Das Trainingsshirt, das mir der Typ in die Hand drückte, war orange. Nicht unbedingt meine Farbe im normalen Leben, doch was war schon normal? Es war ein Zehn-Dollar-Shirt, aber für mich war es mehr wert als alles, was ich sonst noch besaß, denn es trug das Logo der Kimball Union Wildcats und wies mich ganz klar als Highschool-Footballer aus. Ich platzte fast vor Stolz. Wahrscheinlich sah ich in dem Moment aus wie einer der kleinen Jungs aus »Little Giants«, aber ich fühlte mich wie Superman. Die Rückennummer 40, die ich bekommen hatte, war nicht wirklich sexy, vor allem weil ich es von den Huskies gewohnt war, die 1 zu tragen. Aber wie sagt man so schön: »The player makes the number!« Edebali, Tight End, Defensive End stand auf meinem Shirt. Ich war glücklich.
Der Equipment Room, in dem die Ausrüstung ausgegeben wurde, lag im Obergeschoss der zentralen Sporthalle auf dem KUA-Gelände. Unten in den Katakomben waren die Umkleideräume für alle Sportarten, die es in Kimball gab. Football und Eishockey waren die wichtigsten, es wurde aber auch Fußball, Lacrosse, Tennis und einiges mehr angeboten. Wenn du in diesen Keller kamst, schlug dir diese üble Mischung aus Schweiß, getragenen Klamotten und ungeduschten Körpern entgegen. Unsere Locker waren aus kaltem Metall, alle in tiefem Schwarz gestrichen. An meinem ersten Tag war die Farbe noch zu riechen. Das flackernde Neonlicht hatte einen seltsamen Orangestich. Wenn es anging, surrte es wie ein Elektrozaun. Nein, es war nicht der schönste Ort auf der Welt. Aber am Steinwiesenweg in Hamburg-Eidelstedt hatten wir eine Bank zum Umziehen. Hier in den Staaten hatte jeder seinen eigenen Locker. Wie geil war das denn? Ich hätte mich auch in einem Dixi-Klo umgezogen, denn nicht nur mein Trainingsshirt machte mich glücklich. Ich hatte auch einen Helm und meine Shoulderpads bekommen, ohne dafür bezahlen zu müssen. Aus Deutschland war ich es gewohnt, 500 Euro für meine Ausrüstung selbst aufzubringen. Hier bekam ich alles gestellt! Da war es auch nicht so wild, dass die Pads nicht mehr ganz neu waren und der Helm nur halbwegs auf meinen Schädel passte. Dazu hatte ich mir, allerdings auf eigene Kosten, knusprige Nike-Stollenschuhe in schwarz-orange geholt und fand mich damit absolut fresh.
Vielleicht sollte ich zunächst ein paar Worte über unser Team verlieren. Auch wenn Football Amerikas Sport ist, hat er nicht in jedem Staat den gleichen Stellenwert. In Texas ist Football wie eine Religion. In den New-England-States dagegen ist Eishockey vorn, und auch Lacrosse ist sehr beliebt. New Hampshire, wo meine Schule lag, war nicht gerade dafür bekannt, eine große Anzahl an Footballspielern hervorzubringen, um es höflich zu formulieren. Und Kimball Union war keine Football-Schule. Es war zwar der wichtigste Sport, aber wenn es einer pro Jahrgang in ein Division-1-Team schaffte, war das schon ein Ergebnis, das gefeiert werden durfte.
80 Prozent meiner Teammates waren Jungs, die einfach Bock auf Football hatten, aber weit davon entfernt waren, richtige Athleten zu sein. Sie waren eher die Art »Helden aus der fünften Reihe«, die zwar keinen großen Anspruch haben, aber das Herz definitiv an der richtigen Stelle.
Wir waren vier Deutsche im Team, dazu kam mit Kevin Gangelhoff ein Däne. Der Rest in unserem Fünfzig-Mann-Kader waren Amerikaner. Drei davon Postgraduates, die ihren Highschool-Abschluss schon gemacht hatten, aber ihr Senior Year wiederholten, um bessere Noten zu bekommen und bessere Gametapes zu produzieren, um an ein besseres College zu kommen. Diese drei waren unsere Leistungsträger: Quarterback Mike Gerardi aus New Jersey, Linebacker Colby Husby aus Texas und Widereceiver Omari Mobley aus Baltimore. Diese Jungs hatten eine Qualität, die ich aus Deutschland nicht kannte.
Als wir uns im Locker Room für das erste Training umzogen, war das ein bisschen wie im Zoo. Alle beschnupperten sich und versuchten herauszufinden, wer die Alphatiere waren. Mit meinen 18 Jahren, 189 Zentimetern und 105 Kilogramm war ich den anderen körperlich überlegen. Ich war sozusagen ein Mann unter Jungs. Trotzdem wusste ich nicht, wie ich mich einordnen sollte. Ich fühlte mich zwar physisch in guter Form und war bei den Huskies ganz vorn mit dabei gewesen. Aber hier, in Meriden, New Hampshire? Gut möglich, dass die einen wie mich zum Frühstück verschlangen.
