Der Veteran, der die Tür zum Locker Room öffnete, wusste sofort Bescheid. »Oh, ihr habt Coach Loco kennengelernt«, sagte er mit einem fiesen Grinsen im Gesicht zu den ungefähr 20 Freshmen, die vor ihm auf dem Teppichboden und den Edelholzbänken lagen, unfähig, sich weiter zu bewegen als unter die Dusche, nach Luft ringend und fertig mit der Welt. Die Umkleiden am Boston College waren nicht mal ansatzweise mit dem zu vergleichen, was ich aus der Highschool gewöhnt war. Mit ihrer noblen Einrichtung sahen sie aus wie die Lobby eines Fünfsternehotels. Aber in diesem Moment hätte ich mich auch mit einer staubigen Straße im Busch zufriedengegeben. Ich wollte einfach nur liegen und darauf warten, bis die Schmerzen aus meinen Muskeln wichen.
Es war ein heißer Sommertag Anfang Juli 2009, und die Neulinge im Footballteam der Boston College Eagles, zu denen ich zählte, hatten ihr erstes Konditionstraining der Vorbereitung auf die neue Saison hinter sich. Dieses Erlebnis hatte mir mein Hirn komplett freigeblasen. Alles, was ich bislang für hartes Training gehalten hatte, wirkte unter Jason Loscalzo plötzlich wie ein Aerobic-Kurs im Wellnesshotel. Loscalzo war unser Athletik-Coach, er ist aktuell in der NFL bei den Chicago Bears unter Vertrag. Aber niemand nannte ihn Coach Loscalzo, alle sagten »Coach Loco«, und mir wurde bei der ersten Begegnung sofort klar, warum das spanische Wort für »verrückt« zu ihm passte wie der Hafen zu Hamburg.
Coach Locos Familie hat ihre Wurzeln im Militär, und davon hatte einiges auf ihn abgefärbt. Während des Warm-ups vor dem ersten Lauftraining schaute ich mich im Kreis meiner neuen Mitspieler um und dachte: »Kasim, du bist einer der Stärksten hier, das wirst du locker rocken.« Auf einmal bellte Coach Loco mit seiner Wachhundstimme: »All behind the line!« Wir sollten 80-Yard-Sprints (etwas mehr als 73 Meter) laufen, die sogenannten Eighties, für die wir zehn Sekunden Zeit hatten. Dazwischen 30 Sekunden Pause, dann der nächste. Was passieren würde, falls jemand vor der Grundlinie startete, ließ Coach Loco offen, aber es war klar, dass das nichts Gutes bedeuten würde. Also achtete ich penibel darauf, dass nicht einmal mein kleiner Zeh die Linie berührte.
Alle wollen einen guten ersten Eindruck machen, aber es gibt drei verschiedene Sorten von Jungs: Die, die sich in Usain Bolt verwandeln, aber nach einem Sprint keine Puste mehr haben. Die, die nur das Notwendigste machen und versuchen, konstant zu bleiben. Und die mit null Cardio, die von Anfang an keine Chance haben. Aber egal, zu welcher Sorte man gehörte: Nach fünf Sprints waren wir alle gleich: komplett aus der Puste mit brennenden Lungenflügeln! Nach dem siebten von acht Läufen stützte sich einer der dicken Jungs mit seinen Armen auf den Oberschenkeln ab, weil er sich nicht mehr aufrecht halten konnte. »What the fuck?«, hörte ich die Stimme von Coach Loco die Hitze durchschneiden, »everybody start over again!«
Wie bitte? Der Typ meinte wirklich, wir sollten noch mal von vorne anfangen? Ja, meinte er, und das war keine freundliche Bitte, sondern ein Befehl. In diesem Moment wurde mir schlagartig klar, dass es nun vorbei war mit »Friede, Freude, Eierkuchen«. Das hier war Footballtraining auf einem Niveau, wie ich es nie zuvor erlebt hatte. Wir liefen insgesamt 20 Eighties und waren bereit fürs Sauerstoffzelt. Wenn ich jemals eine magische Bohne von Meister Quitte gebraucht hätte, dann wäre es in diesem Moment gewesen. Coach Loco war das ziemlich latte. Er sagte nur: »Jungs, wer von euch spielen will, muss 32 Eighties laufen können.« Schöne Aussichten. Kleiner Spoiler: Coach Loco meinte es ernst.
Als ich den Sommer zwischen Highschool und College in Hamburg verbrachte, hatte ich all das weit von mir geschoben. Wenn ich ehrlich bin, war es mir kaum anders gegangen als zwei Jahre zuvor, als ich in mein Abenteuer Amerika gestartet war. Natürlich hatte ich mehr Selbstvertrauen, ich wusste, dass ich in der Highschool ordentlich abgeliefert hatte. Aber wieder war es wie ein Sprung ins kalte Becken, ich hatte keine Ahnung, was mich erwartete. Ich war ein 19-Jähriger, der in den Sommerferien versuchte, sich in die beste Form seines Lebens zu bringen, um im Football eine gute Figur abzugeben. Alles andere würde schon laufen, dachte ich. Und mit dieser Einstellung flog ich Ende Juni zurück in die USA.
Die meisten Studierenden zahlen im Jahr gut 50.000 Dollar Gebühr, um am Boston College lernen zu dürfen. Es ist die älteste (1863 gegründet) und zweitgrößte Jesuitenhochschule der USA. Gut 10.000 Studenten wohnen auf dem Gelände. Für mich war es eine neue Welt, die mich von Beginn an faszinierte. Dennoch hatte ich mir eine gewisse Gelassenheit bewahren können. Die zwei Jahre in der Highschool und der Support, den ich von meiner Familie, meinen Freunden und auch aus dem neuen Umfeld bekam, hatten mich sehr bestärkt.
Es machte mich stolz, ein Vollstipendium für dieses College erhalten zu haben. Ich hatte nicht nur keine Studiengebühren zu zahlen – als Mitglied des Footballteams, das wie alle anderen Sportmannschaften des Boston College auch unter dem Namen Eagles antrat, erhielt ich die Eagle Card, eine Art Kreditkarte, die jeden Tag mit 44 Dollar aufgeladen wurde. »Alter«, dachte ich anfangs, »wie willst du jeden Tag 44 Euro verfressen?« Aber wenn man weiß, dass ein Sandwich 8 Dollar kostet und eine anständige warme Mahlzeit 25, dann sieht das Ganze schon etwas anders aus. Mein Glück war, dass ich oft von den Mädels eingeladen wurde, die ihr Budget nie ganz ausschöpften. Eine ganze Reihe der großen Jungs aus meinem Team, für die zwei warme Mahlzeiten am Tag die Minimalgrenze waren, gingen oft hungrig ins Bett. Heute ist das Limit unbegrenzt, weil alle wissen, dass ausreichende Ernährung gerade für Sportler unerlässlich ist. Aber damals musste man mit den 44 Dollar klarkommen.
Um am Boston College angenommen zu werden, hatte ich nicht nur im Trainingscamp einen guten Eindruck hinterlassen und ausreichend gute Schulnoten vorweisen müssen. Ich musste auch einen Wissenstest bestehen, den SAT. Das ist ein Test mit Multiple-Choice-Fragen aus diversen Kategorien, der vier Stunden dauert und dir ganz schön den Hintern versohlt, wenn du nicht halbwegs ordentlich gelernt hast. Als ich den Test in meinem ersten Highschool-Jahr gemacht habe, hatte ich keinen Plan, was das überhaupt ist. Ich spielte »Ene, mene Muh« und dachte mir ein System aus, das ich für schlau hielt: Kreuze nie zweimal hintereinander denselben Buchstaben an! Mein Score lag, es wird euch nicht überraschen, weit unter dem Durchschnitt. Im zweiten Jahr hatte ich dann, auch dank der Unterstützung der Menschen in meinem Umfeld an der Kimball Union Academy, so viele Punkte, dass es genügte, um die Zulassung fürs College zu bekommen.
