Kapitel 3 feat. Björn Werner

Mein Weg in den Leistungssport

Highschool, College, NFL – ich habe genug erlebt, um mein Märchenbuch zu schreiben. Ich habe Schmetterlinge im Bauch, wenn ich über meine Zeit in der Jugend der Hamburg Young Huskies erzählen kann. Es waren nur drei Jahre zwischen 15 und 16. Allerdings steckten sie voller Lektionen, Erfahrungen und Weiterentwicklungen. Pure Emotionen, Herzblut, Höhen und Tiefen haben die Grundlage für meine Footballkarriere gelegt. Alles, was ich in dieser Zeit erlebt habe, war wie ein Teaser für das Leben, das danach kommen sollte.

In meinem letzten Flag-Football-Jahr musste ich ohne meine besten Kumpels Orhan Yaldiz und Maurizio Tritarelli auskommen. Die beiden waren ein Jahr älter als ich und deshalb schon zum Tackle-Football gewechselt. Obwohl Orhan erst ein Jahr spielte, war er schon unser Anführer. Er sah aus wie eine perfekt gemeißelte Marmorstatue, nicht aus Griechenland, sondern made in Turkey. Ein bisschen Tarkan und eine große Portion Herkules – Orhan wirkte wie eine Mischung aus Supermodel, Türsteher und Footballspieler. Die Baltimore Ravens hatten Ed Reed, die Pittsburgh Steelers Troy Polamalu und die Flag Huskies Orhan Yaldiz.

Jeder Footballfan kennt ein bis zwei Quarterback-Receiver-Duos. Steve Young und Jerry Rice; Kurt Warner und Isaac Bruce; Matt Ryan und Julio Jones. Mauri und ich wollten das für die Flag Huskies sein. Wir waren zwar nur 1,70 und 1,62 Meter groß, hatten aber einen starken Willen. Es gab kein Wochenende, an dem wir nicht Zeit miteinander verbrachten. Jede Route im Playbook versuchten wir auf der kleinen Wiese vor meiner Haustür zu perfektionieren. Wir lebten und atmeten Football, und natürlich war es nicht ganz einfach, auf einmal ohne die beiden Jungs auskommen zu müssen.

Trotzdem war mein letztes Flag-Jahr sehr wichtig für meine Entwicklung. Körperlich reifte ich endgültig vom Kind zum Jugendlichen, und ich lernte, was erforderlich ist, um eine Mannschaft mitzureißen. Bei der Hamburger Flag-Auswahl war Andreas Nommensen mein Headcoach; der Mann, der vergangene Saison auch bei den Sea Devils mein Hauptübungsleiter war. Nommi war ein superentspannter Typ, und es nervte ihn, dass wir als Mannschaft keinen Spaß am Spiel zeigten. »Kasim, sieh mal zu, Rakete! Zeigt mal, dass ihr Spaß habt und freut euch über die kleinen Dinge«, sagte er zu mir. Und er hatte recht.

Also überlegte ich, was ich machen könnte, um die Mannschaft mitzureißen. Kurz vor Spielbeginn rief ich das Team zum Huddle zusammen, kniete mich in die Mitte und öffnete die Schleife meines Schuhs, der nicht mehr von Deichmann war, sondern freshes NFL-Equipment von Reebok. Allgemeine Verwirrung. Ich sagte: »Passt auf: Wir gewinnen und verlieren zusammen. Alles, was wir tun, tun wir zusammen! Touchdown, First Down, Tackle oder Block, wir feiern jetzt alles, was wir machen. Und hiermit fängt es an.« Ganz langsam begann ich, meine Schleifen zu binden. Die Reaktion? Lautes Klatschen und High Fives. Die Hälfte der Kids war noch nicht mal im Stimmbruch, aber innerhalb von 30 Sekunden sorgten sie für Stimmung wie in einem WM-Finale. Alles nur wegen dieser blöden Schleifen! Die Energie war völlig aufgeladen. »One, two, three – Hamburg«, brüllten wir, und plötzlich hatten wir einen Vibe, einen zusätzlichen Gang, der uns durch das Spiel trug.

