Kapitel 5 feat. Neal McIntyre

Ankommen in der neuen Heimat

Egal ob ich traurig, wütend oder verletzt bin – ich gehöre zu den Menschen, die ihre Emotionen gut verstecken können. Doch als ich da so in meinem Flugzeugsessel saß und meine Heimatstadt unter mir immer kleiner werden sah, da war er plötzlich da: dieser Kloß im Hals, den wohl jeder kennt, der schon mal Abschied genommen hat. Da saß ich also und brach auf in ein neues Leben. In das Land, das man früher das Land der unbegrenzten Möglichkeiten nannte und das nun auch mir eine glorreiche Zukunft eröffnen sollte.

Was geht einem durch den Kopf, wenn man alles, was man kennt, hinter sich lässt? Bei mir zog innerhalb weniger Minuten all das, was ich bisher erlebt hatte, wie ein Film an mir vorbei. Krass, dachte ich, du hast dein ganzes Leben auf diesen Moment hingearbeitet, und jetzt ist er tatsächlich da. Wenige Augenblicke lang fühlte es sich so an, als hätte ich mein Lebensziel erreicht. Kurz bekam ich feuchte Augen. Aber dann legte sich ein Lächeln auf mein Gesicht, und ich konnte das Gefühl genießen, in eine neue Welt aufzubrechen. Das mit dem Lebensziel war natürlich Unsinn – es war erst ein Zwischenziel, denn ich stand ganz am Anfang eines großen Abenteuers.

In den Tagen vor meiner Abreise war ich vor allem damit beschäftigt gewesen, bloß nicht zu beschäftigt zu wirken. Ich wollte so gelassen wie möglich sein und mich jeder Situation einfach anpassen. Ganz nach Bruce Lee: »Be water, my friend!«. Gespannte Vorfreude, das trifft meine damaligen Emotionen recht gut. »Du lebst hier gerade deinen Traum«, sagte ich mir immer wieder.

Der einzige Stress, den ich wirklich fühlte, war der, den die anderen empfanden. Vor allem meine Mama. Kein Wunder, wenn das einzige Kind aus dem Haus geht. Und das nicht, um in den nächsten Stadtteil zu ziehen, sondern kurz mal über den Atlantik. Ich hatte einen Hinflug nach Amerika gebucht, mehr nicht. Was kommen würde, wussten wir nicht. Und auch wenn meine Muddi für mich immer stark gewesen war, so spürte ich doch, dass der Tag meiner Abreise für sie der schönste und traurigste Moment zugleich sein würde.

Ich für meinen Teil hatte das Gefühl, ziemlich klar und fokussiert zu sein, aber ich musste ja auch nur in den Flieger steigen. Meine Mutter hatte hart gearbeitet, um mir die Reise zu bezahlen. Ich sage es euch: Ob Muhammad Ali, Bruce Lee oder Michael Jordan, an Nesrin Edebali kommt keiner vorbei. Mir war damals schon bewusst, wie viel meine Mama für mich getan hat, aber jetzt, wo ich selbst Kinder habe, weiß ich das noch mehr zu schätzen.

Ein paar Tage vor dem Abflug, am 17. August 2007, feierte ich meinen 18. Geburtstag. Ich nahm Maki, Tobi, Abasse, Kai, Manu und die anderen noch einmal beim Bowling auseinander. Von da an begann die Zeit des Abschiednehmens. Meine beste Freundin, mit der ich damals fast alles gemeinsam unternahm, war Katharina Könnecke. Wir hatten echt viel Spaß zusammen, und als ich ihr Tschüss sagte, hatte ich Tränen in den Augen. Als ich mich von meinem besten Kumpel Maki Papadopoulos verabschiedete, lachten und heulten wir um die Wette.

In solchen Momenten, in denen du spürst, dass du anderen Menschen genauso viel bedeutest wie sie dir, weißt du, dass du lebst. Für mich war der Support, den ich von meiner Familie und meinen Freunden bekam, wie ein Sprungbrett. Wie bei Dragon Ball mit der Genkidama, mit der Son Goku Energie sammelt. Jeden Spruch, jedes liebe Wort saugte ich auf und wandelte es in positive Energie um. Wie bei meinem Opa, einem Old-School-Türken, der generell wenig spricht und nur selten Emotionen zeigt. »Mein Enkel geht Amerika«, sagte er oft, »der wird Superstar!« Ich dachte mir jedes Mal: Für dich, Opa, mach ich alles! Dich will ich stolz machen!