Ich war mir schnell bewusst, wie außergewöhnlich so ein Vollstipendium ist. Es ist wirklich ein Segen, welche Chancen aussichtsreiche Sportler in den USA geboten bekommen. Manche müssen nach dem College 20 Jahre arbeiten, um ihre Studienschulden abbezahlen zu können. Mir war bewusst, was für ein Privileg ich genoss, und diese Chance wollte ich unter allen Umständen nutzen!
Das Schuljahr am Boston College beginnt im September, aber als Neuer hatte ich Anfang Juli zur Freshman Orientation anzutreten, was nicht weiter schlimm war, weil auch die Vorbereitung auf die Saison Anfang Juli startete. Außerdem müssen alle Athleten in den Semesterferien zur Summer School. Diese speziellen Kurse lassen sich am besten wie eine Art Versicherung beschreiben. Wenn man während der Saison vielleicht mit einem Fach Probleme bekommt, kann man es droppen und die Credits aus der Summer School verwenden. Und wenn man im Sommer immer gut ist, kann man den Abschluss ein oder zwei Semester früher machen.
Ich reiste also Ende Juni in Chestnut Hill an. Im Gepäck drei Hosen, drei Sweatshirts, Unterwäsche, dafür aber keine Anzüge und Krawatten. Am College gab es keine Kleiderordnung. Fand ich super!
Genauso super war die erste Woche. Du kommst an und fühlst dich unwohl, weil du nicht weißt, was dich erwartet. Aber allen anderen, die neu dabei sind, geht es genauso, und diese Connection hat uns sehr schnell ganz eng zusammengeschweißt. Die Zimmer wurden nicht zugeteilt, sondern verlost. Man konnte Glück haben und ein Zweibettzimmer bekommen – oder den Sechs-Mann-Schlafsaal. Anfangs dachte ich, dass Footballspielern, die ein besonderes Standing am College haben, alles in den Hintern geschoben wird und wir in Suiten wohnen würden. Aber dem war nicht so. Die Zimmer waren kleiner als in der Highschool und vollkommen unspektakulär.
Ich bekam ein Zweierzimmer. Mein Mitbewohner war Bryan Davis, und wenn ihr euch noch an meinen kanadischen Roommate aus der Highschool erinnert, dann stellt euch einfach das genaue Gegenteil vor und ihr habt Bryan vor Augen. Er war ein O-Liner aus Atlanta (Georgia), Afroamerikaner, Dreadlocks, und im Vergleich mit ihm müsste man mich schüchtern nennen. Bryan war immer laut, Schamgefühl kannte er nicht. Er war unordentlicher als ich. Chaos pur, aber wir haben es trotzdem gemeinsam durch das erste Jahr geschafft.
Von Bryan lernte ich viel über die Soziologie und die Kultur in den USA. Ich war immer noch wie ein Schwamm, der alles in sich aufsog. Vor allem an meiner Sprache musste ich weiterhin arbeiten. Bryan sprach mit einem harten Südstaatenakzent und verwendete Worte, die es in den New-England-States gar nicht gibt. Zum Beispiel sagte er »I’m finna go there« statt »I’m going to go there.« Ich begann, das Wort Finna auch zu nutzen, aber wenn ich das im Unterricht tat, wurde ich von den Lehrern irritiert angeschaut und korrigiert, denn ein Wort, das offiziell nicht existierte, sollte im College auch nicht verwendet werden. Und wieder hatte ich etwas gelernt.
Wir Freshmen wohnten mit allen anderen Teammitgliedern im sechsten Stock unseres Gebäudes. Meine Teammates sahen ganz anders aus als in der Highschool. Nicht mehr wie Teenager, sondern wie Familienväter, die zu Hause Kinder zu versorgen hatten. Obwohl ich zwei Jahre älter war als die meisten anderen Freshmen, hatte ich das Gefühl, körperlich mithalten zu können.
Ich erinnere mich an einen Abend in der ersten Woche, an dem ich ohne Shirt über den Flur lief und einer der anderen Freshmen ankam. Er packte mich am Arm und fragte: »Wie kriegt man so einen Bizeps? Ich will auch solche Arme haben wie du!« Dann stellte er sich vor. Es war Luke Kuechly. Genau, der Luke Kuechly, der drei Jahre später in der ersten Runde gedraftet, siebenmal in Folge für den Pro Bowl nominiert wurde und als einer der besten Linebacker der 2010er-Jahre gilt. Von dem Tag an waren Luke und ich Freunde. Er ist einfach ein Supertyp. Apropos super: Wir waren alle davon überzeugt, dass Luke Superman war. Immer unscheinbar wie Clark Kent mit Brille, sah er aus wie ein normaler Student. Aber am Gameday zerstörte er mit seiner Superpower alles und jeden.
Während der Summer School genossen wir ein relativ entspanntes Leben. Von 6 bis 8 Uhr morgens waren wir im Gym, 12 bis 13 Uhr dann Walkthrough mit dem gesamten Team ohne Coaches, viermal die Woche gab es von 18 bis 21 Uhr Unterricht, der Rest war Freizeit. Aber das änderte sich radikal, als das Trainingslager im heimischen Alumni Stadium begann. Vier Wochen lang bewegt man sich in dieser Zeit im »magischen Viereck«: Schlafraum, Kantine, Stadion, Meeting Room. Die erste Einheit begann um 6.30 Uhr im Kraftraum. Danach Meeting, Training, Mittagessen. Training, Meeting, Abendessen. Um 21.30 Uhr endete der Tag, um 22 Uhr lag ich auf meiner Gummimatratze und schlief wie ein Stein.
Ich merkte schnell, dass mich sportlich der Ernst des Lebens eingeholt hatte. Körperlich war ich zwar auf der Höhe, aber das waren die anderen Jungs auch. Schnelligkeit und Explosivität brachten alle mit. In den Drills wurde ich hochgehoben und weggeworfen, als wären die anderen Bud Spencer und ich ein Statist. Ich dachte, ich stelle mich einfach in den Weg, so wie es in der Highschool auch funktioniert hatte, aber unsere Tightends marschierten durch mich durch wie Ray Lewis durch Chad Johnson. Niemand gibt gerne zu, dass er unterlegen ist. Aber ich spürte: Diese Jungs attackieren. Und mir fehlte die Technik, um damit umgehen zu können.
Als das erste Roster rauskam, stand mein Name ganz unten. Ich war der fünfte Defensive End, vor mir standen Max Holloway, Alex Albright, Brad Newman und Jim Ramella. Doch nach der ersten Woche im Trainingslager verletzte sich unser Fullback James McCluskey, und Headcoach Frank Spaziani sagte zu mir: »Edebali, du bekommst deine Chance, wir wollen sehen, was du kannst!« Ich brannte natürlich an beiden Enden, und ich dachte: »Klar, das kannst du!« Konnte ich aber nicht. Nach einer Woche kam Runningback-Coach Ben Sirmans, jetzt RB-Coach der Packers, zu mir und sagte: »Du hast einen guten Job gemacht, aber du gehst zurück auf Defensive End.« Was übersetzt hieß: »Du hast alles gegeben, aber bist noch nicht gut genug.« Das tat weh, auch wenn ich als Freshman nicht erwarten konnte, gleich durchzustarten. Ich hatte das dumpfe Gefühl, nicht abgeliefert zu haben.