Unglaublich, dass das funktionierte. Nommi hatte einfach recht gehabt. Bis heute bin ich ihm für diese Lektion dankbar, da ich nicht nur im Football, sondern in meinen gesamten Leben versuche, auch die kleinsten Dinge zu zelebrieren. Abfeiern, als hättet ihr einen Super Bowl gewonnen, nur weil ihr das Geschirr abgewaschen habt, kann für komische Blicke sorgen. Aber ich sage: Good job, macht weiter so. Egal, wie klein ein Erfolg auch ist, zelebriert ihn.

Mit dieser Einstellung ging es dann endlich in die Jugend zum Tackle Football. Orhan und Mauri hatten ihre Rookie-Saison schon hinter sich. Orhan als Safety, Mauri als Middle Linebacker. Beide hatten sich direkt als zwei der besten Spieler etabliert. Ich dachte: »Wenn die Jungs das packen, dann kriege ich das auch hin.« Aber dem war nicht so. Ich hatte zwar das Selbstbewusstsein, aber es fehlte mir an physischer Power. Erstes Training in der Halle, Oklahoma Drill. Beziehungsweise deutsche Schule, bei uns wurde »geschädelt«. Fünf Yards voneinander entfernt, full speed Kopf gegen Kopf. Wer stehen blieb, gewann, der Verlierer bekam eine Aspirin. Gegen Mauri sah ich aus wie ein Wischmopp. Nach jedem Zusammenprall rutschte ich über den Hallenboden. »Nicht lang schnacken, Kopf in Nacken«, waren meine einzigen Coaching Points in den ersten Wochen. Ob das gesund war, weiß ich nicht. Aber ich habe viel gelernt.

Mein Spitzname beim Flag war Shakira, weil ich mit meinem Hüftschwung dafür gesorgt hatte, dass keiner meine Flagge ziehen konnte. Doch jetzt ähnelte ich in den ersten Wochen eher diesen einbeinigen Luftpuppen. Mir fehlte der Körper, daran gab es keinen Zweifel. Und so fiel ich zum ersten Mal in ein kleines Loch. In dieser Zeit hatte ich eine Freundin, die mit meinem Sport nichts anfangen konnte. Ich ließ das Training schleifen und hätte vielleicht den Anschluss verpasst, wenn mich Orhan und Mauri nicht zurück in die Spur gebracht hätten.

Für meine erste Rookie-Saison hatte mich Coach Schulz als Outside Linebacker eingeplant. Mit meinem schwarzen Jersey mit der Nummer 56 sah ich aus wie eine Olive auf vier Zahnstochern. In den ersten beiden Spielen nahm ich mir vor, nicht zu tacklen, sondern einfach im Weg zu stehen und jemanden mit mir zu Boden zu ziehen. In Spiel drei waren wir bei den Braunschweig Lions zu Gast, auf einem ranzigen Feld, das nur 80 Yards lang war. Im dritten Quarter sagte Coach Schulz zu mir: »Kasim, mach mal den Quarterback, ich will sehen, was du draufhast!« Mein Herz raste, denn ich wusste: Das hier ist nicht mehr Flag Football, wo dir der Gegner deine Flagge aus dem Gürtel ziehen will. Hier wurde weitergespielt, wenn nicht gerade der Knochen rausguckte.

Der angesagte Spielzug war 92 Flat. Die 90 stand für Three-Step-Drop, die 2 für eine Slant-Route des ersten Receivers, und Flat war die Ansage für den Laufweg des zweiten Receivers. Goldene Regel für den Quarterback: Starre nie deinen Receiver an, sonst verrätst du sofort, wohin der Ball geht. Ich bekam den Ball, ging drei Schritte zurück – und starrte meinen Receiver an. Mein Wurf erinnerte an einen Fast Pitch im Baseball, Präzision ist etwas anderes. Receiver Nummer eins fing auf seiner perfekt gelaufenen Slant Route. Geschafft! Ich entspannte mich und wollte abfeiern. Dumme Idee, sehr dumme Idee! Der Hit traf mich in dem Moment, als die Spannung aus meinem Körper entwich. In der NFL gäbe es dafür heute eine Strafe, im deutschen Jugendfootball gab es ein Lob vom Trainer. Mein Kopf und mein Helm steckten im Rasen, mein Hintern zeigte Richtung Himmel. Aber ich hatte den Ball an den Mann gebracht, und Coach Schulz ließ mich über die Saison immer wieder mal Quarterback spielen. Meinem Selbstvertrauen tat es gut, dass der Trainer mir vertraute.