Was mich an den Vorbereitungen am meisten nervte, war das Klamottenkaufen. Ich hatte mich ja bewusst gegen eine reine Jungenschule entschieden, um nicht so zu enden wie Björn Werner. Aber dass man auf meiner Schule auch wie ein Pinguin mit Hemd und Krawatte herumwatscheln sollte, war für mich etwas Neues. In meinem Viertel war ich es gewohnt, mit Jogginghose und Air-Force-Sneakern rumzulaufen. Und jetzt? Mussten es feine Bugatti-Lederschuhe zur Flanellhose sein! Nicht gerade das, was ich mir unter US-Lifestyle vorgestellt hatte. Aber Mama war unerbittlich. Ich musste Tonnen von Kleidung anprobieren, bis sie überzeugt davon war, ihren Jungen guten Gewissens auf die andere Seite des Ozeans loslassen zu können.

Am 21. August 2007 stand ich schließlich in gemütlicher Schlabberhose und Turnschuhen – das gute Zeug war im Koffer verstaut – im Hamburger Flughafen Fuhlsbüttel. Ich umarmte meinen Opa, küsste meine Mama auf die Wange, drehte mich um und verschwand. Ein halbdicker Bambi, 189 Zentimeter groß, 105 Kilo schwer, aber noch ohne Muskelmasse. Maximal eine Mini-Maschine, damals noch ohne Körperbehaarung, dafür mit Haaren auf dem Kopf. Ich hatte das Gemüt eines Kinds im Körper eines Mannes und war ein Mensch, dessen weiteste Reise ohne Begleitung bis dato in die Türkei geführt hatte, und der nun den Weg in sein neues Leben einschlug.

1998 war ich das erste Mal in meinem Leben in den USA gewesen. Mit meiner Mutter hatte ich in Los Angeles meinen Vater besucht. Ein Jahr darauf waren wir in Atlanta, wo ich das erste NFL-Spiel meines Lebens live gesehen habe, aber dazu später mehr.

Ich hatte ein Flugticket nach Boston in der Tasche und wusste, dass mein Ziel die Kimball Union Academy (KUA) in Meriden, New Hampshire, war. Aber wo das lag, wie ich dort hinkommen sollte und was mich dort erwarten würde, davon hatte ich keinen blassen Schimmer. Mein Portemonnaie hätte ich fast im Flieger vergessen, meinen Pulli verlor ich am Gate. Ich reiste genauso verpeilt durch die Weltgeschichte, wie ihr es vermutlich von mir erwartet habt.

Damals war ich davon überzeugt, gutes Englisch zu sprechen. In der Schule hatte ich eine Zwei, ich konnte meine liebsten Rap-Songs unfallfrei mitsprechen und war deshalb überzeugt, dass das alles schon laufen würde. Schließlich hatte ich auch den TOEFL-Test bestanden – Test of English as a Foreign Language –, mit dem die englischen Sprachkenntnisse von Nicht-Muttersprachlern geprüft werden. Doch in den USA sollte ich leider schnell merken, wie dürftig mein Englisch tatsächlich war.

Wer schon einmal in den Staaten war, kennt dieses mulmige Gefühl bei der Grenzkontrolle. Die Top drei, die du vermeiden solltest, wenn du mit einem Immigration Officer sprichst: Kopfhörer im Ohr, Cap auf dem Kopf, Kaugummi im Mund. Ich hingegen schlenderte am Logan International Airport locker zum Schalter, Kopfhörer im Ohr, Cap auf dem Kopf, Kaugummi im Mund. Finde die Fehler!

»Kasim Edebali«, fragte mich der Typ am Schalter, »where are you from?« »Germany, Sir!«, antwortete ich. »Doesn’t sound like a German name. You been to the Middle East?« Scheiße, dachte ich, jetzt wird es kompliziert. Der Kopfhörer baumelte auf Halbmast, während ich sagte: »My mom is Turkish, Edebali is her name, my dad is American. I have not been to the Middle East.« Dieser verpeilte Junge fängt an zu nerven, sagte mir das Gesicht des Zollbeamten. Sein Mund sagte: »What are you doing here?« »I am coming to go to Highschool and play Football.« Seine Gesichtszüge entspannten sich. »Highschool Football? Welcome to the U.S., Mister Edebali!« Ja, danke, herzlich willkommen. Ich war drin.

