Marco Carrera
Piazza Savonarola 12
50132 Firenze
Italia
Paris, 19. Dezember 2018
Marco,
ich lese ein Buch über Fabrizio De André. Dori Ghezzi hat es zusammen mit zwei Professoren, zwei Linguisten, geschrieben. Es ist ein erstaunliches Buch, und ich bin gerade auf die folgende Passage gestoßen, in der die beiden Linguisten die Bedeutung des Wortes »emmenalgia« erklären:
»Von ›emméno‹, einem griechischen Verb, das bedeutet, ›ich bleibe standhaft‹, ›ich halte durch‹, ›ich mache unermüdlich weiter‹. Ein Gefühl melancholischer Sehnsucht nach dem Wunsch, bis zum Äußersten weiterzumachen. Ein tückisches Verb allerdings. Denn ›emméno‹ bedeutet auch, ›sich den Gesetzen, den Entscheidungen anderer entziehen‹. Das Schicksal aller Menschen — und nicht nur: wenn auch Gott gezwungen ist, sich den Diktaten des freien Willens zu unterwerfen —, wenn sie sich mit den Zeitgrenzen herumschlagen, die sie bestimmen. Ein Wort, das Gift und Behandlung ist für die Verletzung der Zukunft, wenn sie uns fehlt. Denn in Wirklichkeit ist, auch wenn es ›eine‹ Verletzung heilt, die wahre hartnäckige Hoffnung aller Menschen, wenn sie ehrlich zu sich selbst sind, dass es zu dieser Verletzung nie kommen wird.«
Aber, Marco, dieses Verb bist Du. Keiner versteht es wie Du, standhaft durchzuhalten, aber keiner versteht es auch wie Du, sich der Veränderung zu entziehen, genau wie das tückische Verb, von dem die Linguisten sprechen: Du bleibst standhaft, machst bis zum Äußersten weiter, aber Du entziehst Dich auch fatalerweise den Gesetzen und den Entscheidungen anderer.
Und ich habe spontan begriffen (und deswegen schreibe ich Dir auch spontan, auch wenn ich weiß, dass Du mir nicht antworten wirst), dass Du wirklich ein Kolibri bist. Das ist ganz klar. Es war eine Erleuchtung: Du bist wirklich ein Kolibri. Aber nicht aus den Gründen, aus denen Dir dieser Spitzname gegeben wurde; Du bist ein Kolibri, weil Du wie die Kolibris deine ganze Energie dafür verwendest, auf der Stelle zu bleiben. Siebzig Flügelschläge in der Sekunde, um zu bleiben, wo Du bereits bist. Du bist großartig darin. Du schaffst es, in der Welt und in der Zeit anzuhalten, Du schaffst es, die Welt und die Zeit um Dich herum anzuhalten, und manchmal schaffst Du es sogar, in der Zeit zurückzugehen, um die verlorene Zeit wiederzufinden, so wie der Kolibri fähig ist, rückwärts zu fliegen. Und daher ist es so schön, mit Dir zusammen zu sein.
Allerdings ist das, was für Dich ganz natürlich ist, für die anderen äußerst schwierig.
Allerdings ist die Neigung zur Veränderung, auch wenn sie vermutlich nicht zu einer Verbesserung führt, Teil des menschlichen Instinkts, und Du begreifst sie nicht.
Und vor allem ist dieses ständige Auf-der-Stelle-Bleiben, das Dich so große Mühe kostet, manchmal nicht die Behandlung, sondern die Wunde. Und daher ist es unmöglich, mit Dir zusammen zu sein.
Ich habe mein ganzes Leben damit verbracht, mich zu fragen, warum es Dir nicht gelungen ist, das zu tun, was lange Dein lebhaftester Wunsch gewesen zu sein scheint: diesen Schritt, der Dir erlaubt hätte, mit mir zusammen zu sein. Ich habe mich gefragt, was da in Dir war, das, wenn wir uns ganz nah waren (und das war etliche Male der Fall in all diesen Jahren), Dich einen Rückzieher machen ließ, und Du ganz plötzlich zurückgewiesen hast, was Du einen Augenblick vorher angezogen hattest. Heute habe ich schlagartig begriffen, dass in Wirklichkeit das Gegenteil geschehen ist, dass ich diejenige bin, der es nicht gelungen ist, mit Dir zusammen zu sein. Denn um mit Dir zusammen zu sein, muss man am Ort bleiben können, und dazu war ich nie fähig. Das Ergebnis ist das gleiche, wir beide haben uns verpasst, in allen Bedeutungen dieses Wortes; aber diese neue Sichtweise erfüllt mich mit einer Trauer, die ebenfalls neu ist, und grausam, denn mir wird bewusst, dass vielleicht immer ich dafür verantwortlich war.
Auch dass ich es erst so spät begreife, ist grausam, aber es ist immer noch besser, als es nie zu begreifen.
Marco. Draußen vor den Fenstern sind Explosionen, Schreie und Krankenwagensirenen zu hören. Es ist Samstag, und jeden Samstag herrscht hier Weltuntergang, aber das ist normal geworden. Die Gilets jaunes, die Gelbwesten, die alles kaputtschlagen, sind normal geworden. Auf Dich zu verzichten ist normal geworden.
Frohe Weihnachten
Luisa