Kapitel 2 feat. Sebastian Schulz

Wie ich mich in den Football verliebte

Die meisten NFL-Spieler erklären gerne, wie ihnen Fußball, Basketball, Baseball oder Wrestling die notwendige Basis gegeben haben, um im Football erfolgreich zu sein. Wenn ich Menschen erzähle, dass ich vieles, was ich im Football erreicht habe, dem Kunstturnen verdanke, ernte ich meistens fragende Blicke. »Warum Turnen?« »Weil meine Mutter und meine Oma mich zum Turnen mitgenommen haben«, antworte ich dann. »Aber warum hast du als Junge geturnt?«, kommt dann oft zurück. Besonders in Amerika.

Deshalb sage ich es an dieser Stelle ganz deutlich: Turnen war die Grundlage für jeden Erfolg, den ich im Sport hatte. Die Beweglichkeit, Körperspannung und Koordination, die du dir beim Kunstturnen aneignest, werden weitgehend unterschätzt. Ich bin froh, dass Nesrin mich für Jahre zum Kinderturnen in der Halle im Osdorfer Born geschickt hat. Jeden Freitag ging es da rund, mir hat es sehr viel Spaß gemacht. Ich liebte es, mich jede Woche an neue Bewegungen heranzutasten und verschiedene Moves auszuprobieren.

Bis heute lasse ich mir keine Chance entgehen, irgendwo im Handstand zu stehen oder meinen Körper mit einer Radwende durch die Gegend zu wirbeln. Am Anfang traust du dir einen Vorwärtssalto nicht so leicht zu, aber wenn man sich einmal überwunden hat, ist man voll drin. Auch wenn ich ab und zu vergesse, dass ich ein 110-Kilo-Mensch bin und keine Feder: Meine Knie und mein Rücken haben kein Problem damit, mich daran zu erinnern.

Beim Turnen habe ich außerdem gelernt, richtig zu fallen. Einige meiner Football-Coaches haben diese Fähigkeit in Besprechungen vor dem Team hervorgehoben. »Edebali, that’s a great job falling!« Natürlich lachen die Jungs dann erstmal, wer will schon stolz darauf sein, beim Football hinzufallen? Was die Trainer meinen, ist die Fähigkeit, direkt nach dem Fallen wieder auf die Füße zu kommen. Während eines Footballspiels springen dir die Gegner in die Knie, während zwei weitere versuchen, dich auszuknipsen. Direkt wieder auf die Füße zu kommen statt nach einer Blutgrätsche auf dem Feld liegen zu bleiben, kann einen großen Unterschied machen. Hinfallen und wieder aufstehen, das ist im übertragenen Sinn auch eine Metapher für das Leben. Beim Kinderturnen lernte ich diese Grundlage. Ich würde es allen Eltern empfehlen, mit ihrem Nachwuchs zum Turnen zu gehen.

Immer einmal mehr aufstehen als zu Boden gehen – das ist auch der Grundsatz im Kampfsport. Und Kampfsport war in meiner Kindheit und Jugend meine zweite Leidenschaft. Meine Mutter trainierte Mitte der 1990er-Jahre Dacascos Kung-Fu. Allerdings fand ich Karate cooler und ging deshalb 1996 erstmals in die Kyokushin-Karateschule. Das Training war zweimal in der Woche, und ich war schnell heiß darauf, zu kämpfen.

Im Karate gibt es zwei Disziplinen: den Formenlauf Kata und den Zweikampf Kumite. Im Kata schaffte ich es bei den Hamburger Meisterschaften auf den vierten Platz. Kumite war härter.

Ich erinnere mich an meinen ersten Kampf. Ich bekam richtig auf die Nuss. Mein Gegner erwischte mich so hart auf dem Solarplexus, dass mir die Luft wegblieb. Die Trainer boten mir an, abzubrechen, aber zwischen dem Luftschnappen presste ich irgendwie heraus, dass ich nicht aufgeben wollte. Bis heute kann ich sehr schlecht aufgeben, auch wenn das manchmal die bessere Entscheidung wäre. Dank meiner Mom mangelte es mir nie an Selbstbewusstsein, und jede Niederlage gab mir noch mehr Motivation, besser zu werden.