Aber noch längst nicht da, wo ich hinwollte. Vom Flughafen Boston, so stand es auf der Liste, die mir die Schule geschickt hatte, sollte ich einen Bus nehmen, der mich in drei Stunden über Land nach Meriden bringen würde. Heutzutage würde man nach dem Smartphone greifen und schnell googeln, wo das liegt, wo der Bus abfährt und was man sonst noch wissen muss.

Damals hatte ich ein kleines Nokia-Handy, mit dem ich telefonieren und SMS versenden konnte. Ich hatte auch nichts zu essen dabei, und so waren eine kleine Flasche Wasser und eine Tüte Pretzel-Snacks meine Reisebegleiter in den USA auf meiner ersten Überlandfahrt. Bis heute habe ich den Geschmack dieser kleinen Knusperdinger im Mund, wenn ich daran denke.

Wenn New Hampshire der Arsch der Welt ist, dann ist Meriden sein Zentrum. Meriden ist streng genommen kein eigenständiger Ort, sondern ein Stadtteil von Plainfield, wobei die Bezeichnung »Stadt« und Plainfield so gut zusammenpassen wie Reeperbahn und Kindergeburtstag. Als der Bus an der Haltestelle ankam, wartete dort schon ein anderer, deutlich kleinerer Bus mit zehn Sitzen, in den ich umsteigen sollte. Er fuhr mich eine knappe halbe Stunde durch einen Wald. »Was zum Teufel mache ich hier?«, dachte ich mir. Wir waren irgendwo im Nirgendwo. Plötzlich bog der Fahrer rechts ab, und da stand dieser riesige Komplex auf einem Hügel: Kimball Union! Ein kleiner Weg führte hinauf, vorbei an einem Kunstrasenplatz. Am Fuß des Hügels war das Mädchenhaus, oben wohnten die Jungs. Die Schule hatte ein eigenes Theater, mindestens zehn verschiedene Sportplätze und eine Mensa, die auf mich gigantisch wirkte.

Rund 300 Schülerinnen und Schüler in vier Klassenstufen waren damals auf der KUA, die meisten davon Internatsschüler wie ich. Allerdings begann der Unterricht erst am 4. September, sodass bei meiner Ankunft noch längst nicht alle da waren. Für alle Athleten, die einen »Autumn Sport« betrieben, war es jedoch Pflicht, zwei Wochen vor Schulbeginn einzutreffen. Also auch für mich als Footballspieler.

Ich war kaum aus dem Bus gestolpert, als ein fast zwei Meter großer Rotschopf auf mich zukam. Cyrus Western ist heute für die Republikaner Mitglied des Repräsentantenhauses von Wyoming. Damals war er im vierten Highschool-Jahr und deshalb im Mentorenprogramm für die Begrüßung der Neuankömmlinge verantwortlich. Wie ein Schraubstock umfasste seine riesige Pranke meine Hand. »Hi Kasim, I am so glad you are here!«, sagte er mit einem Akzent, der mir Angst machte. Wenn hier alle so reden, dann gute Nacht, dachte ich.

Bei der Eingewöhnung half mir, dass im Footballteam drei weitere Deutsche spielten. Christoph Kurzer, ein Linebacker aus Berlin, kam zeitgleich mit mir nach Meriden. Ruben Austin-Schmidt, ein Fullback aus Düsseldorf, und Tim Kaminski, ein Defensive Liner aus Kiel, waren schon ein Jahr vor uns da.

Die Schule könnt ihr euch vorstellen wie ein klassisches Landschulheim. Sie war zwar irgendwann modernisiert worden, als Gründungsjahr wird allerdings 1813 angegeben, was sie auf die Liste der 25 ältesten Internate der USA bringt. Und diesen Charme versprühte sie an jeder Ecke. Die Gebäude sahen alle gleich aus. Im Wohnhaus gab es Einer-, Zweier- und Viererzimmer. Ich bekam ein Zweierzimmer zugewiesen, in dem auf knapp 25 Quadratmetern außer zwei Betten und zwei Schränken nichts drin war. Wobei, das ist so nicht ganz richtig. Taylor Millward, mein neuer Mitbewohner, war der dritte Schrank. Ein typischer Kanadier, O-Liner, breit und hoch wie ein Grizzlybär, aber zum Glück deutlich freundlicher.

