An: enricogras.rigano@gmail.com
Gesendet — Gmail — 12. Februar 2013 22:11
Betreff: Text für Tagung
Von: Marco Carrera
Ciao Enrico,
im Anhang schicke ich Dir den Text des Referats, das ich auf der Tagung halten werde. Nach so vielen Jahren wieder an einer Tagung teilzunehmen bewegt mich. Ich danke Dir, dass Du mir die Gelegenheit gegeben hast, und bitte Dich, mir ganz ehrlich zu sagen, wenn Du den Eindruck hast, dass der Text den Ansprüchen nicht genügt.
Ich umarme Dich
Marco
Tagung: DIE VISUELLE WAHRNEHMUNG ZWISCHEN AUGE UND GEHIRN
Prato, 14. März 2013, Auditorium des Museo Pecci
Titel des Referats: DIE BLICKE SIND KÖRPER
Dauer: 8—9 Minuten
Referent: Dr. Marco Carrera, AOU Carreggi, Florenz
»Opa-Opa-Opa-Opa …« Ich liege auf dem Bett mit meiner kleinen Enkelin Miraijin, 26 Monate alt. Die Absicht ist, sie zum Einschlafen zu bringen. Ich drücke sie an mich und streichle mit der Hand ihr lockiges Haar. In der anderen Hand halte ich das Handy, auf dem ich eine SMS lese, was Miraijin gar nicht gefällt. »Opa-Opa-Opa-Opa …«, protestiert sie in Endlosschleife. Ich unterbreche die Lektüre der Nachricht und schaue sie an; sie lächelt mich an und hört augenblicklich auf, mich zu rufen. Ich wende mich wieder der Nachricht zu, wobei ich sie an mich drücke und streichle, und sie fängt sofort wieder an: »Opa-Opa-Opa-Opa …« Ich schaue sie wieder an. Sie hört auf. Ich kehre zur SMS zurück. Sie fängt wieder an. Mein Körper, meine Umarmung, meine Wärme reichen ihr nicht, meine Liebkosungen reichen ihr nicht. Sie will meinen Blick — sonst bist du nicht da, sonst merkst du nicht, dass ich einschlafe.
Ich bin an der Tankstelle, ich habe gerade vollgetankt. Ich zahle mit der Kreditkarte. Ich tippe einen Betrag ein, das elektronische Gerät (ich habe kürzlich gelernt, dass es POS heißt, Abkürzung von Point of Sale) verlangt die Eingabe der PIN (was, wie ich schon länger weiß, die Abkürzung von Personal Identification Number ist). Der Tankwart dreht das POS zu mir, wendet sich dann schnell zur anderen Seite, zu der vom Wind gekämmten Landschaft. Er tut das so ostentativ, dass seine Geste übertrieben wirkt in einem Kontext lauter kleiner, normaler Gesten, die keine besondere Bedeutung haben. Aus keinem anderen Grund würde er eine so kolossale Geste machen, als um mir zu bedeuten, dass er mir nicht zuschaut, während ich meine PIN eingebe — und ich ihn daher nicht verdächtigen muss, sollte meine Kreditkarte jemals kopiert werden.
Im 13. Gesang des Purgatoriums befindet sich Dante auf der zweiten Stufe, in Gegenwart der Seelen der Neidischen. Sie drängen sich aneinander, grobe Kleider, die die Farbe der Felsen haben, an denen sie lehnen, und erflehen die Fürbitte der Heiligen und der Madonna. Vergil lädt Dante ein, sie aus der Nähe zu betrachten, und Dante sieht, dass die Augen aller mit Draht zugenäht sind und die Tränen aus den Nähten fließen. An diesem Punkt macht der Dichter eine wunderbare Geste voller Mitleid und Modernität: »Ich glaube, dass ich, gehend, Unrecht tat, / Da ich hier sah und wurde nicht gesehen; / Drum wandt ich mich an meinen weisen Rat.« Das heißt, er wendet den Blick ab und richtet ihn auf Vergil, und das nicht, weil der Anblick dieser Qual ihn entsetzt, sondern um sie nicht zu beleidigen, indem er sie ansieht, diese Seelen, die seinen Blick nicht erwidern können. Es ist, als wollte er sagen, dass man nicht auf unbewaffnete Leute schießt, dass man keine Menschen schlägt, die sich nicht wehren können.
