Kapitel 1 feat. Nesrin Edebali

Hamburg, meine Perle

Wer Träume realisieren will, der muss zunächst einmal aus ihnen aufwachen. Beziehungsweise überhaupt erst einmal zur Welt kommen. Geboren wurde ich am 17. August 1989 im Elim-Krankenhaus im Hamburger Stadtteil Eimsbüttel. Naturgemäß sind die Erinnerungen an die eigene Geburt und die Babyzeit spärlich, aber mein Gefühl sagt mir, dass ich ein ganz umgängliches Kind war, denn alle um mich herum waren immer total freundlich zu mir.

Die ersten aktiven Erinnerungen, die ich an meine Muddi habe, setzten ein, als ich in unserer Wohnung in der Arminiusstraße in Stellingen noch im Gitterbettchen schlief, sie mir aber zwei Stangen herausgeschraubt hatte. Wenn ich wach wurde, konnte ich also aus meinem Bett herausklettern und zu ihr unter die Decke schlüpfen. Meine Mutter Nesrin Edebali war 18 Jahre jung, als sie mich bekam. Mein Vater Jon, den sie in der Nähe von Frankfurt kennengelernt hatte, wo er als US-Soldat stationiert war, war wieder in den USA, als ich geboren wurde. Meine Mom hat mich alleine großgezogen, obwohl sie selbst noch ein Teenager war. Ihr werdet an einigen Stellen in diesem Buch mehr über sie erfahren, aber was ich vorwegnehmen kann: Nesrin Edebali ist der Endgegner. An ihr kommt keiner vorbei.

Die Beziehung, die uns seit meiner Geburt verbindet, ist anders als die meisten Eltern-Kind-Beziehungen. Schon alleine deshalb, weil sie so jung war. Meine Muddi stand für vieles in meinem Leben. Sie war nicht nur Mutter, sie war Vater, große Schwester, Anwältin, meine Managerin und mein Bodyguard in einer Person. Und wie Muddis halt so sind, brauchte ich nur kurz die Hand zu heben, schon war sie zwei Minuten später für mich da.

Meine Frau Steffanie wundert sich manchmal, wie offen ich mit Nesrin über alles spreche, was in meinem Leben passiert. »Wie kannst du mit deiner Mutter darüber reden?«, fragt sie dann. Und ich antworte: »Normal! So ist das eben bei uns!« Ich bin mir sicher, dass meine Lebensfreude, meine chronische gute Laune und mein positives Denken daherkommen, weil ich mir nie über irgendetwas im Leben Sorgen zu machen brauchte. Muddi regelte das schon.

Meine Kindheit war voll von Liebe und Zuneigung. Ich erinnere mich an so viele lustige Momente mit Nesrin. Viele hat sie zum Glück in Fotoalben verewigt.

Als ich fünf Jahre alt war, zogen wir in den Blomkamp im Stadtteil Osdorf in eine Zweizimmerwohnung in einem dreistöckigen Mietshaus. Luxus gab es bei uns nicht, aber wir hatten alles, was wir brauchten. Was meist nicht viel war, denn wir hatten ja einander.

Das erste Mal habe ich in der ersten Klasse nach meinem Vater gefragt, als mich die anderen Kinder wegen meiner Hautfarbe mobbten. Kinder können entwaffnend ehrlich sein und in dieser Ehrlichkeit oft unschuldig, manchmal aber auch brutal und gemein. Und als mich einige mit dem N-Wort beschimpften oder mich »Schokojunge« nannten, wollte ich wissen, woher meine dunkle Haut kam, wo meine Mom doch hellhäutig und halb deutsch, halb türkisch war. Nachdem ich es wusste, war das für mich okay. Mehr Informationen über meinen Vater brauchte ich nicht. Er war schließlich nie dagewesen. Für mich war das in Ordnung, ich hatte niemals das Gefühl, dass mir jemand oder etwas gefehlt hätte.