Taylor war wie ich einfach nur glücklich, auf der KUA zu sein. Ansonsten waren wir beide wie Yin und Yang, komplett gegensätzliche Typen. Er war introvertiert, verschlossen wie eine Auster. In meinem Alter – 18 Jahre – war er schon verlobt. Abends hörte ich ihn immer ins Telefon säuseln, »I love you, baby«, und ich stellte mir die Dame seines Herzens am anderen Ende der Leitung vor, die es wahrscheinlich nur semigut fand, dass ihr Auserwählter im Sündenpfuhl Highschool badete, statt ihr beim Häkeln die Hand zu führen. Aber hey, Taylor war wirklich ein Ehrenmann, und ich glaube, es fiel ihm schwerer als mir, sich an die neue Situation zu gewöhnen.

Am härtesten traf ihn die Unordnung, die ich im Zimmer veranstaltete. Taylor hätte mit seiner Ordnungsliebe auch in jeder deutschen Behörde einen guten Job gemacht. Immer, wenn ich meinen Körper über den Kleiderhaufen auf dem Fußboden unseres Zimmers wuchtete, sah ich die flehenden Blicke, die er mir zuwarf. »Räum doch bitte endlich mal auf, Edebali«, dachte er, sagte es aber nie.

Taylor war schon in jungem Alter ein Typ, der genau wusste, was er wollte. Er war super fokussiert, sehr intelligent und körperlich extrem stark. Auch wenn wir so unterschiedlich tickten – oder vielleicht gerade deswegen – waren wir gut füreinander.

Es gab an der KUA viele Schülerinnen und Schüler, die von Haus aus deutlich mehr Geld als wir Normalos zur Verfügung hatten. Manche hatten verchromte Kühlschränke oder Plasmafernseher in ihren Zimmern, Taylor und ich hatten billige Laptops, die uns allerdings wenig brachten, denn um Filme zu streamen, reichte die Internetverbindung nicht aus. Und die Seiten mit der Erwachsenenunterhaltung waren sowieso gesperrt. Die meisten Schüler hatten sich ihre Matratzen gepimpt, hatten ergonomisch wertvolle Foam-Unterlagen für ihre Satin-Bettwäsche. Taylor und ich zogen ein Laken über die harte Stoffmatratze, mehr nicht. Ich hatte schlicht nicht die Ressourcen für etwas Besseres. Aber das war okay für mich.

Was mir wirklich gut gefiel, war das Essen. Dreimal am Tag warme Mahlzeiten vom Buffet, und zwar ohne Limit – ich war im Schlaraffenland. Und es gab wirklich alles! Zumindest alles, was ich mir unter einem gelungenen Essen vorstellte. Die meisten schimpften über die Qualität, aber ich war im Paradies. Ich genoss es auch, mich zum Essen immer wieder neuen Gruppen anzuschließen. Meist saßen die Cliquen beieinander, die sich über den Unterricht, ihren Sport oder kulturelle Vorlieben kannten, oder auch die verschiedenen Nationalitäten, vor allem die internationalen Schüler aus Südkorea, Spanien oder Frankreich. Für mich gab es keine Grenzen, ich setzte mich überall dazu und versuchte, jeden Tag etwas zu lernen, was sicherlich auch darin lag, dass ich mich nie einer bestimmten Gruppe zugehörig gefühlt habe.

In der Einführungswoche gab es für alle neuen Schüler einen gemeinsamen Ausflug, um einander besser kennenzulernen. Hiking heißt das Zauberwort, das die meisten Amerikaner total anfixt. Drei Tage Camping im Wald, tagsüber Wanderungen in der Natur, abends Geschichten erzählen am Lagerfeuer – für mich klang das ok, mehr aber auch nicht. Der Plan war, den Mount Washington zu besteigen, der zur Presidential Range der White Mountains zählt und immerhin 1917 Meter hoch ist. Der einzige Berg, den ich bis dahin bestiegen hatte, war der 15. Stock unseres Hochhauses im Osdorfer Born. Aber als unser Lehrer Neal McIntyre mir sagte, dass wir zwar hochwandern, allerdings mit dem Lift runterfahren würden, entspannte ich mich wieder.

Das änderte sich allerdings, als Mr. McIntyre vor dem Abmarsch erklärte: »Ey, Kasim, no headphones, no electronics.« Wie bitte? Wie sollte ich es schaffen, ohne Musik auf einen fast 2000 Meter hohen Berg zu klettern? Ich schaffte es. Irgendwie. Oben angekommen genossen alle die tolle Aussicht. Super, dachte ich, während mir die Zunge aus dem Mund hing, aber wo war denn nun dieser Scheißlift? Ich sprach die Frage laut aus, natürlich in abgespeckter Version. Mr. McIntyres Reaktion ließ mich zusammenbrechen: »What lift? There ain’t no lift, we walk back down.« Ich hatte ihn wohl missverstanden. Seit diesem Tag habe ich, wann immer mir eine schöne Hiking-Tour angeboten wurde, freundlich, aber entschieden abgelehnt. Nicht mit mir!