Neben dem Karate gehörte mein Herz aber auch dem Boxen. Mein Onkel Ali hatte es im Faustkampf zum Hamburger Meister gebracht. Als ich 14 war, nahm er mich ins Krafthaus nach Schenefeld mit. Der Eigentümer und Coach hieß Jens Appel, und ich glaube, er weiß gar nicht, wie sehr ich zu ihm aufgeschaut habe und ihn als Trainer und Menschen bis heute schätze. Kennt ihr das Sprichwort »Home away from home«? Das Krafthaus war mein »Gym away from the gym«. Immer wenn ich nach Hause kam, ging es direkt nach Schenefeld zu Jens.

Onkel Ali ist ein Perfektionist. Für ihn ist die richtige Technik Voraussetzung, bevor man den ersten Schlag landet. Er weiß, dass es nicht auf rohe Gewalt ankommt, sondern auf die richtige Ausführung. Ich kann euch nicht sagen, wie oft ich das Wort »geschmeidig« gehört habe und auch Muhammad Alis Ausspruch »Float like a butterfly, sting like a bee«. Anders als (Onkel) Ali nahm mich Jens gerne mit in den Ring. Jeden Sonntag ging es mit meinem guten Freund und heutigen Sea-Devils-Teammate Miguel Boock, seinem Vater Helmut »Memo« Lässig und Jens zum Sparring. Einfach, damit ich nicht vergaß, dass es immer jemand Stärkeren gibt.

Meine Football-Mentalität habe ich mir durch das Boxen angeeignet. Genauso wie das Wissen, dass es nicht darauf ankommt, einen Hit mit maximaler Härte durchzuziehen, sondern mit sauberer Technik und Geschmeidigkeit. Nur die garantiert ein optimales Resultat. Beim Boxen kommt die Schlaghärte aus den Beinen und der Hüfte, und genau das gilt auch für Football. Ob auf der Highschool, im College oder in der NFL – ich war nie der Stärkste. Aber wenn deine Technik präzise ist, kannst du trotzdem der Beste sein, denn um den Gegner bestmöglich zu hitten, kommt es auf das perfekte Zusammenspiel von Technik und Kraft an.

Boxen ist in meinen Augen zudem die beste Schule für Gelassenheit und Konzentration. Alle Sinne müssen in jeder Sekunde geschärft sein, denn dir steht jemand gegenüber, der dich mit seinen Fäusten ins Schlummerland schicken will. Oder mit den Worten von Mike Tyson: »Jeder hat einen Plan, bevor er ins Gesicht geschlagen wird.« Mit der Balance zwischen Gelassenheit und Aggressivität verhält es sich genau wie beim Football. Selbst wenn du ab und zu einen ins Gesicht bekommst, musst du konzentriert bleiben und deinen Plan weiterverfolgen. Ich kenne genügend Footballspieler, die ihren Plan nach dem ersten Hit über Bord werfen.

Ob der Passrush-Gameplan meines Coachs als Defensive End oder der Box-Gameplan von Onkel Ali – beide waren fast identisch. Die ersten drei Runden tastest du dich ab und schlägst mit einem schnellen Jab – im ersten Quarter schaust du, wie der Gegner auf deinen Speed Rush reagiert. Die nächsten Runden gehst du zum Körper und verteilst Bodyshots, die dem Gegner schmecken – im zweiten Quarter kennt er deinen Speed, also gibst du ihm Powermoves. In der zweiten Kampfhälfte attackierst du ihn aus ungewohnten Winkeln, wechselst die Auslage und bereitest deinen Knock-out-Punch vor – in der zweiten Spielhälfte weiß der Gegner nicht, ob Speed oder Power kommt, und du lässt ihn im Ungewissen.

Sobald er zu wissen glaubt, was kommt, gibst du ihm etwas anderes: Knock-out! Two-Minute-Warning, die Offense hat den Ball und die Defense braucht ein Big Play. Der Quarterback steht acht Yards tief mit dem Ball und denkt, er hat Zeit zu werfen. Der O-Liner denkt, er weiß genau, was kommt: Spin Move, Quarterback-Sack, Game over! Wie oft habe ich Ali dafür im Stillen auf dem Footballfeld gedankt!

Auch in Einzelsportarten wie Tennis, Boxen oder Karate ist es wichtig, ein gutes Team zu haben, um dich weiterzuentwickeln. Aber American Football hatte auf mich eine magische Anziehungskraft. Die erste Weisheit, die ich im Team lernte, hieß: »Allein bist du schnell, zusammen gehst du weit!« Mein Interesse an verschiedenen Sportarten wuchs. Speziell nach 1998. Jedes Kind wollte nach dem Hype bei der Fußball-WM in Frankreich die Nummer neun sein wie das Phänomen Ronaldo. Und im gleichen Jahr holte sich Michael Jordan seinen sechsten NBA-Ring.