Um es vorwegzunehmen: Taten sie nicht, und das nicht nur, weil sie sich dabei mächtig verschluckt hätten, sondern auch, weil mein Standing vom ersten Training an sehr hoch war. Die Jungs merkten schnell, dass ich etwas draufhatte. Obwohl ich mit der Sprache anfangs Probleme hatte, fand ich mich nirgendwo so schnell zurecht wie auf dem Footballfeld. Egal, woher du kommst oder wie du aussiehst: Solange alle ein gutes Herz haben, funktioniert die Gemeinschaft auch ohne viele Worte. Deshalb fühlte ich mich in meiner neuen Mannschaft sofort wie zu Hause.
Natürlich ist es nicht optimal, wenn du als Führungsspieler – und der war ich von Anfang an – nicht alles so ausdrücken kannst wie in deiner Muttersprache. Wir hatten zum Beispiel einen Runningback, Kevin Viera, dessen New Yorker Akzent so hart war, dass ich knapp einen Monat brauchte, bis ich ansatzweise kapierte, was er von mir wollte. Aber letztlich sprach mein Game für mich. Das verstanden alle.
Was mir außerdem half, war das Selbstverständnis, mit dem unser Headcoach mir die Anführerrolle zuwies. Ich hatte Coach John Lyons bekanntlich bei einem Try-out bei den Cologne Centurions kennengelernt. Er war damals Mitte 50 und hatte einen sehr guten Ruf, weil er sich an verschiedenen Colleges (unter anderem mit einer perfekten Saison mit Dartmouth) und auch als Defensive Coordinator in der NFL Europe einen Namen gemacht hatte. Ihn aber im täglichen Training zu erleben, war allerdings eine ganz andere Nummer.
Coach Lyons war anders als alle anderen Trainer, die ich kannte. Er war der gelassenste Mensch, den ich jemals an einer Seitenlinie erlebt habe. Er musste nie laut werden, weil jeder in seinem Gesicht lesen konnte, ob er zufrieden oder wütend war. Man nennt so etwas wohl natürliche Autorität. Ihn umstrahlte eine Aura, die jedem, der für ihn spielte, das Gefühl gab: Für diesen Mann würde ich durch Wände rennen.
Coach Lyons hatte in mir ein Talent für die Position des Defensive End gesehen, obwohl ich das vorher noch nie gespielt hatte. Als er mir das vor dem ersten Training in einem Gespräch mitteilte, war ich überrascht. Ich hatte mich immer als offensiven Typen eingeschätzt, ich wollte Touchdowns machen und wusste nicht mal, was ein Quarterback Sack ist. Als Mini-Maschine, die ich damals war, konnte ich die Gegner umrennen, egal auf welcher Position, aber wie man das nannte und welche Bedeutung das für ein Spiel haben kann – davon hatte ich keinen blassen Schimmer. Aber wenn dieser Mann der Meinung war, dass der dicke Deutsche einen ordentlichen Defensive End abgeben könnte – na dann! »Hadi bakalim«, würde mein Opa sagen. Wer war ich, um das anzuzweifeln?
Wir hatten unsere neue Ausrüstung angelegt, uns ausreichend beschnuppert, und dann ging es raus zum ersten Training! Ich war so voll mit Adrenalin wie nie zuvor, mein Herz sprang fast aus meinem Shoulderpad. Ich wusste nicht, was mich erwartete, sondern nur, dass ich abliefern musste. Ganz nach Michael Jordan: »Some people want it to happen, some wish it would happen, others make it happen.« In solchen Situationen darfst du nicht an das denken, was war, oder an das, was sein wird. Denk nur an das, was in dem Moment wichtig ist. Volle Konzentration auf das Hier und Jetzt. Zum Glück hatte ich diese Einstellung. Sie half mir damals und hilft mir bis zum heutigen Tag immer noch.
Um zum Footballfeld zu gelangen, musste man knapp zehn Minuten zu Fuß gehen. Es ging vorbei am Fußballfeld, am Baseballplatz, am Frauenfußballfeld – und schließlich am Kunstrasen, auf dem wir unsere Spiele austrugen. Dann war endlich der Rasenplatz erreicht, auf dem wir trainierten. Der Platz war kein Knaller, aber er war immer noch tausendmal besser als die von Maulwurfshügeln übersäte Wiese, die ich aus Hamburg kannte.
Mir hatte das Training bei den Huskies immer gut gefallen. Aber was mich nun erwartete, war von der Struktur und der Intensität auf einem ganz anderen Level. In Deutschland hatten wir zweimal in der Woche trainiert, die Hälfte des Teams kam regelmäßig zu spät. Ich musste mit Bus und Bahn hin- und wieder zurück durch die halbe Stadt fahren. Nun lebte ich quasi auf dem Trainingsgelände. Wer zu spät kam, den bestrafte nicht das Leben, sondern der Coaching Staff, der aus fünf Trainern bestand, von denen mir neben Coach Lyons vor allem Ted Stewart in Erinnerung geblieben ist. Er war Assistant Headcoach und der Mann, der meine Tapes angeschaut und dafür gesorgt hatte, dass ich überhaupt einen Platz an der KUA bekommen hatte. Er lebte mit seiner Familie in der Schule und war der Vertrauenslehrer in meinem Wohntrakt. Zu Recht, denn er war ein angenehmer und zugewandter Mensch, dem man vertrauen konnte.