Ich bin später oft gefragt worden, ob ich damals kein Heimweh gehabt hätte. Die Antwort: Ich war viel zu beschäftigt, um an die Heimat zu denken. Jeder Tag war durchgetaktet. Es blieb nur der Sonntag, um mit meiner Mutter zu telefonieren. Ansonsten hielt mich der Schulalltag auf Trapp. Ich musste die elfte Klasse wiederholen. Warum, weiß ich bis heute nicht. Hauptsache, ich konnte Football spielen! Immerhin kam ich trotz der Sprachbarriere mit den Unterrichtsinhalten gut zurecht. Ich musste sechs Kurse wählen, in zwei Fächern war Neal McIntyre der Lehrer. Viele mochten ihn nicht, weil er ein sehr prinzipientreuer Mann war. Für mich dagegen passte das wunderbar, denn eigentlich war es ganz einfach mit ihm. Wenn man tat, was er verlangte, war er ein Spitzen-Typ, der mir sehr dabei half, Struktur in meinen Schulalltag zu bringen. Mit der Zeit sind wir zu Freunden geworden. Als ich mir später im zweiten Jahr das Handgelenk brach, brachte er mich ins Krankenhaus und spendierte mir nach der OP Milkshakes und Cheeseburger und lud mich zweimal pro Woche zu sich nach Hause zum Essen ein. Die McIntyres sind für mich zu einer zweiten Familie geworden. Oder, wie man in Amerika sagt: »Home away from home.«

Neal McIntyre freut sich sehr darüber, dass Kasim ihn als eine Art Onkel ansieht, der immer für ihn da ist. »Allerdings war das beabsichtigt«, sagt der Mann, der heute in Vermont lebt und nach zwölf Jahren als Schulleiter zurück in den Lehrberuf gegangen ist, um Biologie und Chemie zu unterrichten, wie damals, als er Kasim kennenlernte. »Für mich war Kasim ein junger Mensch in einem fremden Land, der aufgrund seiner Lebensgeschichte keine Vaterfigur hatte. Davon hat er mir erzählt. Ich wollte eine männliche Bezugsperson für ihn sein. Nicht sein Vater, auch nicht sein Freund, aber jemand, der ihm Halt gab«, sagt er.

Je häufiger der Junge jedoch zu ihm nach Hause kam, »desto öfter mussten meine Frau und ich uns daran erinnern, dass er ein Schüler war, denn man muss gewisse Grenzen wahren. Mit Kasim fiel uns das schwer, denn er war ein so guter, freundlicher und positiver Typ, dass wir seine Gegenwart einfach genossen.« Neal McIntyre sagt, er habe als Lehrer stets versucht, seine Prinzipien deutlich zu machen und auch danach zu leben, um ein Vorbild zu sein. Dass er deshalb als streng galt, weiß er. »Aber Kasim war ein Schüler, der sich sofort angepasst und verstanden hat, worum es geht. Als Lehrer hofft man, dass genau das passiert. Kasim ist einer dieser Menschen, die sich sofort in jede neue Herausforderung hineinwerfen, mit einer Leidenschaft, die andere mitreißt. Viele internationale Studenten sind schüchtern und trauen sich nicht, eine Sprache zu sprechen, in der sie sich noch nicht sicher fühlen. Kasim legte einfach los. Er ist ein extrem offener Mensch. Probleme, auf andere zuzugehen, hat er nicht.«

An die Geschichte mit der Bergbesteigung erinnert sich Neal McIntyre mit einem lauten Lachen. Es sei nicht darum gegangen, Autorität auszustrahlen oder dem Neuen Strukturen aufzudrängen, als er ihm die Kopfhörer verbot. »Ich bin einfach der Meinung, dass uns Unterhaltungselektronik vom Wesentlichen abhält. In Situationen wie der damaligen brauchen junge Menschen alle Sinne, um sich auf das Neue einzulassen. Und das hat mit Kasim super funktioniert«, sagt er, erinnert sich aber auch an eine chinesische Schülerin, die in ihrem Leben noch nie gewandert war, es aber ohne ein Wort des Klagens durchzog. »Das war eine harte Tour, einige, die sich für Spitzenathleten hielten, mussten abbrechen. Doch sie hat es geschafft, genau wie Kasim, auch wenn er fertiger war als sie.«