Der Moment, in dem es bei mir klickte, kam Mitte der Saison. Wir spielten im Stadion Hoheluft gegen die Lübeck Cougars, die unsere einzige Herausforderung darstellten. Ich war Linebacker. Dritter Versuch und lang, wir spielten eine Zonenverteidigung und ich sollte die kurze Zone an der Seitenlinie spielen. Ich machte alles falsch, was man in der Passverteidigung falsch machen kann. Und trotzdem: Der Quarterback war unter Druck, lief hin und her und warf den Ball einfach, in der Hoffnung, ihn an den Mann zu bringen. Ich stand zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Interception! Ich fing den Pass und lief einen 60-Yard-Return-Touchdown.

An der Seitenlinie sah ich unseren Linebacker-Coach Timo Aden neben mir das Feld heruntersprinten. Bis heute verstehe ich nicht, wie dieser Mann schon in der Endzone auf mich warten konnte, bevor ich sie erreichte. Die Freude meiner Coaches und meiner Teammates bedeutete in diesem Moment die Welt für mich. Endlich hatte ich das Gefühl, emotional und als Spieler den Anschluss gefunden zu haben. Groß, schnell und stark zu sein, macht dich glücklich, aber das Vertrauen deiner Mitspieler zu haben, übertrifft alles. Ein Vertrauen, das über die Linien des Felds hinausgeht. Du weißt genau: Egal in welcher Situation auf dem Platz oder im Leben, der Mann neben dir ist für dich da und gibt alles für dich. Dieser Touchdown war der Moment, in dem ich dieses Vertrauen gewonnen hatte.

Gegen Ende meiner ersten Jugendsaison wurde ich zur Hamburger Auswahl eingeladen. Als Quarterback-Backup für Florian Voss, der heute bei den Sea Devils unser QB-Coach ist. Mehr Hamburg konnte eine Truppe nicht sein. In unserer Umkleide konntest du locker sechs Sprachen raushören. Sehr viel Liebe und Herz mit einem Hauch Asi – das wäre wohl die beste Beschreibung für diese Gruppe gewesen, die unser Headcoach, die Blue-Devils-Legende Max von Garnier, irgendwie unter Kontrolle zu bringen versuchte.

»Hotstepper« von Ini Kamoze wurde zu unserer Hymne. Wir erreichten das Finale des Länderpokals und spielten in Berlin gegen NRW. Im zweiten Viertel wurde Florian Voss unglücklich erwischt und ging so hart zu Boden, dass er ins Krankenhaus gebracht werden musste. Als Back-up bekommst du deine Chance nie dann, wenn du es erwartest. Aber nun hatte ich die Gelegenheit zu zeigen, dass ich auch mit den besten Jungs im deutschen Jugendfootball mithalten konnte.

Die NRW-Jungs waren größer, stärker und schneller als alles, was ich bis zu diesem Zeitpunkt gesehen hatte. Mein erster Pass tief über 20 Yards ging trotzdem ins Ziel. Wir lagen ein paar Touchdowns zurück, und ich war bereit für das Traumcomeback des Jahres. Deutschlandweit würden die Medien berichten, wie Rookie-Quarterback Kasim Edebali das Spiel gedreht hatte. Doch das Einzige, was sich drehte, war mein Kopf im nächsten Spielzug, als mir ein Gegenspieler ungeblockt in den Rücken sprang. Interception! Viel lief danach nicht mehr bei uns, wir verloren deutlich.

Die MVP-Trophäe für Hamburg gab ich direkt an Florian Voss weiter, als er aus dem Krankenhaus kam. Wie er mir erst kürzlich verraten hat, steht sie noch immer bei ihm zu Hause. Auch wenn wir enttäuscht und nur Zweiter waren: Die entstandenen Freundschaften und Erinnerungen sind nicht mit Geld oder Titeln aufzuwiegen.