Wir trainierten von Montag bis Freitag. Eine Einheit dauerte in der Regel zwei Stunden. Zunächst gab es einen 15-minütigen Walk-through durch die geplanten Spielzüge, danach ein Warm-up, individuelles Training in den Positionsgruppen, noch ein Walk-through und zum Abschluss ein Trainingsspiel. Krafttraining stand nicht auf dem Programm, was mich wunderte. Erst in der Off-Season habe ich den Weight Room zu Gesicht bekommen, aber dazu später mehr. Auch Mentaltraining oder Ernährungslehre stand nicht auf dem Plan. Es ging um Football pur. Mir war das recht. Ich wollte zwar alles perfekt machen, aber vor allem Spaß haben.
Der krasseste Unterschied zu den Huskies war die Qualität, mit der mich unser Quarterback bediente. Anfangs musste ich mich auf seine Präzision einstellen, denn ich war bei einer Cross-Route gewohnt, dass der Ball fast nie »on the money« war und ich One-Hand-Catches wie bei NFL Street machen oder mit Paraden wie Olli Kahn durch die Luft fliegen musste, um den Ball zu fangen. Mike warf seine Pässe auf den Punkt, und das mit einer Härte, die mich anfangs fast umblies. In der Woche vor unserem ersten Spiel warf er eine 50-Yard-Bombe, die ich mit einem Hechtsprung aus der Luft pflückte. Das war der Moment, in dem wir alle spürten: Das kann was werden mit uns!
Die Saison begann in der ersten Septemberwoche, also zwei Wochen nachdem wir uns im Training das erste Mal begegnet waren. Wir spielten in der dritten Division von New Hampshire in der Evergreen League. Der Modus sah vor, dass wir in einer Achterliga gegen sieben andere Schulen aus dem Umkreis von maximal zwei Stunden Fahrzeit antraten, und das in einer einfachen Runde, also ohne Rückspiele. Wer nach sieben Spielen den besten Rekord hatte, durfte gegen den Meister einer anderen Liga um einen Regionaltitel spielen. Das sportliche Level war okay und für mich zum Reinkommen genau richtig.
Da der Samstag ein normaler Unterrichtstag war, bekamen wir Footballspieler früher frei, wenn wir auswärts antreten mussten. So auch vor dem ersten Highschool-Match meines Lebens. Wir mussten nur eine Doppelstunde hinter uns bringen und durften dann um 12 Uhr in den Mannschaftsbus steigen und eineinhalb Stunden durch die Wildnis fahren, um zur Dexter Academy zu gelangen. Ich war mächtig gespannt. Vor dem Match hatten wir unsere Adidas-Teamausrüstung bekommen, sodass wir im Einheitslook in den Bus kletterten. Adidas als Ausrüster, Mann, war ich geflasht! Jeder bekam ein Sandwich, einen Apfel, einen Schokoriegel (der damals definitiv purer Luxus war), und los ging die wilde Fahrt.
Highschool-Football ist vergleichbar mit Kreisklassen-Fußball in Deutschland. Es schauen nur ein paar Verwandte und einige Mitschüler zu. Sport pur, aber genau das fand ich super. Ich kann mich an das genaue Ergebnis meines ersten Spiels gar nicht mehr erinnern. Ich weiß nur noch, dass wir das Match gewannen. Ich spielte offensiv Tight End und in der Abwehr Defensive End. In unserem ersten Spielzug lief ich ein Quick-out, bekam sofort den Ball und dachte: »So, Kasim, jetzt haust du den Highlight-Stick raus wie bei Madden und ballerst denen direkt deinen ersten Touchdown vor die Füße.« Nach drei Yards war dieser Plan auch schon wieder Geschichte, denn von der Seite kam ein Linebacker angeflogen, der mich unterhalb vom Knie sauber abräumte. Das tat zwar nicht weh, dafür aber gut. Denn nun wusste ich: Für Überheblichkeit war hier kein Platz.
In Erinnerung geblieben ist mir mein erstes Spiel vor allem, weil ich als Defensive End drei Quarterback Sacks sammelte, obwohl ich mit dem Begriff noch gar nichts anfangen konnte. Tackle, Tackle for loss, Sack – alles das Gleiche, Hauptsache der Ballträger hat Schmerzen! So dachte ich. Aber auf der Homepage unserer Schule stand nach der Partie, dass der neue Deutsche den Quarterback der Dexter Academy dreimal abgeräumt hatte. »Cool«, dachte ich, »das muss dann ja was Besonderes sein.«
Um die Geschichte meiner ersten Highschool-Saison nicht länger zu machen, als die Saison tatsächlich war: Unser Rekord stand am Ende bei 8:0, wir hatten alle Gegner rasiert und waren Regionalchampion. Mit unseren drei Top-Amerikanern und dazu den körperlich überlegenen, vier deutschen Jungs waren wir klar das beste Team. Als Tight End hatte ich mir einen Spaß daraus gemacht, in jedem Spiel einen Gegner, der gerade nicht aufpasste, so hart wie möglich zu hitten. Heute, unter den aktuellen Regeln, wäre jedes Spiel ein Flaggenfest mit Blindside Hits gewesen. Damals war es gang und gäbe, jeden auszuknipsen, der nicht richtig aufpasste.