Das war allerdings nicht allein meiner Mom zu verdanken, da es in unserer Familie einige männliche Bezugspersonen gab, die den abwesenden Vater sehr gut ersetzten. Allen voran mein Opa Basri, ein stolzer Türke, sehr introvertiert und ruhig, aber unglaublich liebenswert. In seiner Stille lag eine Lautstärke, die ohrenbetäubender kaum sein konnte. Stundenlang trank er in seiner Stamm-Teestube mit anderen türkischen Freunden Tee und spielte Karten. Aber wenn ich bei meinen Großeltern war – und das war ich regelmäßig jeden Freitag und Sonnabend – war er immer für mich da. Wie die meisten Großeltern konnten auch meine nicht Nein zu mir sagen. Ich kann mich noch dran erinnern, dass mich mein Opa in der vierten Klasse mittwochs von der Schule abholte. Anschließend fuhren wir zu McDonald’s an der Luruper Hauptstraße, und ich durfte bestellen, was ich wollte. Das war in der Regel ein Hamburger Royal TS im Menü mit großen Pommes, ein Vanilleshake und zum Nachtisch ein Schoko-Donut. Wer sich also gewundert hat, warum ich vor ein paar Seiten vom kleinen dicken Kasim geschrieben habe – hier ist die Erklärung!

Für die sonstigen kulinarischen Höhepunkte war meine Oma Karin zuständig. Sie kocht so göttlich, dass ich mich immer gefragt habe, warum sie kein Fünfsterne-Restaurant führt. Ich bin mir sicher, dass alle Omas telepathisch miteinander verbunden sind, denn bei Oma isst es sich immer am besten (sorry, Mom). Ich hatte in meinem Leben das Glück, schon in einigen Luxusrestaurants essen zu dürfen. Aber für das Hühnerfrikassee meiner Oma würde ich alles andere stehen lassen! Wir hatten erst kürzlich ein schönes Erlebnis, als ich nach Hamburg zurückkehrte und meine Frau meine Familie in Deutschland kennenlernte. Wir waren zum Essen eingeladen. Oma hatte zur Vorspeise Karottencremesuppe zubereitet. Steffi wusste damit zunächst nichts anzufangen und rührte eher skeptisch mit dem Löffel in der Suppe. Aber als sie meine Muddi und mich schlürfen sah, traute sie sich auch. In der Sekunde, in der ihre Geschmacksnerven die cremige Perfektion aus der Schale wahrnahmen, guckte sie uns mit funkelnden Glitzerstern-Augen an wie die Anime-Charaktere.

Bei solch einem Genuss war es für mich normal, mein ganzes Gesicht in die Schüssel zu stecken, was meine Oma allerdings nicht gut fand, denn sie legte großen Wert auf gute Tischmanieren. Die waren ihr genauso wichtig wie eine anständige Allgemeinbildung. Jeden Sonnabend, wenn ich bei ihnen war, legte sie eine Platte mit klassischer Musik auf, dazu musste ich in meiner schönsten Schreibschrift einen Text abschreiben. Dafür gab sie mir immer ihren besten Füller. Ich musste die Spitze in ein Tintenfass tauchen und die Tinte in den Stift aufziehen. Die Freude und der Stolz im Gesicht meiner Oma haben mich ermutigt, ihr meine allerschönste Schrift zu zeigen.

