Kennt ihr das auch? Dass ihr euch an manche Gespräche fast wortwörtlich erinnert, obwohl sie schon so viele Jahre zurückliegen? Meine Unterhaltung im Sommer 2013 mit Ben Albert gehört in diese Kategorie. Ben Albert war mein neuer Defensive-Line-Coach, und vom ersten Moment an hatte ich das Gefühl: Diesem Ehrenmann kannst du vertrauen! Ich stand vor einer wegweisenden Entscheidung. Zum Ende meines vierten College-Jahres hatte ich meinen Abschluss gemacht, so wie alle anderen, die mit mir 2009 am Boston College angefangen hatten. Um den Bachelor in Kommunikation zu erhalten, brauchte ich keine Abschlussprüfungen zu bestehen, sondern musste einfach nur ausreichend Fächer besucht haben. In jedem Fach bekam man Credits für die Kurse, die man besuchte. Und wer ausreichend Credits gesammelt hatte, um auf die notwendige Punktzahl zu kommen, hatte bestanden.
Die Zeremonie zur Zeugnisverleihung im Mai 2013 war für mich ein sehr besonderer Moment. Meine Mom kam extra aus Hamburg angereist, auch Coach Lyons, mein Vertrauenslehrer von der Highschool, war mit dabei. Alle waren stolz wie Oscar. Am frühen Morgen des Abschlusstags stiegen wir 2.000 Absolventen auf das Dach der Garage des höchsten Unigebäudes und bewunderten von dort den Sonnenaufgang, den sogenannten »Seniors‹ Sunrise«. Die Stimmung war schon die ganze Woche über komplett durchgeknallt gewesen, alle hatten mächtig Gas gegeben. Ich allerdings verzichtete mal wieder auf Party – mein zweites College-Jahr als Redshirt stand auf dem Plan. Während sich meine Mitstudenten also nach und nach die Lichter ausknipsten, dachte ich nur an meine nächste Athletikeinheit.
In dieser Stimmung sprach ich also an einem Tag der Vorbereitung auf meine vierte Saison als Spieler der Eagles mit Coach Albert. Es gab zwei Möglichkeiten, wie ich mein fünftes College-Jahr gestalten konnte. Entweder würde ich den Fokus darauflegen, meinen Notendurchschnitt so zu verbessern, dass ich im zweiten Semester meinen Master in Angriff nehmen könnte. Dafür sprach das türkische Sprichwort, das mir mein Opa eingetrichtert hatte. Als ich noch ein Kind gewesen war, hatte er oft auf seinen Bizeps gezeigt und gesagt: »Du kannst da drin 1000 Volt haben. Aber wenn die Birne oben nicht brennt, dann nutzen dir auch 1000 Volt nichts.«
Die zweite Variante war, einfach nur ein paar Kurse zu belegen, auf die ich Lust hatte, und mich im zweiten Semester auf die bestmögliche Vorbereitung für eine potenzielle NFL-Chance zu konzentrieren. Coach Albert hörte sich meine Gedanken an. Dann sagte er: »Kasim, die NFL-Chance hast du nur ein einziges Mal. Ich möchte, dass du all deine Energie darauf verwendest, sonntags Football zu spielen!« Er sagte Sonntag, nicht Samstag, und wer sich mit dem Spielplan von College und NFL auskennt, der weiß, was mir er sagen wollte. Da wurde mir klar, dass es Menschen gab, die mir den Sprung in die NFL wirklich zutrauten. Also alle Chips auf NFL! Das wurde zum Mantra, an das Kevin Pierre-Louis, der dem Team als Einziger meiner engen Freunde aus meinem Jahrgang noch geblieben war, und ich uns jeden Tag gegenseitig erinnerten: »NFL or go home!« Jeden Morgen nach dem Aufstehen sagte ich mir diesen Satz vor dem Spiegel ins Gesicht. Um dann Vollgas zu geben.
Der Austausch des kompletten Coaching-Staffs bedeutete für mich eine Umstellung, denn mir fehlten nun die Vertrauenspersonen, die mich über vier Jahre begleitet hatten. Unser neuer Headcoach Steve Addazio war ein tougher Hard-Nose-Coach, richtig alte Schule. Als er uns das erste Mal beim Athletiktraining sah, drehte er beinahe durch. Der Dresscode bestand damals aus einem alten Boston-College-Kleidungsstück, mehr nicht. Coach Addazio kam aufs Feld und rief: »Was seid ihr denn für ein Haufen? Ihr wollt eine Mannschaft sein?« Ich fragte ihn: »Coach, was ist das Problem?« Seine Antwort: »Ihr seht nicht aus wie ein Team, ihr seht aus wie ein Haufen Slap Dicks.« Von da an mussten wir auch zum Athletiktraining Shorts und Shirt im Einheitslook tragen, das Shirt immer fein säuberlich in die Hose gesteckt. Wenn sich jemand nicht daran hielt, bekam die ganze Gruppe 25 Up-downs aufgebrummt.