Coach Lyons sagte uns immer: »Make them feel your presence« – und genau das versuchte ich umzusetzen. Von Woche zu Woche spürte ich den wachsenden Respekt meiner Mitspieler und unserer Gegner. »Watch out for Number 40«, hieß es. Aber Coach Lyons brachte mir auch bei, diesen Respekt auf andere Art zu bekommen. Er war ein Meister darin, seine Emotionen zu kontrollieren. Ganz oft sagte er zu mir: »Kasim, wenn du ein Play machst, lass es so aussehen, als hättest du es schon einmal gemacht.« Respekt vor dem Spiel und dem Gegner waren für ihn das Wichtigste – und das übertrug sich auf mich. Ich wollte mich nie in Aggressivität oder Selbstverliebtheit verlieren, wenn er an der Seitenlinie stand. Ich wollte ihm beweisen, dass ich es genauso draufhabe wie er, mich und meine Gefühle zu kontrollieren.
Für mich war jedes Spiel wie ein Super Bowl, und ich wurde von Spiel zu Spiel besser. Ich war der Go-to-Guy in unserem Team, war der Baba (türkisch für Daddy), und natürlich merkte ich das. Kimball Union war so gut wie nie zuvor. Die ganze Schule war im Footballfieber. Auf einmal standen Mädchen am Spielfeldrand, manche trugen Plakate, auf denen stand: »I dream of Kasim!« Die Leute kamen, um zu sehen, wie wir die Gegner zerstörten. Ein besonderer Tag in der Saison ist der Tag, an dem die ehemaligen Schüler, die Alumni, zum Zuschauen kommen. Wir spielten gegen die Proctor Academy aus Andover, einen unserer ärgsten Rivalen, und mir gelang ein 50-Yard-Return-Touchdown. Hunderte Zuschauer waren da und feierten mich ab. Das war der Hammer!
Schon damals habe ich Football so gespielt, wie ich ihn heute auch spiele. Ich weiß, wo ich herkomme, weiß jede Chance zu schätzen und will daher immer 100 Prozent Leistung abrufen, um mein Bestes zu geben. Ich will mir Respekt verdienen und hoffe, dass meine Mitspieler sagen: Mit dem möchte ich in einer Mannschaft spielen. Während meine Gegenspieler nie gegen mich antreten wollten. Meine Statistiken waren mir in der Highschool vollkommen egal, ich spielte für die Liebe zum Spiel und zu meinen Teammates. Aber natürlich tat mir die Anerkennung gut.
Die Saison war ein einziges Fest. Und wo wir schon beim Thema Fest sind: Eine gute Freundin von Ruben hatte ihn, Kevin, mich und noch ein paar andere Freunde zu ihrem 16. Geburtstag nach New York City eingeladen. Natürlich sagte ich nicht nein. Ich war zuvor noch nie im Big Apple gewesen. Schon die Hinfahrt war spektakulär. Wir fuhren nicht etwa mit dem Bus, sondern wurden mit einem Privatjet und einer Limo durch die Gegend kutschiert! Untergebracht waren wir nicht im Gästezimmer, sondern in einem schicken Hotel. Doch ich merkte schnell, dass New York nicht meine Stadt war. Viel zu busy, immer nur action. Aber cool war es trotzdem, und ein Trip, den ich nie vergessen werde.
In solch einem Umfeld tat es gut, einen Mann wie Coach Lyons an der Seite zu haben, der es verstand, mich zu erden. Was immer er sagte, war für mich die Wahrheit. Eines Tages warf Kevin in der Mensa vor Wut eine Tasse an die Wand, und zwar so heftig, dass die Wand ein Loch hatte. Ich war dabei gewesen, hatte aber nicht eingegriffen. Coach Lyons zitierte uns anschließend beide in sein Büro. In meinem Kopf dröhnte der Imperial-March aus »Star Wars«. Kevin und ich dachten beide: »Diesen Tag überleben wir nicht, er wird uns umbringen!« Tat er zwar nicht, aber der Anschiss war legendär. Es war ein richtiger Papa-Moment, und genau das war Coach Lyons für mich. Eine Vaterfigur, nach meinem Opa die zweite in meinem Leben.
Einmal in der Woche führte er mit mir ein Check-up-Gespräch, um zu hören, wie es mir ging. Sein Büro stand stets für alle seine Spieler offen. Wenn ich Sorgen hatte, baute er mich auf. Er war kein Mann der großen Worte, vor den Spielen sagte er in seiner Ansprache meist nur so etwas wie »Ihr habt die Chance zu zeigen, was ihr könnt. Verschwendet sie nicht und macht euch nicht lächerlich.« Er sagte nie zu viel, aber auch nie zu wenig. Und nach vier Wochen des gemeinsamen Trainings sagte er zu mir: »Kasim, du hast die Chance, mal College-Football zu spielen.«
Ob es diesen einen Moment gab, in dem ihm klar wurde, dass in Kasim Edebali ein NFL-Spieler schlummerte, erinnert sich John Lyons nicht. Aber er weiß noch genau, was er dachte, als er ihn zum ersten Mal traf: »Kasim war mit seiner Mutter zum Try-out der Centurions gekommen, wo ich als Headcoach arbeitete. Ich wusste damals nicht genau, wie weit es von Hamburg nach Köln war, aber als Kasim mir sagte, dass sie fünf Stunden unterwegs gewesen waren, war mir klar, dass mir da ein Junge gegenüberstand, der wusste, was er wollte.« Ted Stewart hatte die Tapes von Kasim gesichtet, weil die KUA, für die beide arbeiteten, auf der Suche nach guten Spielern aus Europa war. Und beide waren schnell der Meinung, dass Kasim ein geeigneter Kandidat war.