Dieses Gefühl bestätigte sich wenig später, als mein Positionscoach Jeff Commissiong mir eröffnete, dass ich meine erste Saison als Redshirt absolvieren würde. Redshirten bedeutet, dass man zwar zum Trainingskader zählt und auch bei den Spielen als Back-up dabei ist, aber im Normalfall keine Chance hat zu spielen. Im Nachhinein betrachtet war dieses Jahr für mich sehr wertvoll. Aber damals war meine Enttäuschung groß. Schließlich war bis dahin doch alles so glatt gelaufen.
Nur 6 von 21 Freshmen schafften es in den Spielkader. Für alle Redshirts und die Verletzten galt es, an jedem Sonnabend vor Heimspielen im noch leeren Stadion um 6 Uhr morgens zu einem Workout anzutreten. Diese Workouts waren anstrengender als jedes Spiel. Bis heute bekomme ich Albträume davon, ganz besonders aber von dem Workout vor dem ersten Saisonspiel, und das habe ich ganz allein mir selbst zuzuschreiben.
Es war am 5. September 2009, die Saison sollte gegen die Northeastern Huskies starten. Von unserem Wohnhaus zum Stadion benötigte man zu Fuß gut zehn Minuten. Fünf Minuten vor Beginn des Workouts mussten alle zum Wiegen antreten. Bryan und ich hatten den Wecker auf 5.30 Uhr gestellt, was uns ausreichend Zeit gegeben hätte. Aber ich war müde und wollte noch fünf Minuten weiterdösen. Während Bryan also loslief, setzte ich meinen Matratzenhorchdienst fort. Um 5.52 Uhr riss mich der Klingelton meines Mobiltelefons aus dem Schlaf. Drei Minuten noch, bis ich auf der Waage stehen sollte! Nicht zu schaffen! In Boxershorts und Schuhen sprintete ich los. Wie Jacky Chan sprang ich die Million Dollar Stairs hinunter, um vom Upper Campus zum Stadion zu kommen. 6.03 zeigte meine Uhr, als ich im Locker Room ankam. Er war leer.
Ein Assistenztrainer wartete im Bereich, wo die Waagen standen. Er sagte nur: »Edebali, get dressed and get on the field!« Machte ich. Coach Loco stand mit den anderen Redshirts und den Verletzten an der Mittellinie. Als er mich aufs Feld sprinten sah, brüllte er: »Edebali, stay over there!« Ich musste mich in der Endzone an den Pfosten eines Tores setzen. Von dort hörte ich, wie Coach Loco wütete: »Edebali hat sich dafür entschieden, egoistisch zu sein und zu spät zu kommen. Und weil Football ein Teamsport ist, muss nun das ganze Team seinen Fehler ausbaden.«
Das anschließende Straftraining war die Hölle. Die Jungs mussten 100 Up-Downs machen, danach Bear Crawls 100 Yards das Feld hoch und wieder runter, dann wieder 100 Up-Downs. Das Thermometer zeigte 25 Grad, und das so früh am Morgen. Manche kotzten sich selbst aufs Shirt, einer pinkelte sich sogar in die Hose. Und ich? Saß regungslos an meinem Torpfosten und musste zuschauen, wie die Jungs meinetwegen zu leiden hatten. Vom Sitzen tat mir das Steißbein weh, aber natürlich traute ich mich nicht, auch nur einen Mucks von mir zu geben. Ich hörte, wie die Jungs fluchten. »Fuck you, Edebali!« Und ich dachte: Wie gerne wäre ich jetzt nicht der, der zuschauen muss.
Nach einer Stunde Folter sagte Loco zu einem Assistenten: »Give the guys some water!« Zu mir sagte er: »Edebali, wenn es nach mir ginge, wärst du jetzt raus aus dem Team. Auf dich ist kein Verlass.« Diese Sätze waren wie Peitschenhiebe, sie taten noch mehr weh, als den Jungs beim Leiden zusehen zu müssen. Ich war am Boden zerstört. Doch Will Thompson, einer der Upper-Class-Men, kam zu mir und sagte: »Mach dir keinen Kopf. Jeder darf einmal zu spät kommen. Es kommt nur darauf an, was du daraus lernst.« Von dem Tag an nahm ich mir vor, der härteste Arbeiter zu sein. Ich wollte Coach Loco zeigen, dass auf mich Verlass ist, und ich wollte den Respekt meiner Teammates zurückgewinnen. Was zum Glück auch funktionierte. Auch wenn ich in meiner ersten Saison am College zu keinem Einsatz gekommen war, sagten am Ende alle Freshmen, die wegen mir die Folter überstehen mussten: »Kasim, ich vertraue dir!« Ich hätte diese Erfahrung lieber nicht gemacht. Aber ich denke, dass sie in meiner Entwicklung eine wichtige Rolle gespielt hat.
Ein trauriges Ereignis in jenem ersten Jahr zeigte mir, wie sehr ich auf meine Mitspieler bauen konnte und zum Team gehörte, obwohl ich nicht spielte. Ein Team ist nur so stark wie sein schwächstes Glied, deshalb muss dafür gesorgt werden, dass alle an Bord bleiben. Und das taten meine Teammates. Ende Oktober erfuhr ich, dass einer meiner engsten Freunde und Teamkollegen bei den Huskies, Orhan Yaldiz, bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war. Orhan war als Kapitän der Young Huskies eine wahre Vollmaschine gewesen, ein echter Anführer.
Für jeden von uns war er wie ein großer Bruder gewesen, der alle Menschen um sich herum glücklich und jeden seiner Mitspieler besser machte. Ich kann mich noch erinnern, wie happy und stolz er war, als klar war, dass ich nach Amerika gehen würde. Auch wenn nicht jeder die Chance hatte, an einer Highschool oder einem College zu landen: Wenn es einer schafft, haben es alle geschafft, weil jeder weiß, dass er ein Teil des Traums ist. Und Orhan wusste immer, wie viel er mir bedeutete und was er zu meiner Karriere beigetragen hatte. Ich musste mich an einen Streit zwischen Steffen und Maki erinnern. Denn es lohnt sich, Zeit für solche Dinge zu verschwenden. Von heute auf morgen kann sich alles verändern. Orhans Tod stellte das einmal mehr unter Beweis.
Zum ersten Mal im Leben wurde ich mit dem Tod eines Freundes konfrontiert. Ich, der immer positive, gut gelaunte Kasim, wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte. Ich war ziemlich down und im Training sehr ernst. Coach Commissiong, den ich als Trainer und auch als Ratgeber schätzte, nahm mich zur Seite, bat mich in sein Büro und fragte: »Kasim, was ist los mit dir? Du bist nicht wie sonst.« Ich konnte meine Emotionen nicht zurückhalten, fing an zu weinen und schüttete ihm mein Herz aus. Er verstand, und ich fühlte mich wie befreit von einer erdrückenden Last. Coach Commissiong erklärte dem Team, dass ich einen Menschen verloren hatte, der mir sehr nah gewesen war. In der Folge durfte ich eine Woche lang im Training meine Nummer 91 gegen die 41 eintauschen, die Nummer, die Orhan immer getragen hatte. In diesen Tagen lernte ich zwei Dinge, die für mich bis heute wichtig sind. Zum einen, dass ein guter Coach mehr tut, als dich einfach nur abzucoachen. Auch wenn du in einer Position bist, für die sehr viele Menschen alles geben würden, um in deinen Schuhen zu laufen, bist du ein Mensch mit Gefühlen und keine Maschine, die vom Coach nur am Laufen gehalten werden muss. Zum anderen begann ich damals, jeden schönen Moment zu würdigen und dabei zu verstehen, wie schnell das Leben vorbei sein kann. Orhans Tod hat mich darin bestärkt, immer positiv zu denken und an jedem verdammten Tag zu versuchen, die beste Version meiner selbst zu sein.