Es gab allerdings nicht nur Hochkultur im neunten Stock des Hochhauses in der berüchtigten Sozialsiedlung Osdorfer Born, wo meine Großeltern lebten. Samstagmorgens schaute ich Kinder-RTL, bis das Programm zu Ende war. Dann ging es weiter mit »Knight Rider« oder »Baywatch« bei VOX, bis Opa irgendwann die Nase voll hatte und auf TRT International umschaltete. Da liefen stundenlang türkische Nachrichten, Quizsendungen oder Musik. Leider verstand ich nichts, weil bei uns zu Hause Deutsch gesprochen wurde. Türkisch habe ich nie gelernt. Nesrin kann zwar etwas Türkisch, ist aber leider auch nicht zweisprachig aufgewachsen. Mein Opa hat immer Deutsch mit seinen Kindern geredet. Meine Mom hat anfangs versucht, mich zweisprachig auf Englisch und Deutsch zu erziehen. Aber ich habe mich dagegen gewehrt und wollte nur Deutsch sprechen. Einige Jahre später, als ich in den USA auf die Highschool kam, habe ich das bitter bereut.

Beim Fernsehen durfte ich mich aus Omas Süßigkeitenschrank bedienen. Gummibärchen, Lakritz, Haribos und Schokolade – hätte es damals schon YouTube gegeben, hätte ich meinen eigenen Süßigkeiten-Review-Channel betrieben.

Zwei weitere wichtige Bezugspersonen waren meine Onkel Ali und Izzet, die zwei großen Brüder meiner Mutter. Ali ist, ähnlich wie sein Vater, ein eher ruhiger Mensch, der in unserer Familie der Erklärer ist. Für »Wer wird Millionär« wäre er der ideale Telefonjoker. Er weiß über alles Bescheid. Heute führt er mit seiner Frau Corinna eine Apotheke im Stadtzentrum Schenefeld, damals konnte er mir die ganze Welt so näherbringen, dass ich das Gefühl hatte, alles zu verstehen. Ali hat Geduld wie kein anderer und nimmt sich für alles die nötige Zeit. Aber ähnlich wie Clark Kent war er gleichzeitig auch eine Maschine. Er war so etwas wie mein erster Coach. Er nahm mich zum Boxen mit. Er selbst hatte es zum Hamburger Amateurmeister gebracht.

Izzet dagegen war der extrovertierte Gegenpart. Er macht jeden Tag zu einem besseren Tag, war aber auch der beste Gesprächspartner für ernste Konversationen. Ihn konnte ich jederzeit um Rat oder nach seiner Meinung fragen. Noch heute geht es mir besser, nachdem ich mit ihm telefoniert habe. Auch meinen Großonkel, der ebenfalls Izzet hieß, möchte ich erwähnen. Auch wenn ich ihn nie kennengelernt habe, erzählte mein Opa immer Geschichten über ihn. Zum Beispiel wie er es 1964 zum türkischen Meister im Speerwerfen gebracht hat. Wir sind keine große Familie, der Zusammenhalt ist dafür umso größer.

Der wichtigste Mensch in meinem Leben war immer meine Mom. Erst wenn man selbst Kinder hat, kann man verstehen, welche Sorgen und Ängste Eltern ausstehen müssen. Nesrin ist wirklich eine Original-Vollmaschine. Als alleinerziehende Mutter kämpfte sie sich viele Jahre durch den Dschungel des Alltags. Meist arbeitete sie nur halbtags, um so viel Zeit wie möglich mit mir zu verbringen. Ich habe so viele lebhafte Erinnerungen an den Spaß, den wir hatten, dass ich einfach nur unglaublich dankbar dafür bin, was für eine liebevolle, gut behütete und trotzdem freie Kindheit ich genießen durfte.

Das war mit Sicherheit nicht immer einfach für sie, denn ich hatte sehr viel Energie und brauchte ständig Beschäftigung. Bei so vielen Hummeln im Hintern war es nur eine Frage der Zeit, bis etwas passierte. Wenn wir im Kindergarten draußen spielen durften, waren wir Jungs meistens auf der großen Schaukel. Oft versuchten wir vom höchsten Punkt der Schaukel so weit wie möglich zu springen. Bei einem rekordverdächtigen Sprung flog ich so weit, dass ich auf einem Autoreifen landete, der im Hof lag. Dabei brach ich mir den Fuß, was mir mehrere Wochen einen Gips einbrachte und mich viele schöne Schaukelsprünge kostete.