»Was mir an Kasim sofort gefiel, war sein Umgang mit Herausforderungen. Er konnte sich unheimlich schnell auf neue Situationen einstellen. Er hat in einer Geschwindigkeit gelernt und sich verbessert, die ich für außergewöhnlich hielt«, erinnert sich John Lyons. Physisch und athletisch habe der Neue einen bleibenden Eindruck hinterlassen, »und dazu kam, dass er von allen gemocht wurde. Kasim hatte immer gute Laune, er war zu allen freundlich, sprach mit jedem und obwohl er anfangs mit der Sprache noch ein paar Probleme hatte, hat er sich sofort an sein neues Lebensumfeld angepasst.«
Die größte Umstellung sei gewesen, dass jeden Tag trainiert wurde. »Und er musste auf der für ihn ungewohnten Position des Defensive Ends spielen. Aber es störte ihn nicht. Alles, was er tat, tat er mit 100 Meilen pro Stunde. Ihm war völlig egal, wo ich ihn aufstellte, er wollte einfach nur spielen. Mit ihm zu arbeiten war eine Freude, denn er war wie ein wildes Pferd, das sehr schnell dazulernte.«
Schon nach wenigen Spielen sei ihm klar gewesen, sagt John Lyons, »dass Kasim es ans Boston College schaffen könnte. Ich hatte selbst an verschiedenen Colleges gearbeitet und wusste, dass er die Anforderungen erfüllen konnte. Aber ich wollte, dass er eine Auswahl hatte und von den besten Lehrern begleitet würde, die ich mir für ihn vorstellen konnte. Also nutzte ich meine Kontakte und organisierte ihm Probetrainings an verschiedenen Schulen.« Bevor Kasim zu diesen Camps reiste, versuchte ihm sein Coach einzubläuen, wie wichtig sie als Visitenkarten seien. »Deshalb habe ich versucht, ihn so gut wie möglich darauf vorzubereiten.«
John Lyons erinnert sich an einen Tag, an dem er mit Kasim zum Boston College nach Chestnut Hill fuhr, um ihm den Campus zu zeigen. »Es ist wirklich ein sehr schöner Campus, toll gelegen und mit allem ausgestattet, was ein College dieser Klasse haben sollte. Je länger wir dort spazieren gingen, desto größer wurden Kasims Augen. Irgendwann fragte er, ob ich mir wirklich sicher sei, dass einer wie er an so einem College studieren könnte. Ich bejahte und sagte, dazu sei allerdings vor allem außerhalb des Footballfelds harte Arbeit erforderlich, damit er seinen Notendurchschnitt auf das nötige Niveau heben würde. Ich sah, wie es in ihm arbeitete. Und von da an hat er auch in der Schule noch mehr Gas gegeben.«
Die Eigenschaft, zu tun, was von ihm erwartet wird, bewertet John Lyons als Kasims größte Stärke. »Er hatte klare Ziele und gab alles, um sie zu erreichen«, sagt er. Obwohl der Coach seinen Topspieler immer wieder angetrieben habe, sich körperlich auf das College vorzubereiten, sei seine Rolle oftmals eher die des Bremsers gewesen. Vor allem im Krafttraining habe er aufpassen müssen, dass sich sein Musterschüler nicht übernahm.
»Kasim wollte immer noch mehr Gewichte stemmen. Da musste ich manches Mal eingreifen, damit er sich nicht selbst Schaden zufügte.« Kasims körperliche Entwicklung sei enorm gewesen. »Aber auch charakterlich ist er in den zwei Jahren in Kimball enorm gewachsen. In der zweiten Saison war er unser Team Captain. Als Ausländer ist es keinesfalls selbstverständlich, dass man von 50 Amerikanern akzeptiert wird. Aber er war unser bester Spieler. Ich habe niemanden ein schlechtes Wort über ihn sagen hören. Alle wollten immer Zeit mit ihm verbringen.«
Auch John Lyons hat die Zeit genossen, die er privat mit Kasim verbracht hat. Vor dem Try-out-Camp am Boston College lud er Kasim und den Dänen Kevin Gangelhoff, der bei der University of New Hampshire für ein Stipendium vorspielen sollte, zu sich nach Hause ein. »Ich erinnere mich an ein Abendessen. Ich hatte von einem früheren Schüler zwölf frische Hummer aus Maine bekommen, die ich zubereiten wollte. Kasim hatte noch nie Hummer gegessen. Als er sah, dass ich sie lebend in das kochende Wasser legte, sah er aus, als müsse er sich sofort übergeben. ›Das kann ich nicht essen, Coach!‹, sagte er. Und er aß tatsächlich kein einziges Stück von dem leckeren Lobster!«
Nach 47 Jahren als Coach ging John Lyons, der heute in Vermont lebt, im Herbst 2021 in Rente. Rund ein Dutzend Spieler, die er trainiert hat, haben es in die NFL geschafft. »Aber Kasim hat es dort am längsten ausgehalten«, sagt er. Und er ist einer von einer Handvoll Spielern, mit denen Coach Lyons über viele Jahre in Kontakt geblieben ist. »Ich liebe es, mit ihm zu reden. Kasim ist definitiv einer der Spieler, die ich am liebsten trainiert habe. Ich wünschte, alle hätten die Energie, die er ausstrahlt«, sagt er. Und das mit dem Hummeressen will er beim nächsten Treffen nachholen. Wäre doch gelacht, wenn Kasim das nicht auch noch lernen würde.