Die Geschichte der Hamburger Auswahl (Ham Jam) ist hier aber noch nicht zu Ende. Was wäre ein Jugendländerturnier ohne die »Rookie-Taufe«? Auf dem Heimweg von Berlin mussten wir fünf Neulinge uns nackt ausziehen. Auf meine Brust wurde ein Tape mit der Aufschrift »MVP« geklebt, vor mein Gemächt durfte ich ein kleines Handtuch binden. Dann ging es auf einer Autobahnraststätte irgendwo zwischen der Hauptstadt und der schönsten Stadt Deutschlands zu McDonald’s, wo wir für die ganze Mannschaft eine Bestellung aufgeben mussten. Wie das so ist mit dem Zufall: In den peinlichen Lagen deines Lebens ist er nicht dein Freund. Auf der Tankstelle traf ich, bekleidet mit Handtuch und Tape, meinen Englischlehrer und einen Klassenkameraden mit seiner Familie. Sonntagsabends, irgendwo auf der Autobahn. Kannst du dir nicht ausdenken. Aber die Taufe hatte ich immerhin bestanden.

Nach der Saison wurde ich als Quarterback erstmals zum Try-out der deutschen U19-Nationalmannschaft nach Düsseldorf eingeladen. Ich hatte mich zwar gerade erst in der Jugend etabliert und konnte in der Hamburger Auswahl mithalten, aber das U19-Tryout war noch einmal ein ganz anderes Level. »Lauf dich mal frei, sonst laufe ich selbst auf 1«, war auf diesem Niveau keine Option. Dieses Try-out öffnete mir die Augen, wie viele Jungs in Deutschland noch einiges mehr draufhatten als ich.

In der Off-Season war ich häufig in Buxtehude bei den Sommerfeld-Brüdern. Simon war Runningback bei den Huskies-Herren, Clemens spielte in meiner Rookie-Saison sein letztes Jahr in der Jugend. Die beiden Jungs waren das komplette Gegenteil von mir. Während ich aussah wie eine Schaufensterpuppe von Foot Locker, hätten die beiden bei Anson’s Modell stehen können. Das Schöne am Football ist, dass du Menschen kennenlernst und denkst, wie anders sie sind, bis du realisierst, wie viel du mit ihnen gemein hast. Die Liebe zum Football brachte uns zusammen, unser Ehrgeiz, immer besser zu werden, schweißte uns nur noch enger zusammen.

Jede Woche fuhr ich eine Stunde mit der Bahn, um mit den Jungs in Buxtehude Flag Football zu spielen. Die Brüder waren die athletischsten und fähigsten Jungs, mit denen ich bis dato trainiert hatte. Mich mit einem der besten Herrenspieler Hamburgs zu messen, half mir immens, das nächste Level zu erreichen. Zur zweiten Jugendsaison durfte ich von Clemens, der seinem Bruder zu den Herren folgte, die Trikotnummer 1 übernehmen. Für mich passte das, denn in dieser Spielzeit wollte ich wie bei den Flag Huskies der Go-to-Guy in der Offense werden. Ich war noch immer nicht der physischste Spieler, konnte das aber mit meiner Athletik kompensieren. Ich machte Plays und wurde von Coach Schulz immer öfter als Quarterback oder Runningback eingesetzt. Ich wollte sein wie Willie Beamen in »An jedem verdammten Sonntag«, hatte zum Glück aber Jungs wie Orhan, die aufpassten, dass ich schön auf dem Teppich blieb. Big Plays zu machen ist gut, Talent zu haben noch besser, aber nutze es für das Team und nicht für dich und dein Ego.

Im Finale der norddeutschen Meisterschaften trafen wir auf die Blue Devils, unseren härtesten Lokalrivalen. Die waren in der Junior GFL Letzter geworden und mussten deshalb in der Relegation gegen uns ran, weil wir in der GFL Nord 2 Erster waren. Die Devils waren für uns bis dahin unbesiegbar gewesen, aber in diesem Spiel konnten wir sie besiegen. »Look at us, this is our city now!« Es war ein riesiger Moment für uns alle – die Young Huskies etablierten sich als bestes Hamburger Jugendteam – ein Zustand, der bis heute anhält.