Nesrin Edebali, Jahrgang 1970, schlanke, offensichtlich gut trainierte Figur, ist nicht der Typ Mensch, der sich selbst in den Fokus stellt. Sie ist der Ansicht, dass sie einfach Glück hatte mit ihrem einzigen Kind. »Sein fröhliches Gemüt hat es mir leicht gemacht. Kasim war wirklich immer gut gelaunt. Natürlich hat er Ecken und Kanten. Aber er ist ein gnadenloser Optimist. Außerdem hatte ich viel Rückendeckung von meiner Familie. Es war immer jemand da, der auf ihn aufpassen konnte«, sagt sie.

Hyperaktiv? Nesrin Edebali legt die Stirn in Falten, als sie diese Selbstbeschreibung ihres Sohnes hört. »Kasim war immer sehr selbstständig und autonom, und er hatte viel Energie. Wenn ich ihn aus dem Kindergarten abgeholt habe, wollte er sofort weiterspielen«, sagt sie. Aber hyperaktiv? »Eigentlich kennst du doch nur Schlafen, Essen und Trainieren«, sagt sie und grinst, während Kasim durch die Fotoalben blättert, die er auf der Couch im Wohnzimmer ausgebreitet hat.

Was ihr an Kasim besonders imponiere, sei sein Ehrgeiz und sein Durchhaltevermögen. »Er hat wirklich nichts geschenkt bekommen, sondern sich alles hart erarbeitet.« Natürlich habe es auch Phasen im Leben gegeben, in denen er auf nichts Lust hatte. »Aber ich muss ehrlich gestehen, dass er gar keine Chance hatte, dem Sport aus dem Weg zu gehen, denn das hätte ich ihm nicht durchgehen lassen«, sagt Nesrin Edebali, die als Kursleiterin beim Verein Aktive Freizeit arbeitet und selbst geturnt, Kampfsport betrieben und mit ihrem Sohn oft Basketball gespielt hat. Die gemeinsame Sportroutine sei für sie die schönste Zeit gewesen. »Gerade das Alter zwischen neun und zwölf ist sehr intensiv, da schauen sich Jungs viel von den Eltern ab. Und wenn man sie da packen kann, verliert man sie auch als Teenager nicht«, sagt sie.

Die Verbindung, die die beiden zusammenhält, bezeichnet Nesrin Edebali als »sehr ehrlich und voller Vertrauen. Aber es ist nicht so, dass wir nicht ohne einander können. Wir sind nicht abhängig voneinander.« Dass er Football als Beruf wählen würde, habe sie sich zunächst nicht vorstellen können, »vor allem, weil wir über die Möglichkeit, in die USA zu gehen, mal gesprochen hatten, als er etwa 15 war. Aber damals wollte er noch nicht«. Erst als sich die Möglichkeit eines Stipendiums auftat, sei bei Kasim die Erkenntnis gewachsen, dass aus dem Traum tatsächlich Realität werden könnte. Und als sie spürte, dass er nun überzeugt davon war, diesen Weg einschlagen zu wollen, bestärkte seine Mutter ihn, »denn nur wenn ein Kind wirklich an etwas glaubt, findet es die Kraft, alles dafür zu geben und zu investieren«.

Anfangs sei sie angesichts der Kosten eines Amerika-Abenteuers skeptisch gewesen, »weil ich nicht glaubte, dass wir uns das leisten können«. Aber als klar wurde, dass sie die Flugkosten aufbringen konnte, habe sie sich riesig für ihn über die Chance seines Lebens freuen können. Auch wenn das bedeutete, viele Kilometer voneinander getrennt zu sein. »Für mich war es wie ein Sechser im Lotto, dass er es geschafft hat, ein Stipendium zu bekommen. So eine Chance muss man einfach wahrnehmen, denn ein Highschool-Jahr kostet 42.000 Dollar, ein Jahr am Boston College 60.000. Wenn du das finanziert bekommst, solltest du nicht zögern«, sagte sie.

