Bolgheri, 19. August 2015
Liebe Luisa,
schon seit Jahren habe ich, wenn ich mit Dir spreche, das Gefühl, nicht nur mit Dir zu sprechen. Mit »Dir« meine ich das Mädchen, das ich liebe, seit ich zwanzig war, und das eine Frau, Mutter und jetzt sogar Großmutter geworden ist. Seit geraumer Zeit kommt es mir, wenn ich mit Dir spreche, wirklich so vor, als spräche ich neben jenem Mädchen oder dem Teil von ihm, der in Dir überlebt, auch mit einer Fremden. Mehr noch, um ganz und gar aufrichtig zu sein: Es kommt mir so vor, als spräche ich mit Deiner Psychoanalytikerin, wie heißt sie noch? Madame Briccolì, Strippolì? Ich bemerke es, Luisa. Ich bemerke es, weil ich jetzt sofort die Stimme der Psychoanalytiker erkenne, die durch die Personen, die ich liebe, zu mir sprechen. Ich habe mein ganzes Leben mit ihnen zu tun gehabt. Ich bemerke es.
Es stimmt, das, was Du mir gestern über Giacomo gesagt hast, nach all diesen Jahren, hat mich erschüttert. Aber schlimmer, meine Luisa, viel schlimmer sind die Worte gewesen, die Du danach an mich gerichtet hast. Denn in Deiner Unfähigkeit, über Giacomo mit mir zu sprechen, kann ich, wenn ich mich bemühe, immer noch das Mädchen erkennen, das ich liebe, mir sagen, »so ist es eben«, und es akzeptieren. Ich bin 56, und ich musste das Schlimmste akzeptieren. Aber dass Du angesichts meiner Überraschung, als Du endlich beschlossen hast, die Katze aus dem Sack zu lassen (und, ja, auch angesichts meiner durchaus gerechtfertigten Wut, das musst Du zugeben), anstatt mich einfach um Entschuldigung zu bitten, die x-te Pirouette drehen konntest, um Dich gegen mich zu verteidigen, weil ich plötzlich zu der Gefahr wurde, der Du unbedingt entgehen musst, zu dem, der Grenzen überschreitet und den Du abwehren musst, zu dem, der seine eigene Schuld auf Dich projiziert, das bist nicht Du. Das kommt von ihr, wie heißt sie noch? Madame Propolì? Struffellì? Wie zum Teufel heißt sie? Ist die Tirade über den Heroismus, mit dem Du mich traktiert hast, möglicherweise nicht auf Deinem Mist gewachsen? Über meine heroische Sicht des Lebens, die den, der mir nahesteht, manipuliert und erdrückt?
Irre ich mich, Luisa?
In Wirklichkeit bin ich so, bin ich immer so gewesen, von Kindheit an; ich habe mich wirklich wenig verändert, und niemand weiß das besser als Du. Habe ich eine heroische Sicht des Lebens? Muss ich mich immer als Held begreifen? Kann sein, aber es ist immer so gewesen, das ist nichts Neues. Bei mir gibt es nie etwas Neues, wenn überhaupt, so kann man mir das vorwerfen. Du bist langweilig, Marco. Das könntest Du mir sagen. Auch wenn sich dann die Dinge so brutal von allein ändern, dass ich das Privileg, ein wirklich langweiliges Leben zu leben, nie gehabt habe. Jetzt zum Beispiel muss ich einen langen Abschnitt meines Lebens neu betrachten, muss es neu überdenken im Licht dessen, was Du mir in all diesen Jahren bis gestern nie gesagt hast.
Denn ich habe Giacomo beschuldigt. Ich bin ihn frontal angegangen wegen dieser verfluchten Nacht. Es war eine Zeit, in der es Irene schlecht ging, und das konnte man sehen. In dem ganzen Sommer habe ich sie nur einen Abend aus den Augen verloren, an jenem Abend, um mit Dir auszugehen; aber er blieb bei ihr, und ich fühlte mich sicher. Ich habe das Haus beruhigt verlassen, weil er bei ihr blieb. Deswegen habe ich ihn später beschuldigt. Ich habe immer noch sein gerötetes Gesicht vor Augen, während ich ihn beschuldigte. Ich nannte ihn einen Feigling. Ich sagte ihm, Irene sei durch seine Schuld gestorben. Ich habe es getan, und ich weiß, dass es schrecklich ist, und ich habe es für den Rest meines Lebens bereut. Ich hätte es nie getan, wenn ich gewusst hätte, dass auch er in Dich verliebt war.