An den Tag, an dem Kasim in seinem Büro weinte, erinnert sich Jeff Commissiong, als wäre es gestern gewesen. »Jeder konnte sehen, dass mit ihm etwas nicht stimmte«, sagt er. Im Football gehe es oft nur darum, Stärke zu zeigen, der menschliche Aspekt komme oft zu kurz. »Das ist falsch, denn es gibt viele Dinge jenseits des Footballfelds, die wichtiger sind. Ich wollte Kasim zeigen, dass er sich meiner Unterstützung sicher sein kann. Er musste mit dem Schmerz allein klarkommen und ihn verarbeiten. Aber ich wollte ihm dabei helfen.«
Zum ersten Mal waren sich die beiden im Summer Camp begegnet. »Da hat er einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Er hatte ein großes sportliches Talent, aber besonders beeindruckt hat uns Coaches seine Art, an alle Herausforderungen positiv heranzugehen«, sagt er. »Uns war schnell klar, dass wir ihm eine Chance geben wollten. Und diese Chance hat er mehr als nur genutzt. Er hat sich durch nichts zurückwerfen lassen und ist seinen Weg konsequent gegangen.«
Der Vorfall mit Coach Loco habe Kasim nachhaltig geprägt, glaubt Jeff Commissiong, der aktuell an der Cornell University in Ithaca (Bundesstaat New York) als Linebacker-Coach arbeitet. »Es war sicherlich hart für ihn, seinen Coach und vor allem seine Teammates im Stich zu lassen. Aber ich schärfte ihm ein, positiv zu bleiben und noch härter an sich zu arbeiten. Das hat ihn letztlich in die NFL gebracht.« In den gemeinsamen Jahren habe es immer wieder Situationen gegeben, in denen Kasim Fehler machte und gegen Anweisungen der Trainer handelte. »Aber das Kuriose war, dass daraus manchmal richtig gute Dinge entstanden. Unser Defensive Coordinator Bill McGovern war davon manches Mal beeindruckt, wenn wir die Spielzüge auf Video analysierten. Und deshalb haben wir Kasim manches durchgehen lassen, was andere nicht durften.«
Coach Commissiong verstand sich aber nicht nur als sportlicher Übungsleiter, sondern auch als menschlicher Ratgeber. »Er nahm nicht jeden Rat an. Später kam er dann oft reumütig zu mir, um mir mitzuteilen, ich hätte doch recht gehabt. Aber es gehört zu einem jungen Mann, dass er vom vergifteten Wasser trinkt, obwohl er weiß, dass es ihm nicht guttut.« Beeindruckt habe ihn stets, dass Kasim für jede Situation einen Ausweg gefunden hat, auf dem Footballfeld oder im Leben jenseits des Sports.
Dass sich manchmal ein Weg, den Kasim als den besten angesehen hatte, als steiniger erwies, bringt Coach Commissiong noch heute zum Lachen. Er erinnert sich daran, dass Kasim einen Fremdsprachenkurs belegen musste, um sein Degree zu bekommen. »Er wählte Deutsch, weil er dachte, seine gute Note in diesem Fach sicher zu haben. Die Lehrerin wusste nicht, dass er Deutscher war, die Nationalität steht ja nicht auf dem Meldebogen, und Kasim Edebali ist kein typisch deutscher Name«, sagt er. »Aber als ich ihn nach einiger Zeit fragte, wie die Deutschklasse so laufe, da beklagte er sich bitterlich darüber, dass die Lehrerin keine Muttersprachlerin sei und ständig Fehler in Aussprache und Grammatik machte. Aber weil sie nicht wissen sollte, dass er Deutscher war, korrigierte er sie nicht, sondern ließ es über sich ergehen.« Lieber habe Kasim den anderen Jungs geholfen, auch mit einer guten Note abzuschließen. Sie hatten auch Deutsch gewählt, weil sie glaubten, mit Kasim einen guten Tutor neben sich zu haben. »Das ist typisch für ihn, er hat sich immer für andere eingesetzt.«
Jeff Commissiong hat den Karriereweg seines Schützlings intensiv verfolgt. Die beiden sind dauerhaft in Kontakt geblieben. Kasim kennt die Familie, war auch schon privat zu Besuch. »Manchmal, wenn ich Leute ein bisschen veralbern will, zeige ich ihnen ein Foto von Kasim und sage, er sei mein jüngerer Bruder. Manche sagen dann: Ja, ich kann die Ähnlichkeit erkennen«, lacht er. »Ich habe ihn wirklich tief ins Herz geschlossen, er ist einer meiner liebsten Menschen. Manches Mal sage ich, er ist der Sohn, den ich nie hatte.«
Den größten Kredit dafür verdiene Kasims Mutter. »Vor ihrer Leistung, davor, was sie getan hat, um ihrem Sohn dieses Leben zu ermöglichen, habe ich den größten Respekt. Sie hat ihn zu dem großartigen Menschen erzogen, der er ist.« Kasims Ehefrau dagegen täte ihm manchmal leid. »Ich glaube, dass er sie manchmal nervt, weil er keine fünf Sekunden stillsitzen kann. Aber genau deshalb wird er mit allem Erfolg haben, was er anfasst.« Was auch immer es sein wird: Jeff Commissiong wird es mit großem Interesse verfolgen.
Als Redshirt war das erste College-Jahr für mich relativ entspannt. Rückblickend betrachtet war es definitiv das einfachste Jahr. Man musste nur da sein und zuhören. Wer sich coachen ließ, hatte gute Chancen, viel zu lernen und sich in großen Schritten zu entwickeln. Der Alltag während der Saison sah so aus: Ich ging von 6.30 bis 8.30 Uhr ins Gym. Anschließend war von 9 bis 13 Uhr Unterricht, nach der Mittagspause begann um 14 Uhr das erste Meeting, von 15.15 bis 18 Uhr war Training auf dem Feld. Danach schnell duschen und Abendessen, denn von 19 bis 21 Uhr hatten alle Athleten die Pflicht, zwei Stunden zu lernen und Hausaufgaben zu machen. Learning Research for Student Athletes (LRSA) hieß das Programm. Ich fand es durchaus hilfreich, auch wenn es mental unheimlich anstrengend war, sich jeden Abend nach dem straffen Programm mit Unterricht und Training neu beweisen zu müssen. Dieser Stress war schon krass und neu für mich. Aber ich wollte nicht nur im Football liefern, sondern auch ordentliche Noten kriegen. Und dafür musste ich etwas tun.