Selbstverständlich sei die Entfernung nicht immer leicht zu überbrücken, und dass ihr Sohn nie Heimweh bekam, habe sie anfangs getroffen. »Auf der anderen Seite zeigt das, dass er mit einer großen Offenheit und Neugier auf die Welt erzogen wurde, und letztlich bin ich natürlich glücklich darüber, dass er es schafft, sich so schnell auf andere Menschen einzulassen und heimisch zu werden.« Der einzige Herzschmerz, den die räumliche Trennung verursache, sei die seltene Chance, die beiden Enkeltöchter in den Arm nehmen zu können. »Umso mehr freue ich mich, dass er jetzt ein weiteres Jahr in Hamburg spielt und die Mädchen ein paar Monate hier sind«, sagt sie.

Wer Nesrin Edebali zuhört, versteht, warum aus ihrem Sohn jemand geworden ist, der sich mit den Besten seines Sports messen kann und dennoch nie die Bodenhaftung verliert, obwohl er gern im Mittelpunkt steht. »Kasim weiß, dass er sich niemals zu wichtig nehmen darf. Ich bin stolz auf alles, was er geschafft hat.« Anfangs sei es für sie befremdlich gewesen, dass sein Heimatverein Hamburg Huskies sein Footballfeld nach ihrem Sohn benannt hat, aber »das ist eine große Ehre. Es ist ein tolles Gefühl, seinen Namen bei Google Earth einzugeben und so das nach ihm benannte Stadion zu finden.«

Was aus ihrem Sohn nach der aktiven Karriere wird, darüber hat sich Nesrin Edebali noch keine Gedanken gemacht. »Der Football wird sicherlich nie ganz aus seinem Leben verschwinden. Kasim ist nicht der Mensch, der Plan B und C macht. Aber ihm passiert immer etwas Neues, das gut für ihn ist. Deshalb gibt es für mich keinen Zweifel daran, dass er seinen nächsten Weg finden wird.« Wo auch immer der hinführt: Seine Mutter wird an seiner Seite sein.

Das Einzige, was mir in meiner Familie manchmal gefehlt hat, waren Geschwister. Wobei ich der Vollständigkeit halber erwähnen muss, dass ich sieben Halbgeschwister in den USA habe, die ich allerdings erst kennenlernte, als ich in Amerika lebte. Andererseits hatte ich in Hamburg viele Freunde, die wie Brüder und Schwestern für mich waren. Im Blomkamp spielten wir viel auf der Straße, es waren immer um die 15 Kinder da. Wir spielten Räuber und Gendarm, Brennball oder Völkerball, machten im Sommer aus Fruchtzwergen Eis am Stiel, und sahen uns fast jeden Tag.

Auch wenn mein Cousin und meine Cousine mehr als zehn Jahre jünger sind und wir uns über 16 Jahre nur ein- bis zweimal im Jahr sehen konnten, haben wir ein cooles Verhältnis. Wieder in Deutschland zu sein und die verlorene Zeit nachzuholen, ist ein super Gefühl. Meine Familie ist klein, aber sehr fein. Deshalb schätze ich unsere Familienfeste sehr. Auch wenn das amerikanische Thanksgiving ein Highlight ist, an Oma Karins Gans mit Rotkohl und Kartoffelklößen an Weihnachten kommt niemand ran.