Als meine erste Highschool-Footballsaison nach zwei Monaten beendet war, bekam ich tatsächlich eine Reihe von Anfragen verschiedener Colleges. Für mich ging es jedoch zunächst darum, überhaupt in Form zu bleiben, denn die kommende Saison begann ja erst im Herbst des nächsten Jahres. Unser Schuljahr war in Trimester aufgeteilt, und für jedes Trimester musste man einen anderen Sport wählen. Im Winter, wenn es in New Hampshire gerne mal 20 Grad unter null kalt wird und 50 Zentimeter Schnee fallen, wählte ich Krafttraining. Erst konnte ich gar nicht glauben, dass das als eigene Sportart galt. Aber weil Coach Lyons der Lehrer war und die Aussicht, jeden Tag in den Kraftraum zu gehen, eine Faszination auf mich ausübte, fiel mir die Entscheidung nicht schwer.
Im Frühjahr entschied ich mich dann für Lacrosse. Das ist ein Sport indianischen Ursprungs, den in Europa nicht so viele kennen. Man muss einen Ball mit einem Schläger, an dessen Ende ein Netz angebracht ist, passen und im gegnerischen Tor unterbringen. Was soll ich sagen? Lacrosse war, nun ja, eine Erfahrung. Körperlich war ich auch dort allen überlegen, aber meine Technik war mies. Aber ich bin überzeugt davon, dass mir Lacrosse für die Hand-Augen-Koordination einiges gebracht hat.
Im Frühling traf ich mich mit einigen Jungs aus dem Footballteam, um ein paar Routen zu laufen, aber Training gab es noch nicht. Das fand ich komisch, aber so war eben das System. Football blieb ein ständiges Thema, weil Coach Lyons mir immer wieder vom Interesse einiger Colleges berichtete. Einmal kam der Scout des Boston College sogar an unsere Schule, um mich zu treffen. Ich saß in der Mensa, als dieser Typ mit dem BC-Logo auf seinem Shirt reinkam. Es wurde still, alle wussten, wer das war, aber nicht, was er wollte. Er kam auf mich zu, ergriff meine Hand und sagte mit lauter, fester Stimme: »Kasim, nice to meet you!« Ich wäre fast zusammengesackt vor Respekt, versuchte aber, mir nichts anmerken zu lassen. Brust raus, Bauch einziehen und möglichst entspannt wirken.
Er lud mich ein, im Juli zum Boston College Highschool Camp nach Chestnut Hill zu kommen. Ich war komplett geflasht. Das Problem dabei: Das Camp sollte 400 Dollar kosten, und ich wusste nicht, woher ich so viel Kohle nehmen sollte. Zum Glück brachte Coach Lyons die Schule dazu, mir das Ganze zu finanzieren. Weil das Schuljahr beendet war und ich direkt aus Boston nach Hamburg fliegen wollte, nahm er mich bei sich zu Hause auf und brachte mich sogar nach Boston.
Bevor ich dort antrat, hatte ich noch einige weitere Try-outs. Zum Beispiel an der University of Connecticut in Mansfield, die mir sofort ein Stipendium anbieten wollte. Oder an der University of Southern Mississippi in Hattiesburg. Das war krass. Die bezahlten den Flug, quartierten mich in einem tollen Hotel ein. Abends ging ich mit ein paar der Jungs in den Club und war gefühlt der Einzige ohne Goldzähne.
Mir sagten sie dort, ich müsse für nichts bezahlen. Das hätten sie lieber nicht gesagt, denn ich rief aus dem Hotelzimmer meine Mama in Hamburg an, und das nicht nur einmal. Am Ende, als ich mich entschied, nicht nach Mississippi zu gehen, erhielt ich eine Rechnung über 700 Dollar, die ich privat bezahlen sollte. Ferngespräche nach Deutschland waren also anscheinend nicht Teil des All-inclusive-Deals. Ich weiß nicht, wie Coach Lyons es geschafft hat, dass ich nichts bezahlen musste. Wahrscheinlich hat er die Rechnung für mich beglichen.
Immerhin hatte ich, als es am Boston College ernst wurde, schon ein paar andere Erfahrungen gesammelt. Aber das Camp, das mich nun erwartete, war härter als alles, was ich bisher erlebt hatte. Mehr als 800 Kids aus ganz Neuengland waren vor Ort, die Besten ihrer Jahrgänge. Von morgens bis abends wurden wir in verschiedenen Drills getestet. Nie zuvor hatte ich solche Schmerzen, nie hatte ich mich so schwach gefühlt. Aber mein Gefühl sagte mir, dass meine Chancen nicht so schlecht standen. An der Wand unserer Unterkunft hingen Zettel mit den Namen aller Teilnehmer, und meiner war als einer von wenigen ganz fett gedruckt. Das musste doch was bedeuten!
Tatsächlich rief mich Coach Jeff Commissiong, der das Try-out geleitet hatte, gegen Ende des Camps in sein Büro. Meine Mutter hatte mir gesagt, dass ich zu solchen Gesprächen immer ein ordentliches Hemd anziehen müsse. Also zog ich mir, so schnell ich konnte, mein feinstes Button-down-Shirt an, das allerdings nicht wirklich perfekt zu meinen Stollenschuhen und der kurzen Sporthose passte, die ich noch trug. Der Coach grinste, als er mich sah, und fragte: »Why do you wear a button-down to your shorts and shoes?« »Because my mom told me to wear a neat shirt for occasions like this, coach.« Er lachte und sagte, meine Mutter habe recht. Dann sagte er: »Du hast einen guten Job gemacht, aber wir haben andere Kandidaten für ein Stipendium.« Boom! Tiefschlag! Ich war enttäuscht, versuchte aber, mir nichts anmerken zu lassen und bedankte mich für die Möglichkeit, mich vorzustellen.