Die Studieninhalte bereiteten mir doch einige Probleme, denn auch wenn wir Footballer einen gewissen Status hatten, waren wir doch auf uns allein gestellt. Es war nicht wie an der Florida State – genau, Björn, ich meine dich! – wo einem die Hausaufgaben gemacht wurden. In meiner ersten Summer School hatte ich in »Introduction to Psychology« eine Eins minus bekommen und dachte deshalb, Psychologie könnte etwas für mich sein. Aber als es nach der Einführung weiterging, realisierte ich schnell, dass Psychologie als Hauptfach vielleicht doch nicht das Wahre für mich war.
Auf sein Hauptfach muss man sich erst nach zwei Jahren festlegen. In den ersten beiden Semestern musste ich fünf Kurse belegen. Ich wählte Rhetorik. Ich dachte: Reden kann ich doch! Tja, falsch gedacht. Ich fiel zweimal durch, was mich aber zumindest nicht sprachlos machte. Ich wählte afrikanische Geschichte, weil ich dachte: Das ist bestimmt richtig interessant! War es auch, das Problem war leider nur, dass es direkt nach dem frühen Krafttraining stattfand und ich daher meistens vor lauter Erschöpfung eine Stunde schlafen musste, das Seminar aber nur 90 Minuten dauerte.
Am besten gefiel mir ein Kurs, in dem zwei Seniors mit 20 Freshmen über die College Experience sprachen. Ich fand es sehr interessant, mit den anderen über ihre Erfahrungen zu diskutieren. Die Noten setzten sich zu 75 Prozent aus Projektarbeit und zu einem Viertel aus der Beteiligung am Unterricht zusammen. Dieses Viertel war meine Chance. Zu Beginn passte ich mich optisch an. Jeden Tag Jogginghose, Flipflops und Socken wie die anderen Student Athletes. Aber nach einiger Zeit fiel mir auf, dass Footballspieler in eine Schublade gesteckt wurden. Als Athleten waren wir sehr beliebt, aber als Studenten nahmen uns viele nicht ernst. Wenn einer von uns Scheiße baute, hieß es: »Klar, er ist ja Footballspieler.« In diese Schublade wollte ich nicht gehören. Deshalb zog ich mir später bewusst keinen Jogginganzug an, sondern Jeans und ein gutes Shirt. Zu den anderen Jungs sagte ich: »Gebt alles, was in euch steckt, ihr seid nicht eindimensional.« Ich selbst gab alles, um mich im Unterricht ordentlich zu verhalten und mich regelmäßig zu beteiligen.
Am College erlebte man wirklich eine Menge, besonders die Partys mit ihrer Hook-up-Culture – der Akzeptanz von zwanglosem Sex – sind an jeder Uni relativ wild. Aber gerade für jemanden wie mich, der nur mit seiner Mom aufgewachsen ist, gab es etwas, das mich echt störte. Die aggressive, fast schon freche Art, wie ein paar von meinen Jungs sich an die Mädels ranmachten, ging gar nicht. Coach Commish sagte uns jeden Freitag: »Egal was ihr tut, verhaltet euch wie Gentlemen, zu jeder Zeit!« Ich erklärte den Jungs, was mir meine Mama mit auf den Weg gegeben hatte: »Ihr seid erwachsen und könnt machen, was ihr wollt. Aber kommuniziert und seid respektvoll.«
Ich war nie der Partygänger. Obwohl es im College keine Nachtruhe gab und alle mit ihren Abenden und Nächten anfangen konnten, was sie wollten, war ich meistens gegen 22 Uhr im Bett oder an der Playstation. Mein Sozialleben hatte ich trotzdem. Aber ich machte lieber mein eigenes Ding, als mich nächtelang mit Alkohol aus dem Leben zu schießen.
Sogar bei unserer O-Line/D-Line-Initiation weigerte ich mich standhaft, Alkohol zu trinken. Ob das allerdings die beste Idee war, weiß ich bis heute nicht. Die Initiation ist so etwas wie ein Aufnahmeritual, eine kleine Party für die Offensive und Defensive Linemen, um das Ende der Saison zu feiern, die in den allermeisten Fällen mit einem schlimmen Rausch endet. In Deutschland musste ich damals als Aufnahmeprüfung für die Junior Huskies, lediglich mit einem Handtuch vor meinem »Johnson« bekleidet, zu McDonald’s gehen und für die ganze Mannschaft Essen bestellen. Ich weiß nicht, warum die Sauferei am College Pflicht ist, aber wer seine Taufe besteht, zählt zur Gemeinschaft seiner Hochschule.
Wir Freshmen lagen nur mit Boxershorts bekleidet und mit verbundenen Augen auf dem Boden und sollten Alkohol trinken und damit übergossen werden. Ich hatte allerdings zuvor mehrfach betont, dass ich keinen Alkohol trinke. »Sei kein Spielverderber«, hieß es dann, »stell dich nicht so an, sauf halt so wie alle anderen auch!« Aber ich blieb konsequent und weigerte mich. Die Reaktion der Jungs? Sie mixten ein Gebräu aus Zahnpasta, Mundwasser, Chilisauce, Senf und anderen Flüssigkeiten zusammen (von denen ich allerdings hoffe, dass sie nicht wirklich in meinen Drink gemixt wurden). Das Zeug musste ich dann mit verbundenen Augen trinken und wurde damit übergossen. Drei Tage lang bekam ich anschließend den Gestank nicht mehr von meiner Haut und den Geschmack aus dem Mund. Aber nun gehörte ich dazu.
Angenehmer war das Ritual, das jeder Freshman im ersten Trainingslager überstehen musste: Ein Lied aus seiner Heimat singen. Schon während der Darbietung darf gebuht oder geklatscht werden, und aus den Reaktionen der Teammates wird dann der Sieger ermittelt. Mir fiel echt kein Song ein, den ich hätte unfallfrei performen können, also entschied ich mich für die deutsche Nationalhymne. Aber ich sang sie nicht so, wie ich sie bei Länderspielen sang, sondern mit schön tiefer Stimme. In den Gesichtern meiner Teammates spiegelten sich Unverständnis und Verwirrung: Was bitte machte der Deutsche da? Was bedeuteten die Worte, und warum sang er sie so komisch? Während ich mich also als Till-Lindemann-Double abmühte, waren alle still. Als ich fertig war und die ersten zum Buhen ansetzen wollten, fing mein Roommate Bryan zu klatschen an. Nach und nach setzten die anderen ein. Ich hatte auch diesen Test bestanden! Es war nicht schön, aber bei »Boston College sucht den Superstar« hätte ich es bestimmt in den Recall geschafft.
Nach dem Ende der ersten Saison konnte ich über Weihnachten kurz nach Hamburg reisen, kam aber pünktlich zur ersten Off-Season nach Boston zurück. Schließlich wurde die footballfreie Zeit hier anders definiert als auf der Highschool. Die Workouts waren so hart wie die der Redshirts vor den Heimspielen. Im Frühjahr hatten wir zum Beispiel 15 Einheiten Footballtraining und davor zweimal in der Woche die sogenannten Coaches Runs. Dabei muss man sich an sechs verschiedenen Stationen gegen wechselnde Konkurrenten in Duellen behaupten. Diese Trainingsform soll die Wettkampfhärte schulen. Zumindest bei mir funktionierte das. Ich wollte einfach immer gewinnen, auch wenn das gegen Jungs wie Alex Albright und Kaleb Ramsey fast unmöglich schien. Aber gegen die anderen Defensive Linemen klappte es relativ häufig, und das fühlte sich nach den Enttäuschungen der ersten Saison sehr gut an.