Zeit mit der Familie hält man oft schnell für selbstverständlich, aber heutzutage genieße ich jeden Moment mit der »Fam«. Die kleinen Momente sind es, an die ich mich bis heute erinnere. Gesellschaftsspiele wie »Mensch ärgere Dich nicht«, »Mühle« mit Opa und die einzigen beiden Spiele, die wir damals zu Hause hatten: Backgammon und Schach. Eine Sache, die ich immer genossen habe und wünschte, es hätte mehr davon gegeben, waren Reisen mit meiner Mutter. Wir hatten zwar nicht viel Geld, aber für schöne Urlaube hat sie gern etwas gespart. Ich erinnere mich an jeden einzelnen Trip. Im Jahr 1995 waren wir in Dänemark, zwei Jahre später habe ich zum ersten Mal den türkischen Teil meiner Verwandtschaft in Ankara und Antalya kennengelernt. 1998 besuchten wir Freunde in den USA, die beiden folgenden Jahre waren wir ebenfalls dort. Im Jahr 2000 besuchte ich in Atlanta mein erstes NFL-Spiel, Saints gegen Falcons. 2004 war ich mit meiner Mutter auf Mallorca.

Damals steckte ich in der rebellischsten Phase meines Lebens. Mit 14 hatte ich meine erste Freundin, und wie jeder andere Teenager auch war ich der Meinung, erwachsen genug zu sein, um zu machen, was ich wollte. Ich weiß noch, wie Nesrin einmal sagte, ich solle um 22 Uhr zu Hause sein. Und ich kann mich gut an die Enttäuschung in ihren Augen erinnern, als ich erst am nächsten Morgen um zehn vor der Tür stand. Auch wenn ich relativ viel Freiraum hatte: Kommunikation und Vertrauen waren ihre Bedingungen.

Grundsätzlich war ich als Jugendlicher aber kein großer Troublemaker. Natürlich baute ich Scheiße, brach nachts mit Kumpels ins Freibad Osdorf ein, um dort zu schwimmen oder kletterte auf Baugerüste, um von dort herunterzuspringen. Das übliche Zeug halt. Aber ich war nicht so der Partygänger. Mit der Reeperbahn konnte ich wenig anfangen, und auch in die damals bei uns schwer angesagte Disco Maxx in Wedel fuhr ich nur mit, weil ich nichts verpassen wollte. Mit Tabak und Alkohol hielt ich mich allerdings zurück, denn am nächsten Tag stand wieder das Gym auf dem Programm.

Mein einziges Erlebnis mit Zigaretten hatte ich in der sechsten Klasse, als nach der Schule alle hinten auf dem Schulhof heimlich rauchten. Einer fragte mich, ob ich auch eine wollte, und hielt mir eine Schachtel Marlboro light hin »Warum nicht, gib mal einen Zug«, sagte ich. Es schmeckte ganz anders, als es roch. Aber als ich dann an meinen Fingern schnupperte, rochen die sogar nach mehrmaligem Waschen noch so furchtbar nach Nikotin, dass ich Angst bekam, meine Mutter könnte etwas merken. Und weil ich wusste, wie enttäuscht sie gewesen wäre, war mein erster Zug gleichzeitig auch der letzte.

Von Alkohol hielt ich mich ebenfalls fern, auch wenn unsere Teenie-Discos und Geburtstagsfeiern mir immer Spaß machten. Aber wo Alkohol war, gab es Drama. In der sechsten Klasse fing es bei manchen mit Alkopops an. Alle um mich herum tranken ihren Smirnoff Ice. Ich fand, dass das ganz gut schmeckte, konnte aber nicht verstehen, was cool daran war, wenn regelmäßig irgendwer den Abend in eine Folge von »GZSZ« (»Gute Zeiten, schlechte Zeiten«) verwandelte oder kotzen musste. Je älter man wird, desto besser kennt man seine Grenzen. Zu einem guten Glas Wein sollte niemand Nein sagen müssen. Aber saufen bis zum Umfallen war nie meine Welt.