Wenn man glaubt, was ein Mitglied seines Personals der Modezeitschrift Notorious erklärt hat, erlaubte Prince seinen Angestellten nicht, ihn anzuschauen. »Ich habe tatsächlich gesehen, wie er einen Typ feuerte«, sagt der Angestellte, der anonym bleiben will, »weil er ihn angeschaut hat. Warum schaut der mich an? Sagt ihm, er soll gehen.« In Amerika haben sie eine Definition für diese Art der Provokation geprägt: »eye contact«. Diesen armen Teufel hat es den Job gekostet, aber versuchen Sie mal, in einem verrufenen Lokal in der Bronx den Blick zu einem zu erheben, der neben Ihnen steht. »Was hast du gemacht, um so zugerichtet zu sein?« »Eye contact.«
Die französische Philosophin Baldine Saint Girons hat ein Buch geschrieben, das 2010 in Italien unter dem Titel L’atto estetico. Un saggio in cinquanta questioni veröffentlicht wurde und in dem sie einen philosophisch ziemlich gewagten Begriff einführt — den ästhetischen »Akt«. Die Verwendung dieses Wortes, »Akt«, stellt vollkommen die Auffassung auf den Kopf, der zufolge das Schauen Synonym von Passivität ist, im Gegensatz zum Tun. Der ästhetische Akt, sagt Baldine Saint Girons, ist ein »Sicheinmischen«; anschauen und berühren auf Distanz; die Blicke sind Körper. Das ist etwas anderes als Passivität.
Jeden Tag werden wir von Hunderten von Blicken getroffen. Und wir treffen mit unserem Blick Hunderte von Personen. In den meisten Fällen achtet niemand darauf; wir bemerken nicht, dass wir angeschaut werden, und die anderen bemerken nicht, dass wir sie anschauen. Daher passiert auch nichts, diese Blicke sind ohne Konsequenzen — aber es gibt keinen Grund, sie für weniger aufdringlich zu halten als die, die ich vorhin erwähnt habe. Und können wir uns eigentlich so sicher sein, dass die nicht erwiderten Blicke nichts auslösen? Es gibt Leute, die sich verlieben, indem sie jeden Tag durch das Fenster eine bestimmte Person beobachten, die auf der Straße vorbeigeht. Es gibt Leute, die sich in den Moderator oder die Moderatorin verknallen, die sie im Fernsehen sehen. Nein, es gibt keine wichtigen und weniger wichtigen Blicke; in dem Augenblick, in dem sie auf jemanden geworfen werden, sind alle Blicke ein Sicheinmischen, und nur die Kombination der Ereignisse, das heißt der Zufall, bestimmt die Konsequenzen.