Was Neal McIntyre in den zwei gemeinsamen Jahren mit Kasim besonders beeindruckte, war dessen Wille, sich durchzubeißen, und das nicht nur im Sport. »Wir hatten und haben viele junge Männer, die alles auf die Karte Sport gesetzt haben. Sie verfolgen einen Traum, der für die meisten nicht in Erfüllung geht, denn nur die wenigsten schaffen es in den Profisport. Dabei sind sie so sehr im Tunnel, dass sie alles andere ausblenden. Kasim war anders, er hat auf alles geachtet, hat alles in sich aufgesaugt und hatte ein Auge für das große Ganze.« Den Schritt ans Boston College schaffen nicht viele Schüler aus Kimball Union. »Aber bei Kasim war allen Lehrern klar: Der will nicht nur im Football gewinnen, sondern überall im Leben. Und das hat ihm den Respekt des gesamten Kollegiums eingebracht.«

Kasims Leben könne wie eine Allegorie auf den Football gedeutet werden, sagt Neal McIntyre. »Er musste sich alles erkämpfen, was er haben wollte. Er ist besser und besser geworden, war zum richtigen Zeitpunkt auf dem Höhepunkt, hielt sich von Drogen oder sonstigen Ablenkungen fern und hat verstanden, dass sein Körper sein Kapital ist.« Trotzdem hätte es kaum jemand für möglich gehalten, dass dieser Junge aus Deutschland es in die NFL schaffen würde. Sein Vertrauenslehrer verfolgte die Karriere hauptsächlich vor dem Fernseher. Nur einmal, als Kasim mit den Denver Broncos gegen die Patriots spielte, war er live im Stadion dabei. »Aber unsere Beziehung ging weit über den Sport hinaus, und das macht sie so besonders«, sagt er. Bis heute halten beide regelmäßig Kontakt, schreiben sich Nachrichten oder telefonieren über Video. »Ich bekomme mit, was es in seinem Leben Neues gibt. Und das ist mir sehr wichtig. Kasim ist ein Freund geworden.«

Völlig neu für mich war: 20 Prozent der Note in den USA hängt von den Hausaufgaben ab und es gibt eine Deadline, zu der diese Aufgaben erledigt sein mussten. Jeden Abend von 20 bis 22 Uhr musste jeder Internatsbewohner in seinem Zimmer sein und Hausaufgaben machen. Und das nach einem Tag, an dem ich morgens um 7 Uhr in meine Bugatti-Schuhe geschlüpft war, von 8 bis 14 Uhr Unterricht gehabt hatte und anschließend bis 16.30 Uhr Training. Immerhin gab es nach dem Abendessen noch zwei Stunden Freizeit, aber danach wieder in den Hausaufgaben-Mode umzuschalten, war nicht gerade einfach.

Neben den normalen Schulnoten bekamen wir zusätzlich Noten für die Arbeitsmoral, die sogenannten Effort Grades. Da war ich ganz vorn dabei. Meine Schulnoten waren definitiv nicht die besten, aber meine Moral war intakt. Und das hat mir manches Mal den Hintern gerettet. Zum Beispiel, als mich unser Geschichtslehrer nach einem Referat zu sich rief. »Kasim, du hast dir sicherlich Mühe gemacht, aber ich habe nichts von dem verstanden, was du sagen wolltest«, merkte er an. »Bitte versuche, es mir zu erklären.« Das tat ich, und am Ende bekam ich eine Zwei. Zeige Menschen, dass du bereit bist, hart zu arbeiten, und du wirst belohnt!

Viel mehr als Arbeit war auch kaum möglich in der KUA, denn ein Freizeitangebot rund um die Schule war schlicht nicht vorhanden. Das Internet reichte gerade einmal für Mails und Hausaufgaben. Facebook war ab 20 Uhr blockiert, und überhaupt waren die Regeln wirklich streng. Wer seine Krawatte falsch gebunden oder gar vergessen hatte, musste sofort zurück auf die Stube, um die Kleidung richten. Wer nicht glattrasiert war, wurde direkt zum Kahlschlag verdonnert. Ab und an habe ich versucht, das System auszutricksen wie der Prince von Bel Air mit seiner Inside-Out-Jacke. Statt Hemd trug ich Rollkragen und log, die Krawatte befände sich unter dem Rollkragen. Aber das hat leider nur selten funktioniert.