Während meiner ersten Off-Season kam ein Highschool-Spieler zu uns ins Team, der ein halbes Jahr früher als geplant ans College wechseln sollte. Kevin Pierre-Louis, der in der Saison 2021/22 für die Houston Texans spielte und seine siebte Saison abgeschlossen hatte, war ein etwas klein gewachsener, aber sehr kompakter Linebacker. Als er mich zum ersten Mal reden hörte, dachte er, ich sei betrunken, weil ihm mein Akzent so komisch vorkam. Aber wir fanden schnell einen Draht zueinander. Und das kam so: In seinem allerersten Work-out kam Kevin zu spät auf den Platz. Coach Loco ließ ihn daraufhin das Straftraining anleiten. Er musste immer »up« und »down« rufen, während wir die Up-downs absolvierten. Alle waren natürlich total sauer auf ihn, und je wütender die Gruppe wurde, desto leiser wurde Kevin.
Nach der Folter ging ich zu ihm und sagte: »Digga, mach dir keine Sorgen, ich habe den gleichen Shit gebaut.« Von dem Tag an klopfte ich vor jeder Einheit eine Viertelstunde früher an Kevins Tür, und wir gingen gemeinsam zum Training. Das hat uns enorm zusammengeschweißt. Coach Loco hob Kevin und mich am Ende der Vorbereitung auf die zweite Saison als positive Beispiele hervor: »Ihr solltet euch alle so verhalten wie Kevin und Kasim.« Von da an waren wir die Leader der Freshmen.
Das bedeutete allerdings nicht, dass ich plötzlich automatisch Stammspieler war. Ich arbeitete sehr hart und war gut genug, um zum Spielerkader zu gehören. Aber nicht gut genug, um zu dominieren. Noch immer rasierten mich unsere Tightends. Vor allem Chris Pantale, der später in der NFL für die Eagles spielen sollte, war ein Monster. Unser Team hatte sich nicht allzu sehr verändert. Mit Mark Herzlich war eine echte Linebacker-Legende in die Mannschaft zurückgekehrt. Das Jahr 2009 hatte er wegen einer seltenen Form von Knochenkrebs verpasst, seine Krankheit allerdings besiegen können und er war wirklich – »no jokes with names«, – zum Herz unserer Defense avanciert.
Auf meiner Position waren Alex Albright und Brad Newman die Starter, Max Holloway und ich die Back-ups. Max entpuppte sich für mich als »brother from another mother«. Wir teilten denselben Football-Mindset und unseren Sinn für Humor. Zudem teilten wir uns die Rolle des Back-ups. So etwas kann aus Menschen erbitterte Konkurrenten machen, oder die besten Buddys. Bei Max und mir war es definitiv Variante zwei.
Wir motivierten uns ständig gegenseitig, gleichzeitig wollte niemand gegen den anderen verlieren. Während eines Treppenlaufs beim Sommer-Workout nahmen Max und ich den Fahrstuhl, um oben auf den Rest der D-Line zu warten. Ihr könnt euch vorstellen, wie Coach Loco reagierte: Was in unseren Köpfen nur vorgehe, beim Training mit einem Fahrstuhl zu fahren? Max war für mich wie Gary für Ash Ketchum von Pokémon. Eine wahre Vollmaschine!
In meinem zweiten Jahr zog ich in ein Achter-Apartment. Sieben von uns Mitbewohnern schafften es später in die NFL, und dieser Spirit war schon damals zu spüren. Die Jungs waren alle positiv, sie wollten genau wie ich jeden Tag besser werden. Wir pushten uns gegenseitig enorm, und ich bin sehr froh, in dieser WG gewohnt zu haben. Einer meiner Mitbewohner war Kevin, mit dem ich weiterhin eng befreundet blieb.
Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich eine echte Beziehung, was mir enorm half. Bis dahin war ich nur auf mich selbst beziehungsweise Football fokussiert, nun aber ging es nicht mehr nur um mich. Ich musste eine Balance zwischen Sport, Studium und Sozialleben finden, was nicht einfach war. Viele Einflüsse von außen wirkten auf mich ein, viele Leute kannten mich. Meine Freundin war Basketballerin, sie arbeitete genauso hart für ihre Sportkarriere wie ich für meine.
Wie ich war sie am Anfang ihrer College-Karriere und hatte es nicht leicht, sich durchzusetzen. Aber jemanden zu haben, der ein ähnliches Mindset hat, empfand ich als einen Segen. Ich werde für immer dankbar sein, dass ich sie in dieser Phase hatte. Ob gutes oder schlechtes Spiel, ihre Unterstützung war unbezahlbar. Und auch nach dem Ende unserer Beziehung war es für mich motivierend zu sehen, wie sie sich weiterentwickelte und zum Playmaker und zur Kapitänin ihrer Mannschaft aufstieg.
Am 4. September 2010 war der Tag gekommen, für den ich mehr als ein Jahr lang Schweiß vergossen und Frust ertragen hatte. Zum ersten Mal stand ich für die Eagles gegen die Weber State Wildcats auf dem Feld. Ins Alumni Stadium passen 44.000 Menschen, und auch wenn rund 10.000 Plätze nicht besetzt waren, war diese Menge an Zuschauern für mich etwas vollkommen Neues. Schließlich hatte ich bis dahin nie vor mehr als ein paar Hundert Menschen gespielt. Komischerweise fixte es mich trotzdem nicht sonderlich an. Ich sagte mir: »Es ist einfach nur Football, geh da raus und mach, was du schon immer getan hast.« Und genau das tat ich dann auch.
Ich hatte ein paar Tackles, spielte okay, und fühlte mich richtig gut. Nach der Partie, die wir 38:20 gewannen, kam Coach Commissiong zu mir und sagte: »Got your first in!« Dabei war ihm die Freude über mein Debüt deutlich anzumerken, mich durchströmte ein irres Glücksgefühl. Kein anderer Mensch in meinem Leben hatte mich so oft angeschrien. Jetzt zu sehen, wie sehr er sich für mich freute, machte mich froh und stolz zugleich.
Allzu lang hielten diese Emotionen allerdings nicht an. Wir gewannen zwar auch das zweite Spiel, dann aber folgten fünf Niederlagen in Serie, die ziemlich auf die Stimmung drückten. Ein Spiel war jedoch trotz des negativen Ausgangs ein Highlight für mich, und das in doppelter Hinsicht. Am 16. Oktober waren wir bei den Florida State Seminoles in Tallahassee zu Gast. Auf der Gegenseite stand mein Freund Björn Werner, der in seinem ersten Collegejahr kein Redshirt war. Es war so schön, ihn wiederzusehen. Wir hatten die ganze Zeit miteinander Kontakt gehalten, uns über die Gegner ausgetauscht und uns gegenseitig Tipps gegeben. Ihn in den Arm zu nehmen und dann gegen ihn zu spielen, war krass. Nach dem Spiel tauschten wir unsere Hoodies. Ich habe seinen immer noch.
Besonders war die 19:24-Niederlage aber auch deshalb, weil mir mein erster Quarterback-Sack am College gelang. Ich wollte einfach abliefern, und Christian Ponder, der nach der Saison in der ersten Runde an Position zwölf von den Minnesota Vikings gedraftet werden sollte, war eine nette Trophäe.