Ich war damals der vollen Überzeugung, dass nicht zu trinken und nicht zu rauchen den Unterschied ausmachen würde, um meine Ziele zu erreichen. Wenn mich bis heute jemand fragt, warum ich mir immer noch kein Bierchen gönne, antworte ich: »Ich habe als Jugendlicher damit angefangen, es zu lassen, und das hat für mich so gut funktioniert, dass ich es weiter durchziehe.«

Meine Schulzeit habe ich in zwiespältiger Erinnerung. Die Grundschule war voll okay. Ich war in der Klasse C an der Grundschule Wesperloh in Osdorf. C stand für cool, wie wir alle wissen, denn ich fand, dass wir die Coolsten waren und mit Frau Fitzl eine super Klassenlehrerin hatten. Als ich auf die Orientierungsstufe am Gymnasium Knabeweg kam, wurde es schwierig. In dieser Zeit fing die Schule an, mir komplett egal zu sein. Ich passte im Unterricht nicht auf, sondern laberte nur mit meinen Freunden. Das Einzige, was mir Spaß machte, war Sport. Leider hatte ich am Ende von Klasse sechs zu viele Vieren und Fünfen im Zeugnis, sodass es nicht fürs Gymnasium reichte.

Ich musste auf die Realschule Kroonhorst wechseln, mitten im Osdorfer Born. Kroonhorst war anders. Nach dem ersten Schultag gab es auf dem Schulhof eine Prügelei. Zwei Jungs schlugen derbe mit den Fäusten aufeinander ein. Um die hundert Kids standen drumherum, schauten zu oder feuerten sogar an. »Wo bist du hier bloß reingeraten«, dachte ich. Aber ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen und möglichst cool zu wirken.

Zwei Monate dauerte es, bis ich wusste, dass die Entscheidung für die Realschule Kroonhorst goldrichtig gewesen war. Auch wenn ich einen holprigen Start hatte, waren die Jungs in meiner Klasse alle Ehrenmänner beziehungsweise Ehrenjungs. Wir hatten eine überragende Klasse, eine richtig gute Gruppe, die zusammenhielt und in der es keinen Zickenkrieg zwischen Jungs und Mädchen gab. Über die Jahre wuchsen wir zu einer richtig engen Unit zusammen und wurden von kleinen Teenagern zu jungen Erwachsenen. Mit den meisten habe ich bis heute Kontakt. Zehn Jahre nach unserem Abschluss veranstalteten wir ein Klassentreffen, das super nice war.

Viele meiner besten Erfahrungen und Storys stammen aus dieser Zeit. Zum Beispiel unsere Klassenfahrt in der siebten Klasse, auf der ich meine erste Freundin hatte. Sie fragte mich: »Kasim, du hast schon mal ein Mädchen geküsst, oder?« Der nervöse 13-Jährige antwortete mit einem Fake-Grinsen: »Normal.« Ich sage euch: In dem Moment spürte ich mehr Druck als vor meinem ersten NFL-Spiel. Ein paar Tage, nachdem wir von der Klassenfahrt zurück waren, fragte sie mich, was los sei, sie hätte das Gefühl, ich beachte sie absichtlich nicht. Ich sagte: »Ich bin nicht bereit für eine Fernbeziehung.« Sie antwortete: »Kasim, du wohnst 15 Minuten entfernt, zwischen uns sind fünf Bushaltestellen.« Es ging mir wie den Seahawks an der Ein-Yard-Linie mit Marshawn Lynch im Backfield im Super Bowl gegen die Patriots: Der Moment war zu groß für mich. Nach neun Tagen war meine erste Beziehung beendet. Sie hat allerdings für immer einen Ehrenplatz in meinem Klassenfahrt-Märchen.