Während der zweiten Saison war Patrick Esume immer wieder Zaungast bei unseren Trainingseinheiten. Er gehörte damals zum Coaching Staff der Hamburg Sea Devils in der NFL Europe und interessierte sich für den Hamburger Nachwuchs. Wenn er kam, standen alle stramm und wollten ihre beste Performance zeigen. Einmal sagte er nach einem Training zu mir: »Kasim, du hast eine Chance, irgendwann mal NFL Europe zu spielen, wenn du so weitermachst.« Ich konnte es nicht glauben. Nach der Spielzeit sprach er mich wieder an: »Ich mache ein Try-out an der Jahnkampfbahn. Mach dich bereit und dann zeig mal, wo der Frosch die Locken hat.«

Nichts hätte mich davon abhalten können. Zehn Tage später trafen sich die zehn besten Jungs aus Norddeutschland. Patrick sagte: »So, Männers, wir fangen mit Bankdrücken an, wie beim NFL Combine, ihr drückt 100 Kilo, so oft ihr könnt.« Mister Olympia meets NFL Combine, so war das Gefühl, das ich zwischen all den Ochsen hatte, die mit mir am Start waren. Alle machten sich warm mit 60, 80 Kilo. Überzeugt wie Mike Tyson in den 90ern war ich bereit, Coach Esume zu zeigen, dass ich genauso stark war wie die anderen. Der Erste drückte die 100 Kilo achtmal, der Zweite sogar zwölfmal. Dann war der Typ vor mir an der Reihe: »23, 24, 25, sauber«, kommentierte ein erstaunter Patrick Esume.

Als Letzter war ich an der Reihe. »So, dann hau mal rein, mien Jung«, sagte der Coach. Es war my time to shine, aber erstaunlicherweise wollte Patrick nur sehen, wie oft ich die 60 Kilo anstatt der 100 drücken konnte. »Coach, was immer du willst«, meinte ich und war überzeugt, dass die zweimal zehn Push-ups, die ich zum Aufwärmen gemacht hatte, schon reichen würden. Ich setzte mich auf die Bank, legte mich langsam hin und griff mir die Hantelstange mit dem engsten Gorilla-Grip. Mit einem tiefen Atemzug half mir der Coach, die 60 Kilo anzuheben und einen Weltrekord zu setzen. »Eins!« – und da hörte es auch schon auf. »Na, da ist noch ein bisschen Luft nach oben.« Seine Stimme klang enttäuscht. Also klärte ich ihn auf, dass ich zuvor noch nie Bankdrücken gemacht hatte.

Als Nächstes ging es auf die Tartanbahn. Wenn ich schon nicht mit Kraft überzeugen konnte, wollte ich den Coach mit meinem Speed beeindrucken. Die 4,92 Sekunden auf 40 Yards waren auch nicht überragend, besonders wenn man sie mit den Zeiten im Profifootball vergleicht. Aber Patricks Worte gaben mir eine bis dahin unbekannte Motivation: »Ich wollte nur sehen, wie weit du schon bist. Du hast Talent, verschwende keine Zeit und gib Vollgas, wenn du in dieser Liga spielen willst.«

Im Sommer bekam ich eine Einladung für die Nationalmannschaft. Diesmal war ich als Tightend gefragt. Quarterback, Receiver, Runningback, all das hatte ich schon gespielt, aber Tightend so gut wie überhaupt noch nicht. Junioren-Bundestrainer Michael Treber war trotzdem der Meinung, das sei die geeignete Position für mich. Ich war der dritte Tightend, als Starter spielte Florian Pawlik von den Düsseldorf Panthers. Er war mir körperlich und athletisch um Meilen voraus. Dicke Arme und ein Sixpack sehen vielleicht gut aus, müssen aber nichts bedeuten. Wenn jemand mit einem Nackenumfang deines Oberschenkels um die Ecke kommt, weißt du allerdings ganz genau, dass du dich mit dem Typen lieber nicht anlegen solltest. Überhaupt war das Niveau in der deutschen Nationalmannschaft nochmal ganz anders als in der Hamburger Auswahl. Hier waren die besten Jungs des Landes versammelt, und ich war einfach nur stolz, dazuzugehören.