Das Funkeln in meinen Augen brachte Nesrin dazu, vor dem Turnen jeden Freitag mit mir auf den Platz vor der Sporthalle zu gehen und mir Basketball beizubringen. Sternschritt, Korbleger – mein erster Traum war, wie Jordan in der NBA durch die Luft zu fliegen und den Ball in den Ring zu stopfen. Wenn in der Schule im Sportunterricht Basketball gespielt wurde, kamen alle Jungs in normalen Sporthosen und -shirts. Für mich war Sportunterricht mein persönliches NBA-Finale. Kopfband, Jordan-Sneakers, Shooter-Sleeve und ungefähr 21 weitere Schweißbänder und ich war bereit, jeden Move herauszuholen, den ich bei YouTube gesehen hatte. »Kann bitte jemand Footlocker seine Schaufensterpuppe zurückgeben«, hieß es dann. Auch wenn es mit der NBA nicht klappen sollte, ist die Liebe zum Basketball noch immer vorhanden.

Mein Weg in den Football begann 1999. Ein Freund meiner Mom spielte damals bei den Hamburg Huskies. Nachdem ich mir das erste Mal ein Livespiel angesehen hatte, wollte ich direkt einen Helm und eine Rüstung anziehen. Im Sommer 1999 waren Muddi, er und ich im Hamburger Stadtpark. Dort trainierten auf einer großen Wiese die Flag Devils. Für mich war das überwältigend, die Männer sahen aus wie eine amerikanische Armee-Unit. Im Herbst ging ich mit besagtem Freund zum ersten Mal zum Training bei den Huskies. Auch wenn das Team dort eher aussah wie die Unit von Major Payne, war es Liebe auf den ersten Blick! In meinem ersten Training produzierte ich gleich eine Interception, weil ich den Ball, nachdem ich ihn gefangen hatte, direkt zum Gegner weiterreichte: Aber beim kleinen dicken Kasim hatte es gefunkt. Und so nahm alles seinen Lauf.

Damals gab es im Jugendfootball noch eine Altersgrenze: Erst mit 15 durfte man Tackle Football spielen, vorher war Flag Football angesagt. Ich bekam das Shirt mit der Nummer 42. Mit der 42 verband ich nichts, aber hey, Hauptsache, ich hatte ein Shirt! Ich war 1,45 Meter groß, 60 Kilo schwer, durch meine Erfahrungen beim Karate und Turnen recht athletisch, sah aber dank Fastfood und Süßigkeiten nicht so aus. Ich konnte offenbar ganz passabel im Weg stehen, also wurde ich als Middle Linebacker eingesetzt. Das ist das Schöne am Football: Für jeden gibt es eine Position, auf der er sich nützlich machen kann. Egal, ob du klein, groß, dick, dünn, schnell oder langsam bist – in der Football-Familie findet jeder seinen Platz.

Mein erstes Scrimmage fand im Frühjahr 2000 bei den Kiel Baltic Hurricanes statt. Ich war mit allem komplett überfordert. Es war einfach zu viel für mich. Aber ich war bereit, zu lernen und Gas zu geben. Als es nach dem Wintertraining in der Halle raus auf den Trainingsplatz am Steinwiesenweg in Hamburg-Eidelstedt ging, war es Zeit für mein allererstes Paar Stollenschuhe. Nike? Reebok? Adidas? Nein, 60 Prozent Rabatt auf schwarzweiße, namenlose Stollenschuhe für 19,99 D-Mark. Stolz wie Oskar wollte ich meine neuen Schuhe gleich zur Schule anziehen, aber Nesrin hinderte mich daran.

»You don’t have to get ready if you are always ready.« Ich war jederzeit bereit für jeden Football-Drill. Auf Maulwurfshügel war ich allerdings nie vorbereitet. Im Football wird Distanz in Yards gemessen, aber auf dem Platz am Steinwiesenweg hieß es statt »ten yards back« immer »ungefähr zwei Maulwurfshügel zurück«.