Coach Lyons war, wie es so seine Art ist, die Ruhe in Person, als ich ihm davon erzählte. »Bleib cool und warte ab. Die spielen ein Spiel, und die Zeit ist auf deiner Seite«, erklärte er mir. Also flog ich nach Deutschland, um den Sommer in der Heimat zu genießen. Nach ein paar Wochen erhielt ich einen Anruf der University of Connecticut, die mir ein Vollstipendium anbot. Daraufhin rief ich bei Coach Lyons an, um zu fragen, wie ich damit umgehen solle. Er sagte: »Ruf in Boston an und sag ihnen, dass du nach Connecticut gehst.« »Aber ich will da nicht hin«, sagte ich. »Sag es trotzdem.« Also rief ich in Boston an und sagte: »Ich habe eine Offerte aus Connecticut und werde sie annehmen.« Die Antwort war: »Warte noch, wir melden uns umgehend.« Taten sie auch – mit einem Angebot für ein volles Stipendium! Coach Lyons hatte das Spielchen natürlich sofort durchschaut. Ich konnte es kaum fassen.
Bevor ich aber ans Boston College gehen konnte, musste ich in meinem zweiten Highschool-Jahr dafür sorgen, dass meine Noten ausreichen würden, um das Stipendium wirklich zu erhalten. Außerdem wollte ich das Jahr nutzen, um mich körperlich in bestmögliche Form zu bringen. Die Schule willigte in eine Ausnahmeregelung ein, die es mir erlaubte, in zwei Trimestern Krafttraining als Sport zu wählen, sodass ich auf Lacrosse verzichten konnte. Knackiger Bizeps war garantiert!
In unserer zweiten Football-Saison hatten wir eine Mannschaft zusammen, die meiner Meinung nach noch etwas stärker war als die erste. Unsere drei Postgraduates waren nicht mehr dabei. Dafür hatten wir mit Tight End Jimmy Vailas, Linebacker Juan Bretton und Quarterback Ryan Burgess drei Jungs dazubekommen, die die Qualität zumindest nicht schmälerten. Ich wurde zum Team Captain bestimmt, was ich als riesengroße Ehre empfand. Wie Coach Lyons gesagt hatte: Es ist nicht selbstverständlich, dass dir 50 Amerikaner folgen, wenn du Ausländer bist. Diesen Respekt, den mir meine Teammates erwiesen, wollte ich mit Leistung zurückzahlen. Dadurch wuchs allerdings die Last auf meinen Schultern. Dennoch empfand ich die zweite Saison als einfacher, weil ich wusste, was mich erwartete – und was von mir erwartet wurde.
Obwohl wir ein stärkeres Team waren, mussten wir leider eine Niederlage einstecken. Wir spielten auswärts in New Hampton, es war wirklich eine enge Kiste. Zwischenzeitlich lagen wir mit 20 Punkten zurück, woran ich eine Mitschuld trug. Ich war damals auch Kicker unseres Teams, denn ein kräftiger Deutscher, der in seinem Land Fußball gespielt hat, war für die Position prädestiniert. Hart und weit konnte ich, aber nicht präzise. Vor dem Match hatte das Trainerteam davor gewarnt, beim Kick-off den Ball zur gegnerischen Nummer 17 zu kicken, weil: Granate beim Return. Und was tat ich? Kickte den Ball in die Arme der 17. Der Typ lief los, knallte 100 Yards durch und legte uns den Ball in die Endzone. Mein einziger Gedanke: »Scheiße, Kasim!«
Nun wollte ich meinen Fehler unbedingt wiedergutmachen. Kurz vor Spielende lagen wir mit zwei Punkten vorn. Dritter und 17 an unserer 40-Yard-Line. Ich hatte mir in einem vorangegangenen Spiel alle Bänder im Daumen der linken Hand gerissen, spielte mit Gips und Orthese, konnte aber trotzdem alles fangen. Ich lief eine Cross-Route, bekam den Ball, packte ihn in die gesunde rechte Hand und rannte los. Da blitzte von der Seite ein Helm auf, den ich zu spät kommen sah. Helm schlug auf Knochen und Ball. Ball auf den Boden – Fumble! Knochen im Handgelenk gebrochen – Schmerzen! New Hampton war schon in Fieldgoal-Range und brauchte nur dieses Fieldgoal zum Sieg. Im letzten Angriff schafften sie es und gewannen mit einem Punkt Vorsprung. So ungerecht kann Football sein.