Unser Camp fand am Olympiastützpunkt in Berlin statt. Ich war der einzige Husky. Orhan hatte zwar auch eine Einladung bekommen, konnte aber nicht für Deutschland spielen, weil er lediglich den türkischen Pass hatte. Er war darüber sehr enttäuscht. Umso wichtiger war es mir, ihn und die gesamten Huskies so gut wie möglich im Nationalteam zu repräsentieren.

In diesem Trainingslager rannte ich in einen Koloss aus Berlin, der einer meiner besten Kumpels werden sollte. Björn Werner war der Jüngste im Team, wog mit seinen 15 Jahren allerdings schon 110 Kilo und war physisch nicht nur 100 Levels über mir, sondern auch vor allen anderen im Kader. Er hatte stabile Schultern, Beine und sogar Knie und war mit Abstand der beste Defensive End in Deutschland. Wenn es um Passrouten ging, konnte ich mich mit ihm messen, aber jemanden wie ihn zu blocken, war schwierig. Dieser riesige Mensch aus Berlin und ich fanden sehr schnell einen Draht zueinander. Richtig dicke Freunde wurden wir, als wir zur Junioren-EM nach Schweden fuhren und in der Freizeit Tischtennis spielten. Er ist bis heute einer meiner besten Freunde. Eine Football Bromance im wahrsten Sinne des Wortes.

Björn Werner schüttelt den Kopf, wenn er an seine ersten Begegnungen mit seinem Hamburger Kumpel denkt. »Ich hatte mich mit Kasim im Trainingslager schon gut verstanden, aber eigentlich nicht viel mit ihm zu tun gehabt. In Schweden spielte ich mit meiner Gruppe Tischtennis, in der vier bis fünf Berliner und ein Düsseldorfer waren. Plötzlich kam Kasim um die Ecke. Er geht ja nie einfach nur, er federt auf den Zehenspitzen, als würde er ständig seine Waden trainieren. Er kam also in den Raum und fragte, ob er mitspielen dürfe. Mir imponierte das, weil er so offen und selbstbewusst rüberkam, was ich zu dem Zeitpunkt nicht war. Und von da an hingen wir eigentlich die ganze Zeit gemeinsam ab.«

Müsste er Kasim mit einem Wort beschreiben, dann würde er »Klassenclown« wählen. »Im Duden würde man hinter ›Klassenclown‹ ein Foto von Kasim finden. Der Typ ist einfach immer gut gelaunt. Und wenn er mal schlecht drauf sein sollte, sind seine Frau und ich die einzigen Menschen, die das mitbekommen. Aber seine positive Art ist einfach ansteckend.« Als Kasim in seinem dritten Jugendjahr mit den Huskies bei den Adlern in Berlin zu Gast war, stellte Björn ihn nach dem Spiel seiner heutigen Frau Denise vor. »Wir sind Burger essen gewesen. Auf einmal klappte Kasim seinen Burger auf, zog die Gurke raus, pappte sie ans Fenster und freute sich einen Ast, dass sie dort kleben blieb. Da wussten wir: Der Typ hat eine Macke.«

Dass sich die Freundschaft so intensiv entwickeln konnte, schreibt Werner der Tatsache zu, dass ihre Lebenswege einander so ähneln. »Wir sind beide Jungs aus der Stadt, die mit wenig Kohle aufgewachsen sind, aber immer alles hatten, was sie brauchten. Wir sind beide den Weg durch Highschool, College und NFL gegangen und haben einander immer supportet. Für mich war das einfach schön, einen Menschen in meiner Nähe zu haben, der das Gleiche erlebte wie ich.«

Wobei Nähe relativ ist. Die Beziehung lebte zunächst vor allem über Nachrichten. »Wir haben nicht oft miteinander telefoniert, weil das damals noch sehr teuer war. Gesehen haben wir uns auch nicht viel. Als er sein erstes Jahr am Boston College hinter sich hatte, kam ich gerade aus der Highschool, weil ich die zehnte Klasse wiederholen musste. Dafür war ich nur drei Jahre am College und er fünf, deshalb war ich ein Jahr früher in der NFL. So konnten wir uns immer gegenseitig updaten. Außerdem waren wir am College in derselben Division und haben immer die Spiele des anderen geschaut und analysiert. Für mich war es eine große Hilfe, seine Meinung zu hören«, sagt er.