Die Stimmung im Team wurde allerdings mit jeder Niederlage mieser. Als Alex Albright sich nach dem siebten Spiel mit Beinbruch und Brad Newman ebenfalls verletzt abmeldeten, war die Aufregung groß. Beim Training sagte Coach Commissiong zu mir: »Kasim, egal, was du bislang getan hast: Versuche, noch ein paar Prozent mehr aus dir herauszuholen.« Digga, dachte ich, ich gebe hier jeden Tag Vollgas, wo soll ich noch mehr rauspressen? Aber ich wollte ihn auch nicht enttäuschen. Vor Spiel acht gegen die Clemson Tigers hieß es dann: Max und Kasim, ihr startet! Wir gewannen tatsächlich mit 16:10. Natürlich prahlten Max und ich, unser Einsatz sei der Grund für den Turnaround gewesen. Es war der Start einer fünf Spiele anhaltenden Siegesserie, in der ich dreimal als Starter aufs Feld durfte, und wir am Ende mit 7:5 Siegen das Bowl Game erreichten.
Am 9. Januar 2011 spielten wir vor 41.063 Fans im AT&T Park in San Francisco gegen Nevada Wolf Pack. Auf der Gegenseite war ein gewisser Colin Kaepernick als Quarterback. Und auch wenn wir mit 13:20 verloren haben, war es für mich ein unglaubliches Erlebnis. Ich hatte zwar schon einige Endspiele spielen dürfen, aber das hier war noch einmal eine andere Kategorie. Wenn ganz Amerika zuschaut (zumindest besteht dazu theoretisch die Möglichkeit), macht das etwas mit einem. Als Prämie bekam jeder von uns einen Laptop und eine Uhr geschenkt. Die Uhr habe ich noch heute. Sie erinnert mich an eine spezielle Zeit.
Rein sportlich hatte ich mich in meiner ersten Saison als Collegespieler gut entwickelt. Ich konnte dem Team helfen, als ich gebraucht wurde, und ich hatte bewiesen, dass ich dem Druck standhalten konnte. Noch wichtiger war allerdings meine persönliche Entwicklung. Im Team war ich bestens integriert. Ifeanyi Momah, einer meiner liebsten Trainingspartner und mein großer kleiner Bruder (den ich so nannte, weil er zwar schon Junior war, aber ein paar Monate jünger als ich), brachte es schön auf den Punkt: »Kasim, du weißt zwar oft nicht genau, was du sagst, aber du sagst immer, was du meinst.«
Wie eng der Zusammenhalt vor allem mit meinen Roommates war, bewies ein Abend in der Woche nach dem Bowl Game. Meine Beziehung war gerade erst zu Ende gegangen, und zum ersten Mal in meinem Leben litt ich an Liebeskummer. Die Jungs spürten das, und so setzten wir uns in unserem Zimmer in einen Kreis und sprachen stundenlang über unsere Emotionen und Erfahrungen. Das war echt krass, denn Footballer wollen ja immer besonders hart rüberkommen und keine Schwächen zeigen. Mir hat das wahnsinnig geholfen. Dass da vier junge Männer in einem Raum zusammensaßen und ganz offen über ihre Gefühle redeten, war nicht alltäglich. Zugleich zeigte es mir, wie wichtig es ist, solche Momente zuzulassen. Mir gab das ein Gefühl der Geborgenheit.
Auch außerhalb des Footballfelds war eine Entwicklung zu spüren. Ich fühlte mich super integriert und hatte tolle Lehrer, zu denen ich gute Beziehungen aufbaute, weil sie versuchten, uns nicht nur mit Wissen zu überschütten, sondern vor allem bleibende Werte und Inhalte zu vermitteln. Ich hatte mich darauf verlegt, Kurse zu wählen, die mich wirklich interessierten. Psychologie gab ich auf. Englisch und Philosophie mochte ich, aber auch die Lehren des Konfuzius fand ich spannend. Am besten jedoch gefiel mir Kommunikation. Zu lernen, wie man Reden hält, Theater spielt, aber auch, wie man TV- oder Radioproduktionen gestaltet, hilft mir bis heute bei meinen Projekten. Nur folgerichtig, dass ich Kommunikation als mein Hauptfach wählte.
Die zweite Off-Season habe ich vor allem deshalb in Erinnerung, weil ich zum ersten Mal den amerikanischen Teil meiner Familie kennenlernte. Meine Halbschwester hatte das Bowl Game in San Francisco im Fernsehen gesehen und meinen Namen auf dem Trikot erkannt. Mein Vater kaufte mir ein Ticket nach Los Angeles, und so flog ich in der trainingsfreien Zeit erneut nach Kalifornien. Ich hatte ein bisschen Bammel, denn schließlich kannte ich den Großteil der Familie ja gar nicht. Aber der Besuch fühlte sich so an, als würde ich endlich in einem Buch lesen, das ich die ganze Zeit dabeigehabt hatte, ohne es aufzuschlagen.
In meinem dritten College-Jahr wurde mir eine besondere Ehre zuteil. Doctor Ashley Douggan, die den Freshman-Kurs leitete, in dem zwei Seniors mit den Neuen über ihre Erfahrungen diskutierten, wählte mich als Teaching Assistant aus. »Warum nehmen Sie mich?«, fragte ich sie, »meine Noten sind doch definitiv nicht die besten in dieser Klasse.« »Das stimmt, aber ich möchte jemanden dabeihaben, der immer gute Laune bringt, auch wenn nicht alles so läuft wie gewünscht«, antwortete sie. Das leuchtete mir ein – und es machte mich stolz.
Von Partys hielt ich mich weitestgehend fern. Mein Lieblingsfeiertag war der Boston Marathon. Die ganze Stadt schien auf den Beinen, man konnte Sport gucken, ohne dabei trinken zu müssen, überall herrschte eine Bombenstimmung. Diese Formulierung bleibt mir im Hals stecken, wenn ich an den 15. April 2013 denke. An diesem Tag verübten zwei Terroristen einen Sprengstoffanschlag auf den Marathon. Wir hatten das Ganze erst nicht richtig mitbekommen, aber als es dann hieß, niemand dürfe sein Haus verlassen, und wir nur in kleinen Gruppen in die Mensa geführt wurden, erkannte ich das Ausmaß dieses feigen Attentats. Erst als einer der Täter nach drei Tagen erschossen und der andere gefasst wurde, hatte der Spuk ein Ende. Die Erinnerung an die drei Toten und fast 300 Verletzten schmerzt bis heute. Und an Partys dachte damals niemand mehr.
Den Zusammenhalt und die Liebe zu spüren, die Boston damals ausstrahlte, war atemberaubend. »Boston strong« hieß das Motto, egal wo man war. Die Patriots, Red Sox, Celtics und Bruins waren zusammengeschweißt wie nie zuvor, und ich werde mich immer daran erinnern, was für eine schöne Stadt mit vielen Ehrenmenschen Boston ist.
Selbst am St. Patrick’s Day ging ich lieber zum Training. Wer weiß, wie stark Boston irisch geprägt ist, kann nachvollziehen, warum das fast niemand verstehen konnte. Am irischen Nationalfeiertag, dem 17. März, hatten wir schulfrei. Schon morgens begannen die ersten Partys. Ich erinnere mich an den Paddy’s Day im dritten Jahr. Ich wachte auf und hörte Musik aus dem Wohnzimmer. Ich ging also in Boxershorts rüber. Kevin stand mitten im Raum und trank Wein aus der Flasche. Um ihn herum 15 tanzende Mädels. Und das um 7 Uhr morgens!