Ich glaube, Lehrer am Kroonhorst zu sein war damals nicht der beste Job unter der Sonne. Wir hatten nur einen Schüler ohne Migrationshintergrund in unserer Klasse, dazu mich. Der Rest der Bande kam aus Polen, Russland, der Türkei, Afghanistan, Syrien, Malaysia und so weiter. Wir hatten definitiv zu viel Spaß und waren ziemlich wilde Jungs. Wenn wir auf dem Schulhof zu viel Mist bauten, durften wir in den Pausen nicht mehr raus. Das dauerte aber meist nur zwei Tage, dann hatten wir drinnen so viel angestellt, dass wir auch nicht mehr in der Klasse bleiben durften. Und trotzdem hatten wir mit Herrn Kruse und Herrn Rennhack zwei Lehrer, die sich unglaublich für uns einsetzten. Den beiden war niemand egal, sie haben sich um jeden von uns gekümmert.

Es ist verrückt, was in der Zeit zwischen der siebten und zehnten Klasse abgegangen ist. Als ich in die Realschule kam, war ich fast noch ein Kind. Als ich sie verließ, war ich fast schon ein Mann. Die siebte Klasse war mein bestes Jahr, denn endlich waren meine Noten mal gut. Ich spürte, dass ich etwas erreichen konnte, wenn ich mir Mühe gab. Deshalb fing ich an, mehr in den Unterricht zu investieren. Ich muss Herrn Rennhack und Herrn Kruse tausendmal danken, denn sie wussten wirklich immer das Beste aus allen herauszuholen. Die langweiligsten Fächer wurden zu den besten Challenges. Schule machte auf einmal Spaß.

Natürlich blieb Sport mein Lieblingsfach. Wir waren eine sehr gute Sportklasse. Jedes Jahr gab es zwei Sporttage, an denen sich alle Klassen der Schule im Fußball und Basketball duellierten. Als erste siebte Klasse der Geschichte erreichten wir im Basketball das Finale. Zwar verloren wir am Ende, waren aber megastolz auf uns. In jedem meiner vier Realschuljahre zogen wir ins Finale ein, aber erst in der zehnten Klasse gelang uns der Sieg. Unsere Urkunde hängt noch heute in der Ahnengalerie der Schule.

Einmal schrieb ich eine Fünf im Diktat und war am Boden zerstört, weil ich mich sehr darauf vorbereitet hatte und es trotzdem in die Hose gegangen war. Da kam Herr Kruse zu mir und sagte, ich solle mir nicht den Kopf zerbrechen, schließlich habe jeder mal einen schlechten Tag. Er wisse ja, dass ich hart für die Schule arbeite.

In der achten Klasse hatte ich leistungsmäßig einen Durchhänger. Ich dachte, ich würde mit weniger Aufwand durchkommen, und ich wollte auch nicht dauernd besser sein als meine Klassenkameraden. Also schaltete ich einen Gang zurück. Herr Kruse und Herr Rennhack bemerkten das. Sie fragten mich, was ich später beruflich machen wolle. »Ich werde Footballprofi«, sagte ich. »Aber was, wenn das nicht klappt?«, fragten sie. »Doch, ich werde Footballprofi«, sagte ich, als könne es daran keinen Zweifel geben. »Aber du brauchst gute Noten, wenn du es nach Amerika schaffen willst, Kasim. Und wir wissen, dass du es besser kannst, als das, was du gerade ablieferst. Wir wissen, dass noch mehr in dir steckt, als du uns zeigst. Sich anzustrengen und gute Noten zu schreiben ist nichts, was dich in irgendeinem Sinn uncool macht, also gib ruhig Gas!«

Ich dachte darüber nach und stellte fest: Sie hatten recht. Von da an arbeitete ich wieder so hart, wie es nur ging. Es ist viel wichtiger, das Beste aus sich herauszuholen und sich treu zu bleiben statt sich zu verstellen und sich dabei zu verlieren. Zu kapieren, dass du nicht wirklich dein Leben lebst, wenn du nur versuchst, anderen zu gefallen, war eine wichtige Erkenntnis für mich. Dafür danke ich meinen Lehrern in Klasse 8 an der Realschule Kroonhorst. Diese Erkenntnis hat mir im Übrigen auch später bei manchen Weichenstellungen geholfen.