Die wenigen Spiele, in denen sie mit ihren College- oder NFL-Teams aufeinandertrafen, hat Björn Werner als Festtage in Erinnerung. »Die Freude war immer riesig. Aber der beste Moment in den USA war, als Kasim zu meinen Draft nach New York kam und gemeinsam mit meiner Familie verfolgte, wie ich von den Colts in Runde 1 gezogen wurde«, sagt er. Kasim sei damals wie ein Schlumpf gekleidet im Fünfsternehotel in Manhattan angekommen. »Ich habe ihm erst einmal ein ordentliches Hemd und eine Krawatte klargemacht. Weil er so müde war, hat er sich in das Hotelbett eines meiner Brüder gelegt und ist sofort eingeschlafen. Als mein Bruder ins Zimmer kam, wusste er nicht, wer da in seinem Bett lag. Das klärte sich schnell auf, Kasim und meine Brüder wurden dicke Freunde. So ist das immer mit Kasim.«

Deshalb mache er sich auch keine Sorgen um die Zukunft seines Kumpels, auch wenn diese noch ungewiss erscheint. »Kasim kommt immer irgendwie gut durchs Leben. Selbst wenn er keinen Plan hat. Er findet einen Weg. Finanziell geht es ihm gut. Er ist ein smarter Junge, der mit seinem NFL-Gehalt ordentlich umgegangen ist«, sagt er. Die gemeinsame Arbeit bei Football Bromance sei eine perfekte Gelegenheit, um sich auf neuen Feldern auszuprobieren und gleichzeitig dem Sport verbunden zu bleiben. »Kasim ist ein Entertainer, der es liebt, im Mittelpunkt zu stehen.« Werner ist sich sicher, dass sich Kasim in Richtung Coaching orientieren wird. »Er nimmt sein Fitnesstraining unglaublich ernst. Wenn aus ihm kein Celebrity-Athletiktrainer wird, dann weiß ich es auch nicht«, sagt er.

Was auch immer es wird: Der Koloss aus Berlin wünscht seinem Hamburger Buddy vor allem, dass er etwas findet, das ihn glücklich macht. »Wir haben uns dank unserer NFL-Verträge die Zeit ergattert, um unsere nächsten Träume zu verwirklichen. Und ich bin mir sicher, dass Kasim die richtige Wahl treffen wird. Ich freue mich drauf, ihn dabei weiter zu begleiten.«

Die Junioren-EM in Schweden war eine besondere Nummer. Der deutsche Verband hatte keine Kohle, deshalb mussten wir alles aus eigener Tasche zahlen. Wir wohnten in einer Kaserne außerhalb von Stockholm in Schlafräumen für 16 Mann. Zu dem Zeitpunkt sicherlich nicht das schönste Quartier, aber Stoff für ein paar legendäre Anekdoten. Niemand dachte auch nur eine Sekunde darüber nach, nach Hause zu fliegen. Wir waren alle stolz darauf, Deutschland zu repräsentieren. Stockholm ist eine der schönsten Städte, die ich kenne. Hamburg ist zwar auch ein Traum, aber ab und an kann es dort aussehen wie in meinem Zimmer am College. Stockholm sah aus wie ein frisch geputztes Hotelzimmer.

Sportlich war das Turnier echt nice. Ich hatte eine Nebenrolle, trug die Nummer 88 und ähnelte stark den Bots bei Madden, die mit der Nummer 88 am Rand stehen. Wir spielten zuerst gegen Russland. Jeder von denen sah wie Ivan Drago in »Rocky« aus, aber mit den talentierten Jungs, die wir im Team hatten, konnten die Nachwuchs-Dragos aus Russland nicht mithalten. Anschließend spielten wir gegen Dänemark. Bei einem wichtigen Spielzug war ein Fake Punt angesagt, was ich leider nicht mitbekam, weil ich das erste Mal im Leben vor so vielen Menschen spielte. Coach Treber verpasste mir umgehend einen Einlauf. Wie ich schon früher erwähnt habe: Vertrauen zu jeder Zeit ist das A und O im Football. Es war frustrierend, dass ich unserem Headcoach Gelegenheit dazu gab, dieses Vertrauen in Zweifel zu ziehen. Im Football musst du in jeder Sekunde die Fledermausohren spitzen, um ja nichts zu verpassen.