Erst zwei Monate später, nachdem die Schmerzen nicht nachlassen wollten, wurde das Handgelenk geröntgt und der Bruch festgestellt. Der Arzt, der mir eine Operation nahelegte, sagte: »Ich kann ihnen nicht versprechen, dass sie je wieder Football spielen können.« Was redest du, dachte ich. Was soll das heißen, nie wieder Football? Ich muss im Sommer ans Boston College! Zum Glück heilte das Ganze gut aus. Aber die sechs Wochen, in denen ich das Handgelenk nicht belasten durfte, waren emotional die härtesten, die ich bis dahin erleben musste. Die Ungewissheit nagte an mir und killte die gute Laune, die mich sonst ausgezeichnet hatte. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich dauerhaft schlecht gelaunt. Ein Gefühl, das ich nicht kannte – und nicht wollte. In diese Zeit fiel mein offizieller Antrittsbesuch am Boston College. Alle fragten, warum mein Handgelenk verbunden sei. Meine Antwort: »Ist nichts, nur eine kleine Sache.« Stärke zeigen, selbst wenn man sich schwach fühlt, auch das gehört zum Football.
Heute bin ich dankbar für die Lektion, die ich damals gelernt habe. Man kann nicht immer in der optimalen Situation sein, und muss aus jeder Situation das Beste machen. Auch wenn etwas nervt, negatives Denken hilft nicht weiter. Ich nutzte damals die Zeit, um alles zu machen, was ich machen durfte, und arbeitete an meinen Schwächen. Attitude ist der Schlüssel!
In meinem letzten Highschool-Footballspiel hatte ich eine interessante Begegnung. Wir spielten gegen die Vermont Academy, damals das schwächste Team der Liga, und wir nahmen die Partie zu sehr auf die leichte Schulter. Beim Kick-off räumte mich einer der Gegner komplett ab. Auf der Bank feierten sie, als hätten sie das Spiel gewonnen. Der Typ stand auf und sagte zu mir: »Es ist wirklich unglaublich, gegen dich spielen zu dürfen!« Das zeigte, welchen Stellenwert ich durch meinen Wechsel zum Boston College bereits hatte. Nach der Partie ging ich in die Kabine des Gegners, schüttelte meinem Gegenspieler die Hand und gratulierte ihm zu seinem Move. Auf der Homepage der Vermont Academy wurde das am nächsten Tag groß gewürdigt. Ich hatte in dem Moment nur an Coach Lyons und seine Worte gedacht, dass man das Spiel respektieren, ein Gentleman sein und im Leben so viele richtige Entscheidungen wie möglich treffen muss.
Nachdem die Saison beendet war, habe ich versucht, mich bestmöglich auf die nächsten Herausforderungen vorzubereiten. Meine Noten und mein Sprachvermögen wurden besser, vor allem aber gab ich im Kraftraum alles, und noch ein bisschen mehr. Während meine Mitschüler im letzten Trimester vor allem damit beschäftigt waren, Spaß zu haben und Party zu machen, ging ich in jeder freien Minute in den Kraftraum oder aufs Feld, um zu trainieren. Es gibt ein Foto von dem Abend, an dem der traditionelle Prom stattfand. Es zeigt mich in Sportklamotten neben einer Mitschülerin im schönsten Kleid. Sie ging danach zum Tanzen, ich tanzte auf dem Spielfeld imaginäre Gegner aus.
Im Mai hatten wir unsere Abschlussfeier. Meine Mutter flog extra aus Hamburg ein, was mir sehr viel bedeutete. Ich erhielt einen Award als der internationale Schüler, der die Community am besten zusammenbrachte. Der Preis war ein Buch über Leadership. Ich habe es heute noch. Coach Lyons sagte in der Laudatio, ich hätte alle Anlagen dazu, ein echter Anführer zu werden. Dieser Abend übertraf sogar alles, wovon ich zwei Jahre zuvor nicht einmal zu träumen gewagt hatte.
Ich flog randvoll mit Emotionen und Eindrücken nach Hamburg zurück. Mit dem Wissen, dass im Juli 2009 meine Zeit am Boston College beginnen sollte, war ich fest entschlossen, nichts schleifen zu lassen, sondern mit Volldampf weiter an mir zu arbeiten. Und das tat ich dann bereits in der Minute, in der das Flugzeug Hamburger Boden berührte. Wie immer schrieb ich schnell eine SMS an Sebastian Schulz, den Jugendcoach der Huskies. Ich fragte ihn, wann das nächste Training sei. Er schrieb: »In zwei Stunden haben wir ein Scrimmage gegen die Elmshorn Fighting Pirates.«
Was tat ich? Natürlich fragte ich meine Mom, ob sie mich vom Flughafen schnell zum Platz fahren könnte, um mitzuspielen. »Willst du nicht erst mal schlafen?«, fragte sie. Immerhin war ich 16 Stunden unterwegs gewesen und kam aus einer anderen Zeitzone. »Schlafen kann ich später«, sagte ich. Und so spielte ich zwei Stunden nach meiner Rückkehr für die Hamburg Huskies gegen Elmshorn. Natürlich hatte ich meine Stollenschuhe vergessen, aber ich wollte unbedingt zeigen, was ich alles dazugelernt hatte. »Kasim, bist du bereit?«, rief Schulz. »Normal! Schön, wieder mit euch auf dem Platz zu sein, Jungs«, sagte ich im Huddle. Alle hatten ein Grinsen im Gesicht.
»Kasim Screen left auf eins, ready, break«, war der Huddle-Call. Im ersten Spielzug direkt erstmal quick six für 50 Yards. Mein Herz war voller Freude, jeder Tag war ein neuer Tag, an dem ich mich mehr in den Football verlieben konnte. Nichts kann mich stoppen, dachte ich mir. Aber wie sagt man so schön: Ich wusste nicht, wie viel ich nicht wusste.