Eine Sache, die mich lange irritierte, war die strikte Trennung von Mädchen und Jungen. Nicht im Unterricht, der wurde gemeinsam abgehalten. Auch nicht im Aufenthaltsraum, den man aus jeder US-Jugendserie kennt. Wer schon mal in so einem Locker Room war, in dem mehrere Hundert Jugendliche zusammenhocken, von denen einige mit Körperpflege auf Kriegsfuß stehen, der weiß, dass man als Ort für ein Date dann auch gleich das Affenhaus im nächsten Zoo wählen könnte.

In der Freizeit aber war es strikt verboten, dass Jungs sich im Wohnbereich der Mädchen aufhielten und umgekehrt. Die Amerikaner lieben es, gegen Regeln zu verstoßen. Aber ich hatte zu viel zu verlieren, um irgendetwas aufs Spiel zu setzen! Also habe ich versucht, mich anständig zu verhalten, um niemandem einen Anlass zu geben, mich angreifen zu können. An den Wochenenden jedoch durften die Internatsschüler das Internat verlassen, und da war es vollkommen normal, dass zehn Leute bei einem Mitschüler übernachteten, der in der Nähe wohnte. Dort wurden dann Partys gefeiert, die regelmäßig komplett eskalierten.

Alkohol war selbstverständlich ein großes Thema. Der Umgang damit ist in den USA fast schon schizophren. Hier darfst du offiziell erst mit 21 Bier trinken, aber wie ich schon sagte: Amis sind heiß darauf, Regeln zu brechen. Also waren diejenigen die Stars, deren Eltern bereit waren, für die Wochenendpartys möglichst viel Alkohol zu kaufen.

Ich habe nie getrunken. Ich wollte am Sonntag mein Trainingspensum durchziehen und nicht verkatert irgendwo in der Ecke liegen. Aus meiner Highschool-Zeit gibt es nur eine Alkoholgeschichte. Ich hatte mich von einer meiner Mitschülerinnen überreden lassen. Mein erstes Jahr an der KUA war ihr letztes, und im zweiten Jahr hat sie mich an ihr College eingeladen. Partys am College sind ein paar Nummern krasser, da ist Alkohol das kleinste Übel. Ich weiß nicht, wie viel ich getrunken habe, aber bestimmt acht Kurze zu viel. Um mich herum haben viele gekifft, es gab wahlweise Schlägereien und Promiskuität zu bestaunen. So eine Welt kannte ich bis dahin nicht.

Es war ein Donnerstagabend, und während ich danach komplett durch war, machten die anderen bis Sonntag weiter. Diese ganzen negativen Emotionen waren nicht mein Ding, mein Körper war müde und erschöpft. Physisch und mental so müde zu sein, kannte ich gar nicht. Ich konnte nicht verstehen, wie man das jede Woche machen und trotzdem denken konnte, mit diesem Lebensstil irgendetwas erreichen zu können. Mein Mindset war: Am Wochenende muss ich frisch genug sein, um ins Gym und aufs Feld gehen zu können. Ich wollte einfach immer ready sein.

Auch wenn ich einige kenne, die eine Balance für sich gefunden haben, waren (und sind) Alkohol und Drogen für mich die falschen Wegbegleiter. Ich war von diesem Moment an überzeugt, dass mir auch ohne Partys und Alkohol nichts entgehen würde und dass dies für mich genau den Unterschied machen würde, der dazu beitragen würde, dass ich meine Ziele erreiche.

Sehr genossen habe ich stattdessen die Ausflüge in den Ferien mit meinen Schulkameraden, die mich mit in ihre Heimatorte nahmen. An den ersten erinnere ich mich besonders gut: Es war das erste Thanksgiving, das ich in den USA erlebt habe. Ein großartiges Fest, weil man den ganzen Tag über zu essen bekam. Unser Linebacker Michael Staton hatte mich und unseren dänischen Receiver Kevin Gangelhoff eingeladen, mit ihm nach Oxford (Mississippi) zu fahren. Dort lebten seine Adoptiveltern, die an der Oxforder Ole Miss arbeiteten, der University of Mississippi, von der auch Eli Manning stammt. Sie waren sehr gebildet und hatten ein schönes Haus. Aber in Mississippi lernte ich auf die harte Tour, wie unterschiedlich die Kulturen innerhalb von Amerika sind und wie schnell man in Probleme geraten kann. Mississippi ist sehr konservativ und gottesfürchtig. Es gibt dort zwar die sprichwörtliche »Southern Hospitality«, aber in deren Genuss kommt nur, wer den Gastgebern mit guten Manieren zu imponieren weiß.