Später im Spiel wurde ich als Tightend eingewechselt. Im ersten Drive lief ich eine Post Route für zwölf Yards, die mein Selbstvertrauen pimpte. Zwei Spielzüge später legte ich einen Touchdown nach. Mein erster Touchdown für Deutschland! Ich platzte fast vor Stolz. Wir standen im Finale gegen Frankreich!

Was ich vom Endspiel besonders in Erinnerung behalten habe, waren die Sprechchöre: »Allez les Bleus!« Die höre ich heute noch in meinen Alpträumen. Ich bin immer noch überzeugt davon, dass wir die bessere Mannschaft waren. Aber die Franzosen nutzten ihre überragende Athletik, um die spielentscheidenden Plays zu machen, und wir verloren.

Als ich nach Hamburg zurückkehrte, fühlte ich mich wie Son Goku bei Dragonball. Immer wenn er gegen stärkere Gegner kämpfen musste und fast am Ende war, kam er doppelt so stark zurück. So ging es mir auch. Ich hatte gegen die besten Jungs Europas gespielt, hatte Plays gemacht und fühlte mich so gut wie nie zuvor.

Es folgte meine dritte Saison in der Jugend, und diesmal nicht mehr in der Junior GFL 2, sondern in der Junior GFL! Und es war wie bei Super Smash Brothers: Ein neuer Gegner erwartete uns. Denn die Berliner Teams, insbesondere Björn und die Adler, konnten es kaum abwarten, uns in der neuen Liga willkommen zu heißen. Als wir gegen sie zu Hause spielten, war ich Runningback und Björn wie üblich Defensive End. Ich freute mich, ihn nach unserem ersten Date bei der Nationalmannschaft wiederzusehen, und auch er schien sehr glücklich, mich zu sehen. Aber auf dem Feld war er gnadenlos. Toss right, ein Laufspielzug über rechts – und wie eine Decke aus Helm und Fleisch legte sich Björn mit seinen 112 Kilo über mich. »Coach, lass uns lieber toss left spielen«, sagte ich. Aber Björn war trotzdem als Erster an mir dran.

Im Rückspiel bei den Adlern spielte ich mehr Receiver und Quarterback. Heutzutage kennen die meisten Björn als Mogul, TV-Persönlichkeit, Sportdirektor der Adler und »den mit den kaputten Knien«. Ich kann aber nicht oft genug betonen, was für ein dominanter Spieler Björn damals war. In Deutschland, in der Highschool und am College gab es niemanden, der ihn aufhalten konnte. Ohne seine Verletzungen hätte er in der NFL genauso weitergemacht. In jenem Spiel bei den Adlern fing ich als Receiver den Pass – Björn tackelte mich. Ich wollte als Quarterback den Ball werfen – Björn sackte mich.

Nach dem Spiel lernte ich Björns Freundin Denise kennen, mit der er heute verheiratet ist. Wir gingen zu Burger King, aßen ein paar Whopper mit Pommes und hatten eine super Zeit. Zu dem Zeitpunkt wussten wir beide, dass es bald ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten gehen würde. Wir freuten uns auf die nächsten Schritte.

Mein letztes Jugendspiel fand im Länderpokal mit der Hamburger Auswahl statt. Durch den Sieg gegen Hessen wurden wir Fünfter. Im Rückblick waren diese drei Spielzeiten für meine Persönlichkeitsentwicklung enorm wichtig. Ich erlebte emotionale Achterbahnfahrten, aber der Support um mich herum war so groß gewesen, dass ich diese Zeit meines Lebens sehr genoss. In dieser Zeit lernte ich, wie wichtig es ist, Vertrauen zu gewinnen und Vertrauen zu schenken. Aus Teammates wurden Freunde und aus Freunden Brüder. Mit diesem Mindset ging ich in den Sommer 2007. Es war ein Sommer, in dem ich eine der wichtigsten Entscheidungen meines Lebens treffen musste.