Es handelt sich fast ausschließlich um emotionale Konsequenzen. Nehmen wir den Tankwart. Nehmen wir an, dass er den Kopf nicht so auffällig bewegt, nehmen wir an, dass er meine Finger beobachtet, während ich die PIN eingebe; oder dass er mir lediglich ins Gesicht schaut, anstatt den Blick auf die Felder zu richten; ich wäre verärgert darüber, so viel ist sicher, und meine Reaktion, ob ich sie unterdrücke oder nicht, wird sehr stark derjenigen von Prince seinem Angestellten gegenüber ähneln: Warum schaut der mich an? Auch wenn ich nicht glauben kann, dass er versucht, sich meinen persönlichen Code zu merken, um ihn mit einer kopierten Karte zu benutzen, werde ich mich in meiner Privatsphäre verletzt fühlen. Das ist der Beweis, dass Blicke sehr mächtige Waffen sind und Gemütsaufwallungen auslösen, auch wenn sie nicht auf jemanden gerichtet werden, um solche auszulösen. Wem ist es nicht schon mal passiert, dass er sich spontan gedemütigt gefühlt hat, wenn die Person, mit der er im Gespräch ist, einen raschen Blick auf seine Uhr wirft. Das, was sich verändert und die Blicke der Leute mehr oder weniger erträglich macht, ist die Qualität der Aufmerksamkeit, die sie ausdrücken. Da steht beispielsweise jemand auf dem Seitenstreifen der Autobahn neben seinem Wagen; wir fahren mit 130 Stundenkilometern an ihm vorbei und bemerken im Bruchteil einer Sekunde, dass er uriniert. Vermutlich ist er eine geschätzte, respektierte Person und bei absolut klarem Verstand; trotzdem war er, einem unwiderstehlichen Drang folgend, zu diesem — nennen wir es so — sozial gesehen extremen Akt gezwungen. »Zum Teufel«, muss er sich gesagt haben, »immer noch besser, als sich in die Hose zu machen«, aber um nichts auf der Welt würde er tun, wozu er sich entschlossen hat, wenn er zu uns blicken würde, die wir ihn im Vorbeifahren sehen. Er dreht uns den Rücken zu, reduziert seine Aufmerksamkeit uns gegenüber auf null und löscht daher die Gemütsbewegung aus, die unsere Blicke in ihm auslösen würden. Ob er uns den Rücken zudreht oder uns zugewandt ist, ändert in Wirklichkeit wenig, da es sehr unwahrscheinlich ist, dass wir ihn kennen; für ihn ändert es jedoch alles. Das bedeutet, dass der wichtigste Akt, der sich in diesem Augenblick vollzieht, nicht darin besteht, dass er im Freien uriniert, sondern dass wir ihn dabei sehen. Wenn ihm verboten würde, uns den Rücken zuzuwenden, bestünde der wichtigste Akt darin, dass er sieht, dass wir ihn sehen. Das ist etwas anderes als Passivität.
»Ich bin, was ich sehe«, hat Alexandre Hollan gesagt; da es sich um einen Maler handelt, ist es natürlich, dass er diese Identität in die Richtung ausrichtet, in die er blickt; aber ebenso könnte Kate Moss ihre Identität finden, indem sie die Laufrichtung umkehrt und behauptet: »Ich bin, was die anderen in mir sehen.« Das Instrument, durch das der Mensch sich behauptet, ist immer das gleiche — der Blick. Der elektronische Blick der automatischen Apparate dagegen — unschuldig per definitionem — ist das ideale Gefäß für schwerwiegendere Formen von Verantwortung geworden. Thomas Ferebee, der von der amerikanischen Luftwaffe ausgewählte Richtschütze, verlangte von seinen Augen, ihm den richtigen Augenblick zu sagen, um die Atombombe aus der Enola Gay über Hiroshima abzuwerfen; mit den eigenen Augen sah er ein paar Augenblicke später auch den entsetzlichen Pilz aus der Explosion aufsteigen. Das bedeutet, dass er sich einmischte. Heute benutzen die Amerikaner unbemannte Bomber, sogenannte Drohnen, die die Bomben auf Befehl des Algorithmus abwerfen, der sie steuert. Ohne einen direkten Blick mischt sich niemand ein, und niemand hat Schuld.
Und dann gibt es die Betrachtung, den kreativsten und mystifikatorischsten ästhetischen Akt. Jetzt ist Miraijin zum Beispiel eingeschlafen, und anstatt meine SMS zu lesen, betrachte ich sie; sie ist ein Mädchen, ein ganz normales Mädchen, das schläft — doch mein Blick verwandelt sie in das Schönste, das es für mich auf der Welt gibt.