Bei meinem ersten Training im Freien gab das Hamburger Wetter wieder mal alles. Es war dunkel und windig, es regnete von allen Seiten. Das Flutlicht dagegen kam nur von einer Seite, aber ich hatte einen Mordsspaß und wusste: Das ist mein Sport. Mit Jens Schuster hatte ich zudem den besten ersten Trainer, den ich mir hätte wünschen können. Es ist höllisch viel Arbeit, elf- und zwölfjährigen Kindern Football beizubringen. In der NFL musst du Dinge zehnmal sagen, bis sie einmal klappen. Beim Jugend- und Flagfootball musst du es tausendmal sagen. Aber Jens liebte den Football so sehr, dass er die Geduld dafür aufbrachte. Er und sein Kollege Neil Sintim-Aboyage waren meine ersten Vorbilder.

Ich erinnere mich an das erste Trainingslager vor dem Saisonstart. An dieses Kribbeln im Bauch jeden Morgen und vor jeder Trainingseinheit. An die Nervosität, alle Spielzüge aus dem Playbook in- und auswendig zu kennen. Auch wenn es nur vier statt der hundert in der NFL waren – damals war es einfach pure Freude.

Ich hoffe, es liegt nicht an den Tausenden Hits, die ich in meinem Leben abbekommen und ausgeteilt habe, aber an die ersten Jahre mit den Huskies habe ich nicht mehr viele Erinnerungen. Allerdings erinnere ich mich noch daran, wie stolz ich war, zu den Flag Huskies zu gehören. Der Einzige, der noch stolzer war als ich, war mein Opa. Er brachte mich damals oft zum Training. Wenn ich ihn anrief, liefen unsere Gespräche immer nach demselben Muster: »Opa, ich muss zum Training, glaubst du, du kannst mich fahren?« »In 30 Minuten da«, antwortete er mit dem stärksten türkischen Akzent, den ihr euch vorstellen könnt. Jedes Mal war er auf die Sekunde genau schon nach 20 Minuten da. Umso erstaunlicher, da die ganze Stadt für ihn eine Tempo-30-Zone zu sein schien. Sein Motto: »Lieber langsam fahren als nie ankommen!«

Ein bis zwei Schachteln Zigaretten am Tag waren für meinen Opa normal. In seinem grünen Corsa roch es wie in einer finsteren Kiezkneipe. Nur wenn ich mit im Auto saß, ließ er die Hände von den Kippen. »Kasim, diese Luft nicht gut, du musst gesund bleiben«, sagte er. Insbesondere in meiner Jugendzeit wurde ich oft von anderen Jungs nach Zigaretten gefragt. »Du riechst wie ein Aschenbecher, erzähl doch nichts«, sagten sie, wenn ich ihnen antwortete, ich sei Nichtraucher. Egal, was man im Auto anfasste, den Geruch wurde man tagelang nicht los. Aber mich störte das nicht. Ich liebte die Fahrten mit meinem Opa.

Nachdem ich 2001 zwölf Jahre alt geworden war, hatte ich endlich meinen ersten Wachstumsschub. Ich knackte die 160 Zentimeter, wurde größer, schneller und stärker. Ich wurde zu einer neuen Version meiner selbst und entwickelte mich zu einem wichtigen Bestandteil der Flag Huskies. Damals wurden die Grundprinzipien meines Lebens geschaffen: Freundschaft, Loyalität, Teamgeist, Disziplin. Das Miteinander im Verein war überragend, zu jedem Heimspiel zauberten die Eltern ein Büffet mit Corny-Schokoriegeln, Äpfeln, Orangen und einem Jahresvorrat an Gatorade, sodass ich manchmal gar nicht wusste, ob ich wegen des Spiels hinfuhr oder wegen des Essens.

Wer den Film »Little Giants« kennt, bekommt eine Ahnung davon, wie es bei uns zuging. Wir waren bei Weitem nicht das beste Team, aber wir hatten auf jeden Fall den meisten Spaß. Spaß stand bei den Hamburg Flag Huskies immer im Mittelpunkt.

Damals hatte ich eigentlich ständig einen Football dabei. Ich war verrückt nach dem Sport, wollte immer und überall den Ball werfen. Zweimal in der Woche wurde trainiert. Meinetwegen hätte es jeden Tag sein können. Nur das Lauftraining war nichts für mich. Wenn wir am Steinwiesenweg Runden drehen mussten und der Letzte die gesamte Gruppe im Sprint überholen sollte, hätte ich mich am liebsten irgendwo im Busch versteckt.

