nicht etwa als eine Selbstbehauptung zu begreifen, die ihn noch einsamer gemacht hätte, sondern als eine unverhoffte Gelegenheit, erneut etwas Wichtiges mit seiner Frau zu teilen, die er trotz allem immer noch liebte. Daher nahm er Letizia mit nach Mailand zu Doktor Vavassori, damit sie ihn kennenlernte und sich von seiner Seriosität überzeugen konnte, forderte sie auf, unabhängig von ihm die Fundiertheit der Therapie zu prüfen, die er in Erwägung zog, und bemühte sich, ihr Urteil in den endgültigen Entscheidungsprozess einzubeziehen. Letizia machte allein noch einmal die ganze Recherche, die Probo — auch er allein — in den vorangegangenen Monaten gemacht hatte, und kam zu dem Schluss, dass die Therapie, die der Spezialist in Mailand vorschlug, in der Tat die einzige seriöse Möglichkeit war, die die wissenschaftliche Gemeinschaft damals anzubieten hatte, um Marco das Wachstum zu ermöglichen. Sie hatten es zwar nicht gemeinsam getan, aber zumindest hatten sie dieses eine Mal seit langem wieder ein Stück Weg gemeinsam zurückgelegt.