Auch wenn Alkohol für mich keine Rolle spielte, darf ich ein Ereignis doch nicht verschweigen. Nach unserer dritten Saison hatte ich versprochen, mit meinen Teammates einen saufen zu gehen. »Egal, was ihr mir gebt, ich trinke es«, hatte ich gesagt und es im selben Moment schon wieder bereut. Aber ein Ehrenmann steht zu seinem Wort, also musste ich da durch. Die Jungs hatten wohl allen anderen Student Athletes Bescheid gesagt, denn der gesamte Campus schien sich versammelt zu haben, um den abstinenten Deutschen beim Trinken zu beobachten.
Zu Beginn des Abends stellten sich meine Jungs wie im Defensive Huddle um mich herum auf. Kevin hatte mir zuvor eingebläut: »Wenn es anfängt zu kribbeln, hör auf zu trinken!« Ich hatte keine Ahnung, was er damit meinte, versprach es ihm aber. Sechs Stunden und etliche Kurze mit unterschiedlichsten Leuten später gab man mir einen grünen Drink namens Jungle Juice. Ich trank – und es fing an zu kribbeln. Meine nächste Erinnerung sieht mich oben ohne tanzend in einem Club.
Ich weiß bis heute nicht, was in diesem Dschungelsaft war. Gutes Zeug wird es nicht gewesen sein. Zurück vom Club schlief ich erstmal im Sitzen ein. Irgendwer warf mir seine Jacke über den Kopf, schon bald war ich zum Garderobenständer umfunktioniert. Gut 20 Jacken lagen auf mir, aber mir war das egal. Es war warm, ich konnte schlafen. Als ich wieder wach wurde, gab es ein Problem. Wie sollte ich nach Hause kommen? Selber gehen fiel leider aus. Meine Ex rettete mich. 1,90 Meter groß war sie offenbar stark genug, meine 110 Kilo huckepack nach Hause zu tragen und ins Bett zu werfen.
Der nächste Morgen war furchtbar. Alles drehte sich. »Wo warst du letzte Nacht?«, fragte mich Kevin. »Sag du es mir«, antwortete ich. Nie wieder Alkohol – jetzt verstand ich diesen nach durchzechten Nächten viel zitierten Satz. Im Gegensatz zu vielen anderen habe ich mich allerdings daran gehalten. Ich bin nie wieder so betrunken gewesen wie damals. Meiner Ex gab ich als Dankeschön ein großes Frühstück aus. Das Ganze war mir echt peinlich.
Fast genauso peinlich war mir, was auf dem Footballfeld passierte. Aus sportlicher Sicht würde ich am liebsten den Mantel des Schweigens über meine zweite und dritte Saison legen. Die zweite schlossen wir mit vier und acht ab, aber ich lernte in jenem Jahr kennen, was gemeinhin selbst in der NFL als »typisch Boston College« bekannt ist: Dass man niemals aufhört, sein Bestes zu versuchen, auch wenn das Beste nicht gut genug ist, um zu gewinnen. Hartnäckig sein, niemals aufgeben, immer die gleiche Leistung abrufen – dafür stehe ich, und das versuchte ich in der Saison 2011 weiter zu perfektionieren.
Leider wurde es im Jahr darauf nicht besser, sondern nur noch schlechter. Coach Commissiong hatte mir vor der Spielzeit geraten, meine Ziele auf einen Zettel zu schreiben. Ich schrieb: »Captain werden. Ins All-ACC-Team unserer Division kommen.« Beide Ziele verfehlte ich, was mich allerdings nur noch mehr motivierte, es im nächsten Jahr erneut zu versuchen. Zwar waren mir die meisten Tackles der ganzen Liga auf meiner Position gelungen, aber ich spielte nicht für die Statistik, ich wollte die wichtigen Plays machen. Tackles for loss, Quarterback sacks – das war meine Währung. Ich wollte Playmaker sein, nicht das Radiergummi, das mit Tackles die Fehler der anderen korrigiert. Ich wollte ein Impact Player sein, ein Spieler, der den Unterschied ausmachte.
An zwei Spiele aus der Saison 2012 erinnere ich mich, weil sie für meine Entwicklung wegweisend waren. In Spiel sechs wurden wir bei Björns Florida State Seminoles fürchterlich vermöbelt: 7:51 stand am Ende auf der Anzeigetafel. Nie zuvor und niemals danach habe ich so eine negative Stimmung in einer Kabine erlebt. Keiner wollte den Mund aufmachen, alle hatten das Gefühl, etwas Falsches zu sagen. Als die ersten Mitspieler den Raum verlassen wollten, fasste ich mir ein Herz: »Hey, kommt alle zurück. Keiner haut hier ab!« Und dann appellierte ich an die Ehre und erinnerte an die Siegesserie aus meiner ersten Saison als Spieler, als wir in aussichtsloser Lage fünfmal hintereinander gewonnen haben. Leider, das darf ich vorwegnehmen, konnten wir diese Serie nicht wiederholen. Trotzdem war es ein wichtiger Moment für mich, der mein Standing in der Gruppe festigte und den Ton und das Fundament für die nächste Saison setzte.
Der zweite denkwürdige Moment stammt aus Spiel zehn. Wir hatten unseren Erzrivalen Notre Dame zu Gast, gegen den Niederlagen verboten waren. Die Coaches hatten mich vor der Partie darauf eingestellt, dass ich von einer Außenposition attackieren sollte, um nicht vom Tightend geblockt zu werden. Leider passierte genau das, weil ich die Anweisung missachtete, und so wurde ich von Coach Commissiong gebencht. Das passte mir gar nicht, zum ersten und einzigen Mal in meiner Karriere stand ich Kopf an Kopf mit meinem Trainer und gab in einer lautstarken Diskussion klar zu verstehen, er könne mich gerne auswechseln, wenn er lieber verlieren wolle. Aber der Coach hatte recht. Niemand steht über dem Team, und auch wenn unsere Emotionen in intensiven Situationen ab und an überschwappen: Wenn man seinem Team schadet, hat man auf dem Feld nichts zu suchen.
Der Coach und ich sprachen uns nach dem Spiel aus, er erklärte mir, warum er so gehandelt hatte. Ich verstand, dass mein Ego niemals größer sein durfte als ich selbst. Man darf während einer Partie nie die Beherrschung verlieren, denn dann gibt es nur Verlierer. Diese wichtige Lektion lernte ich auf die harte Tour kennen.
Vor unserem letzten Spiel bei North Carolina State standen wir bei zwei und neun. Alle wussten, es würde das letzte Spiel für den Coaching Staff sein. Oder besser gesagt: Wir Spieler ahnten es. Vor dem Kickoff hielt unser Defensive Coordinator Bill McGovern unter Tränen eine emotionale Ansprache. Spätestens jetzt war uns allen klar, dass wir zur neuen Saison mit einem komplett neuen Trainerteam rechnen mussten. Wir verloren mit 10:27. Zwei Wochen nach dem Saisonende war der Abgang des Staffs offiziell.
Coach Commissiong bat mich nach der Begegnung in sein Büro. Er fragte mich, ob ich der Meinung sei, dass er gehen müsse. Nicht dass meine Meinung irgendetwas an seiner Situation geändert hätte, er wollte einfach hören, wie ich die Lage einschätzte. Ich dankte ihm für die vier Jahre, die ich von ihm lernen durfte, versicherte ihm aber, dass ich von einem neuen Coach neue Impulse erhalten würde, die mich weiterbringen könnten. Ich spürte, dass mein letztes Jahr am Boston College neue und wichtige Erfahrungen für mich bereithalten würde. Ich sollte nicht enttäuscht werden.