In Sachen Fitness hatte ich noch Luft nach oben. Für die Hamburger Flag-Auswahl reichte es zum Glück. 2002 erhielt ich zum ersten Mal die Einladung zum Try-out. Ich schaffte 15 Push-ups, andere pumpten locker 50. Trotzdem wurde ich ins Team berufen und war sehr stolz, zu den besten Spielern Hamburgs zu gehören.

Selbstbewusstsein ist im Football sehr wichtig, gerade in jungen Jahren. Ein Zitat von Konfuzius hat mir auch später oft geholfen: »Der Mann, der sagt, er kann es, und der Mann, der sagt, er kann es nicht, haben beide recht.« Ich wollte im Huskies-Team der Go-to-Guy sein und änderte meine Trikotnummer von 42 auf 1. Nach dem Vorbild von Arnold Schwarzenegger mit seinem berühmten Spruch »Arnold is Numero Uno«, wollte ich das gleiche Statement setzen, wenn unsere Gegner die Nummer 1 der Huskies zu Gesicht bekamen.

Zum Glück schienen auch die Coaches mit meiner Entwicklung zufrieden zu sein und trauten mir Schritt für Schritt zu, Playmaker zu werden. Weil ich weit werfen konnte, wurde ich 2003 Quarterback. Ich konnte zwar nur zwei Routen werfen, tief oder Hitch, aber das genügte, um meine Mitspieler in Szene zu setzen. Mein QB-Coach war Marcus Kück, der bei den Elmshorn Fighting Pirates spielte. Die Coaches aus dem Tackle-Jugendteam suchten nach Talenten, und so lernte ich Coach Schulz kennen, der ab und an beim Flag-Team aushalf. Sebastian Schulz spielte im Herrenteam der Huskies als Defensive Back. Ich schaute mir damals so oft wie möglich die Herrenspiele an und wusste deshalb, wer er war. Und ich freute mich natürlich, dass er ein Auge auf mich geworfen hatte.

Obwohl er erst 45 Jahre alt ist, kann Sebastian Schulz auf fast 25 Jahre Erfahrung im Coaching zurückblicken. Seit 2001 ist der Bauingenieur Cheftrainer der U19 der Hamburg Huskies. In über 20 Jahren hat er eine Reihe an Talenten kommen und gehen sehen. Er kann einschätzen, ob jemand das Potenzial besitzt, Football zu mehr als einem Hobby werden zu lassen. »Kasim habe ich damals direkt wahrgenommen, weil sich sehr schnell zeigte, dass er ein Leistungsträger werden würde. Er war anfangs zwar der Jüngste und Kleinste, aber man konnte sehen, dass er ein natürlicher Athlet war, der das Talent mitbrachte, Spielsituationen ein paar Sekunden vorauszuahnen. So etwas kann man sich nur sehr schwer aneignen. Man hat es oder nicht, und er hatte es«.

Sebastian Schulz war mit den Flag-Trainern der Huskies befreundet. Ab und an half er im Training aus. Er sah bei den Spielen des Teams zu – und konnte auf diese Art Kasims Entwicklung verfolgen. »Kasim war ein freundlicher und offener Typ, ohne jegliche Berührungsängste. Keiner, der Erwachsene grundlos vollquatschte. Er wollte lernen, fasste neue Inhalte sehr schnell auf und setzte sie um«, sagte er. So wurde aus dem Spieler, von dem man anfangs gedacht hatte, er sei als Middle Linebacker am besten aufgehoben, innerhalb recht kurzer Zeit »ein Anführer mit Ballkontrolle, der sich schnell in Richtung Baller entwickelte. Kasim hatte ein sehr gutes Gefühl für Räume, er wusste, wo er stehen oder den Ball hinwerfen musste, um das Play zu machen«.

Mit 15 wechselte Kasim vom Flag Football in die A-Jugend, die von Sebastian Schulz trainiert wurde. Und auch dort entwickelte er sich rasch zum Anführer der Mannschaft. »Als Trainer spürst du, wenn du Spieler hast, die Mannschaften aus Krisensituationen führen können. Wenn das Team 50:0 gewinnt, sind alle Superstars. Aber wenn du 0:20 hinten liegst? Wer ist dann bereit, den Karren aus dem Dreck zu ziehen? Kasim war dieser Typ Spieler.« Das Team habe Kasim schnell als Anführer akzeptiert. »2005 hat er bei einem Spiel in Dresden einen Gegenspieler gehurdled, als darüber noch gar nicht geredet wurde. Da stand vielen seiner Teammates der Mund offen. Sie spürten: Dieser Junge kann den Unterschied machen«, erinnert sich der Coach.