Eines Abends holten wir eine Freundin von Michael ab. Der Vater des Mädchens war an der Tür sehr freundlich, bat uns herein und redete dann mit seinem Südstaaten-Akzent auf mich ein. Ganz genau war mir nicht klar, was er wollte, aber um möglichst lässig zu klingen und so amerikanisch wie möglich zu wirken, antwortete ich auf seine Fragen mit »Yeah« oder »Aha«. Auf einmal hörte der Typ auf zu reden, drehte sich um, ging ins Nebenzimmer und kam mit einer Schrotflinte zurück. Ich komme zwar aus dem Osdorfer Born, aber es war das erste Mal, dass ich einem Menschen ohne Uniform mit einer Schusswaffe gegenüberstand.

Er fing an, die Flinte demonstrativ zu putzen und frisch zu machen, so als wolle er mir zeigen, dass er jederzeit bereit sei, das Ding einzusetzen, und sagte: »Ich habe ein Problem damit, dass du hier in mein Haus kommst und so unhöflich bist.« Ich wusste überhaupt nicht, was ich falsch gemacht hatte, aber zum Glück konnte Michael die Situation klären. »Kasim ist kein Amerikaner, sondern kommt aus Deutschland und kennt sich mit den Sitten hier nicht aus«, sagte er. »Oh, is that right?«, fragte der Typ und war von da an wieder total nett.

Was mein Vergehen gewesen war? Ich hatte nicht gewusst, dass »Yeah« in Oxford (Mississippi) nicht als angemessene Antwort auf Fragen gilt. Seitdem antworte ich immer, wenn mich jemand, der nicht zu meinem Bekanntenkreis zählt, etwas fragt, mit »YES, SIR!«, denn wenn ein schlichtes »Yeah« dazu führen kann, eine Ladung Schrot in den Hintern (oder wer weiß wohin) geblasen zu bekommen, dann ist es definitiv besser, die höfliche Variante zu wählen.

An jenem Thanksgiving wurde ich auch zum ersten Mal mit dem schönen Brauch des Tischgebets bekannt gemacht. Als der knusprige Truthahn auf meinen Teller geflattert war, wollte ich sofort zulangen, aber Michael hielt mich zurück. »Was ist los?«, fragte ich. »Erst wird gebetet«, sagte er. Und dann wurde gedankt und gebetet, dass ich schon befürchtete, das tote Tier würde zu Staub zerfallen, ehe ich Messer und Gabel zum Einsatz gebracht hatte. Schließlich wurde es doch noch das erste Festessen meines neuen Lebens. Und was ich echt schön fand, war: Jeder in der Familie brachte zum Ausdruck, was die anderen ihm bedeuten.

An Weihnachten 2007 flog ich zum ersten Mal aus den USA nach Hause zurück. Es war schon speziell. Ich hatte mit meinen Freunden in der Heimat wenig Kontakt gehabt und freute mich sehr, sie und vor allem meine Familie wiederzusehen. Aber in dieser Phase lernte ich, die wahren Freundschaften von den oberflächlichen zu unterscheiden. Ihr kennt das bestimmt: Es gibt Menschen, die du monatelang nicht gesehen oder gesprochen hast, und wenn du sie wiedersiehst, kommt es dir vor, als seist du nie weggewesen. Das sind die Freundschaften, die ein Leben lang halten.

Aus meiner Highschool-Zeit sind mir einige Menschen geblieben, mit denen ich bis heute Kontakt habe. Freundschaften zu knüpfen, war für mich immer sehr wichtig, denn mit Gleichgesinnten macht alles im Leben mehr Spaß. Die härtesten Situationen werden leichter, wenn man sie gemeinsam meistert, denn dadurch öffnen sich Türen, von deren Existenz du vorher gar nicht gewusst hast.

Ich hatte auch außerhalb meines Footballteams Freunde. Kasim war wie ein Adjektiv für einen Menschen, der Austausch mit anderen sucht, und das tat ich von Beginn an, auch wenn mein Englisch recht holprig war. Es dauerte drei Monate, bis ich sprachlich so sicher war, dass ich mich angekommen fühlte. Im Sport allerdings hatte ich von Anfang an keine Probleme, mich auszudrücken. Deshalb wird es Zeit, dass ich euch nun endlich mit aufs Footballfeld nehme.