Jetzt verstehe ich, dass Du mir damals nichts gesagt hast. Du warst 15, er war älter als Du. Und ich verstehe, dass Du es mir, solange wir uns nicht wiedergefunden hatten, auch weiterhin nicht gesagt hast: Du warst nach Paris gezogen, wir sahen uns nicht mehr, wie hättest Du es mir sagen sollen. Aber ich verstehe immer weniger, warum Du es mir nicht gesagt hast, als wir wieder anfingen, uns zu sehen. Warum hast Du es mir in jenen Jahren nicht gesagt? Soll ich Dir eine Liste der Gelegenheiten machen, in denen Du es hättest tun können? Es sind lauter Augenblicke, die immer noch in mein Gedächtnis gemeißelt sind, Du warst kein Mädchen mehr, Du warst eine Frau, Du hattest zwei Kinder, Du standest kurz vor der Scheidung, Du hättest es tun können. Warum hast Du es nicht getan? Warum hast Du mich weiter glauben lassen, dass Giacomo vor mir weggelaufen ist, während er in Wirklichkeit vor Dir weggelaufen war?
Und dann, als die Zeiten chaotisch wurden, Scheidungen, Umzüge, zusammen, nicht mehr zusammen, verstehe ich wieder, dass Du es mir in all den Jahren nicht gesagt hast. Aber, mein Gott, als wir anfingen, uns wieder zu schreiben, während meine Eltern starben und Giacomo wieder in Erscheinung getreten war, warum hast Du es mir da nicht gesagt, warum hast Du es mir nicht geschrieben? Oder als sie gestorben sind und Du zu Mamas Beerdigung gekommen bist, und Giacomo da war und ich euch auch zusammen zum Flughafen begleitet habe, warum hast Du es mir da nicht gesagt? Oder in jenem Sommer? Warum hast Du es mir während jener drei Tage nicht gesagt, die wir in London verbracht haben? Giacomo war wieder verschwunden, und ich war erneut verletzt zurückgeblieben. Warum hast Du es mir nicht gesagt in dem fabelhaften Zimmer im Langham Hotel, dass er nicht zu Papas Beerdigung gekommen war, weil er fürchtete, Dich wiederzusehen? Und im August, in Bolgheri, als Du aus Kastellorizo zurückkamst und wir den Rest des Sommers zusammen verbracht haben? Warum hast Du es mir nicht gesagt, als wir, Du und ich, Mamas und Papas Asche im Meer, in den Mulinelli, verstreut haben und Giacomos Abwesenheit so übermächtig war? Warum hast Du es mir nicht gesagt im Ruderboot von Doktor Silberman, während wir die Asche im Sonnenuntergang verstreuten, dass auch Giacomo immer in Dich verliebt gewesen war? Dass das der wahre Grund für seine Flucht war? Und dass er, während er die Mails nicht beantwortete, die ich ihm beharrlich schickte, Jahr um Jahr, in der Hoffnung, er würde mir verzeihen, Dir geschrieben hat? Und warum hast Du es mir danach nicht bei irgendeiner Gelegenheit gesagt, in Bolgheri, im August, in all diesen Jahren? Du hättest mich nur zur Seite nehmen müssen, eines Vormittags, wie Du es gestern getan hast, um mir all die Dinge zu sagen, die Du mir nie gesagt hattest.
Aber vor allem, warum hast Du mich, in Anbetracht der Tatsache, dass ich inzwischen gelernt hatte, mit dieser Schuld zu leben, gestern Morgen zur Seite genommen und es mir gesagt? Aus welchem verrückten Grund zwingst Du mich jetzt, den Bruch mit meinem Bruder zu überdenken? Nach allem, was mir passiert ist? Egal, ob ich verändert war oder nicht, ich habe Dich gestern nur dies gefragt: Warum-sagst-Du-es-mir-jetzt?
Aber nichts, und an diesem Punkt mischt sich in Deine Verteidigung Madame wieheißtsienoch, Bracciolì, Croccantì. Habe ich recht? Wie kann der sich erlauben, Dir Vorhaltungen zu machen, zu protestieren? Das ganze Durcheinander hat doch er angerichtet, immer, mit seiner unglücklichen Familie, mit seinem unglücklichen Leben, wie kann er sich erlauben, sich zu beklagen? Mit seiner heroischen Sicht des Lebens, mit dem Anspruch, dass die Leute unfehlbar, eben heroisch sein müssen?
Irre ich mich, Luisa?
Lassen Sie sich nicht anklagen, lassen Sie sich keine Schuldgefühle einreden, Sie sind das Opfer, Sie waren 15, Ihr Leben ist vom Untergang dieser Familie gezeichnet worden. Hat sie nicht so zu Dir gesprochen?
Brabantì. So heißt sie. Madame Brabantì.
Ich habe Bilanz gezogen, Luisa, und es ist herausgekommen, dass wir beide uns einmal mehr verlassen haben, als wir zusammengekommen sind. Ich schwöre. Also, im Grunde wäre es gar nicht nötig, es Dir zu sagen, aber in einer Stunde werde ich Dich zum Flughafen begleiten, und Du wirst abfliegen, und wir werden uns verabschieden, und dann werde ich es Dir trotzdem sagen, und diesmal wäre es gut, wenn wir nicht mehr darauf zurückkämen:
Leb wohl
Marco