Kasim für die Nationalmannschaft zu empfehlen, obwohl er mit 16 eigentlich noch mindestens ein Jahr zu jung war, sei deshalb eine logische Folge gewesen. »Eigentlich dachten wir, sie würden ihn vielleicht als Back-up-Quarterback nehmen. Als wir hörten, dass sie ihn zum Tight End gemacht hatten, überraschte uns das zunächst, weil er nicht ein einziges Mal bei uns Tight End gespielt hatte. Aber wir waren uns sicher, dass er seinen Weg machen würde.«

Mit Blick auf Kasims Zukunft in der NFL sagt Schulz: »Damals war eine Karriere in den USA für deutsche Spieler überhaupt kein Thema. Es gab keine Programme wie heute, es gab kein Scouting, in den USA nahm niemand überhaupt Notiz davon, dass es in Deutschland talentierte Jungs gab. Das hat erst die NFL Europe verändert. Deshalb sei Kasims Schritt, es über die Highschool und das College zu versuchen, sehr mutig gewesen, aber auch genau richtig. »Denn solche natürlichen Athleten wie ihn gibt es auch drüben nicht an jeder Straßenecke.«

Über die Jahre habe er bei den Huskies eine Handvoll Jungs mit ähnlichem Potenzial trainiert. »Aber keiner hatte diese intrinsische Motivation zum Sporttreiben wie Kasim, gepaart mit Athletik, Talent und den körperlichen Voraussetzungen.« Als Kasim in die USA ging, blieb der Kontakt mit Coach Schulz über die Entfernung bestehen. »Wir haben auf der Internetseite der Huskies eine eigene Rubrik geschaffen, in der wir über seine Karriere berichteten. Alle sollten verfolgen können, wie es ihm ergeht.«

Heute ist Kasim Vereinslegende der Huskies. Der im Jahr 2021 eingeweihte Kunstrasenplatz auf der Anlage an der Öjendorfer Höhe trägt den Namen Kasim-Edebali-Field. »Er ist ein Idol, zu dem alle aufschauen. Er ist ein Vorbild für alle, die von einer Footballkarriere träumen. Das Gute ist, dass er kein abgehobener Star ist, sondern keine Berührungsängste kennt. Wenn er da ist, dauert es nur wenige Minuten, bis aus dem Superstar Edebali der Kasim von nebenan geworden ist. Das schätze ich sehr an ihm«, sagt Sebastian Schulz.

Er selbst hat Kasim in Boston besucht, als dieser im zweiten College-Jahr war. »Ich habe ihn am ersten Abend gefragt, wo man denn gut essen könne. Er antwortete: Keine Ahnung, ich war noch nie außerhalb von meinem Campus! Das zeigt, was für ein Typ er ist – er konzentriert sich voll auf den Job, den er zu erledigen hat.« An einen Burgerladen erinnerte sich Kasim dann doch. Sie gingen vom Campus herunter, immer an den Bahngleisen entlang – bis sie vor einer Bude standen, »die in Deutschland das Gesundheitsamt dicht gemacht hätte. Aber Kasim sagte, die Burger seien top, besonders der Godzilla Burger. Ein Hammerteil mit mehreren Patties und Käseschichten. Das Fett lief schon heraus, wenn du ihn nur angehoben hast. Mit zwei Bissen hatte man 10.000 Kalorien im Körper. Kasim aß seinen auf und fragte mich dann, ob er meine Reste haben könne«.

Ein besonderes Ritual pflegen Kasim und Sebastian Schulz bis heute. Immer, wenn Kasim aus den USA landet, ruft er als Erstes seinen alten Coach an. »Hi, Coach Schulz, wann ist Training?«, lautet seine erste Frage. Während der Highschool-Zeit durfte Kasim nicht nur mittrainieren, sondern auch für die Huskies spielen. »Im dritten College-Jahr musste ich ihm dann aber sagen, dass er nicht mehr im Tackle-Training einer deutschen U19 mitmachen darf. Von da an hat er dann selbst Einheiten geleitet. Das macht er bis heute.«

Welche Rolle er seinem Playmaker von einst nach dessen Karriereende zutraut? »Kasim will den Football in Deutschland nach vorn bringen. Das geht aber nur, wenn es gelingt, die Basis deutlich zu verbreitern und den Sport tiefer in die Gesellschaft zu tragen. Es nutzt nichts, eine Profiliga zu installieren und einzelne Teams groß und reich zu machen. Wir müssen die breite Masse davon überzeugen, was Football für ein geiler Sport ist. Und wenn das einer kann, dann ist es Kasim.«

Unser größter Rivale zu Jugendzeiten waren natürlich die Hamburg Blue Devils. Bis heute bringe ich im Huddle den Spruch »One, two, three – Devils« kaum über die Lippen. Bei mir heißt es immer »One, two, three – Team«. Bei den Devils spielte Dennis Kuschinski, die absolute Granate der Hamburger Football-Jugend. Ihn zu schlagen, das war mein größter Wunsch. 2003 waren wir nah dran. Bis zur Halbzeit war es sehr eng, aber es reichte nicht. Also mussten wir warten.

2004 sollte mein letztes Flag-Jahr werden, bevor ich in die A-Jugend kam und Tackle-Football spielen durfte. Ich brannte an beiden Enden, denn natürlich wollte ich mich mit einem Titel verabschieden. Ich war damals schon 1,82 Meter groß und spielte als Quarterback. Unser Auftaktspiel hatten wir in Allermöhe gegen die Hamburg Swans, was für mich deshalb etwas Besonderes war, weil meine damalige Freundin bei den Swans als Middle Linebacker spielte (im Flag Football sind die Teams noch gemischt). Wir räumten alles aus dem Weg, schlugen zum ersten Mal die Devils – und standen im entscheidenden Spiel um die Qualifikation für die deutsche Meisterschaft den Lübeck Cougars gegenüber.

Deren Topmann war Julian Dohrendorf, der 2010 als Receiver mit den Kiel Baltic Hurricanes deutscher Meister wurde. Uns beide verband eine besondere Beziehung. Wir waren erbitterte Rivalen, wir mochten einander, wollten den anderen aber unter keinen Umständen gewinnen lassen. Er war deutlich athletischer als ich und in seiner Entwicklung weiter, obwohl ich zwei Monate älter war. Für die Zuschauer war es ein Spiel, wie man es sich wünscht – viele Big Plays von beiden Seiten und eng über vier Quarter. Am Ende verloren wir leider, und die Cougars durften zur deutschen Meisterschaft. Damit endete meine Flag-Football-Karriere, ohne einen einzigen Titel.

Trotzdem war diese erste Zeit im Football im Rückblick großartig. Wir hatten den Spaß unseres Lebens und wuchsen als Team zusammen. Auch wenn der Kontakt nach all den Jahren nicht mehr so eng ist wie damals, die Emotionen und die Geschichten, die wir miteinander erlebt haben, werden ein Leben lang halten. Jungs wie Orhan Yaldiz oder Maurizio Lobo Tiritarelli waren wie große Brüder für mich. Es ist immer etwas ganz Besonderes, wenn man sich reconnected. So wie mit meinem Grundschulkameraden und Flag-Teammate Chris Nendel. Dass Chris 2021 mit seinem Sohn ein Sea-Devils-Spiel besuchte, bedeutete mir sehr viel. Beide saßen mit Edebali-Jerseys mit der Nummer 91 auf der Tribüne, um Onkel Kasim anzufeuern. Eine meiner schönsten Erinnerungen der ersten Sea-Devils-Saison ist, wie ich nach dem Spiel mit seinem fünfjährigen Sohn auf dem Feld ein paar Bälle warf und mich zwanzigmal von ihm tacklen ließ. Das sind die Momente mit Familie oder Freunden, an die ich mich immer erinnern werde.

Die vier Jahre Flag Football haben aus mir einen selbstbewussten Sportler gemacht, dem die Zukunft zu Füßen lag. Als ich mit meiner Mutti Helm und Pads kaufte, um für meinen Start im Tackle-Team von Sebastian Schulz ready zu sein, war ich mir ziemlich sicher, dass ich eigentlich nicht mehr viel zu lernen hatte. Was sollte mich schon aufhalten? Es sollte nicht lang dauern, bis ich die Antwort darauf kannte.