Nach den ersten Tagen unter dem neuen Hauptübungsleiter schrieb mir Coach Lyons eine SMS: »Und, was hältst du vom neuen HC?« Ich schrieb zurück: »Harter Typ, ziemlich streng und ein bisschen durchgeknallt. Aber ich glaube, er wird ein guter Trainer sein.« Leider schickte ich die Antwort nicht an Coach Lyons, sondern an Coach Addazio. Der schrieb zurück: »Wolltest du mir diese SMS schicken?« Mann, war das peinlich! Aber er nahm es mir nicht übel, sondern teilte mir mit, dass er meine Ehrlichkeit schätzte. Glück gehabt!
Ich merkte schnell, dass das neue Trainerteam für meine Entwicklung sehr wichtig werden würde. Unser Defensive Coordinator war Don Brown, einer der besten Koordinatoren im College-Football, der an jeder seiner Stationen eine Top-Ten-Verteidigung zusammengestellt hatte. Er schaute sich meine drei Spielzeiten am College genau an und erklärte mir: »Du droppst zu viel. Ich verspreche dir: Du wirst nicht mehr droppen, nur noch passrushen. Du wirst locker zehn Sacks in der Saison machen, und wenn du es dann in die NFL schaffst, will ich 20 Prozent!« Tatsächlich gab er mir sehr viel Freiraum für Plays, und ermutigte mich, mich nur noch auf meine Stärken zu konzentrieren.
Coach Albert hatte genau den gleichen Plan mit mir. Er sagte: »Ich will, dass du nur einen Passrushing-Move trainierst, aber den so lange, bis du darin ein Meister bist.« Jede Woche startete Coach Albert das Meeting mit einem berühmten Zitat. Einmal war es ein Satz von Bruce Lee: »Ich habe keine Angst vor einem, der 10.000 Kicks kennt, sondern vor dem, der einen Kick 10.000-mal gemacht hat.« Spätestens von diesem Tag an tat ich, was der Coach von mir verlangte. Ich perfektionierte meine Moves. Ich stellte fest, dass er mit seiner Einschätzung richtiggelegen hatte. Wenn man zu viel versucht, ist die Gefahr groß, dass man nichts mehr richtig macht. Also folgte ich seinem Plan.
Besonders knusprig war das Training bei unserem neuen Athletikcoach Frank Piraino, der aktuell für die Tennessee Titans arbeitet. Ich war für meine Ausdauer bekannt, doch während der Behandlungen von Coach Pirainos dachte ich oft: »Was ist denn hier los?« Ich bin mir sicher, der Typ gibt vor jedem Training »Folter« bei Google ein und macht dann, was ihm da vorgeschlagen wurde. Drei Minuten Wall-Sitting, danach Sledge-Push und 20 Wiederholungen Beinpresse unter Vollbelastung. Alles ohne Pause viermal hintereinander. Ich bekam Beine aus Granit. Das komplette Gegenteil von dem, was wir heute als Werner-Knie kennen.
Coach Albert kannte Pirainos Workouts und stellte mir zu Beginn der Vorbereitung eine Aufgabe. Ich sollte in jeder einzelnen Einheit eine Linie finden, über die ich es nicht hinausschaffen könnte, ohne abzubrechen. Und diese Linie sollte ich so weit zurückdrücken, dass ich sie nie mehr wiederfinden würde. Das versuchte ich, und ich glaube, dass meine Einstellung, immer 100 Prozent Leistung aus mir herauszupressen, in jener Phase geprägt wurde.
Coach Piraino kam aus dem Kampfsport, und weil ich mich fürs Boxen interessierte, hatten wir ein gemeinsames Thema. Ich verfolgte die UFC und war ein großer Fan von Rashad Evans. Seine Botschaft nahm ich mir sehr zu Herzen: »I don’t need to act tough to prove that to someone else. I know I’m tough.« Seit meinem Freshman-Jahr dachte ich, ich muss aggro sein, um aggro zu spielen. Aber in meinem letzten College-Jahr wurde mir klar, dass ich einfach nur ich selbst zu sein brauchte. Es ist okay zu lachen, es ist okay, sauer zu sein. Aber tue niemals so, als wärst du jemand anders.
Während unserer härtesten Workouts sahen mich meine Teammates an, als sei ich verrückt geworden. »Kasim, why are you smiling, bro?« »Cause I love that shit, baby!« Jede neue Herausforderung machte mich happy. Oder um es mit den Worten von Coach Brown zu sagen: »Controlled Aggression and Organized Chaos!«
Wenn ich heute auf dieses Zusatzjahr am College zurückschaue, kann ich sagen, dass es meine Karriere gerettet hat. Meine ersten drei Spielzeiten waren nicht gut genug gewesen, um mich für die NFL zu empfehlen. Im vierten Jahr schaffte ich den Durchbruch, und das habe ich zum Großteil Coach Brown, Coach Albert und auch Coach Piraino zu verdanken. Sie gaben mir, was es brauchte, um mein Ziel zu erreichen. Wobei mir dieses Ziel als solches erst nach dem dritten Saisonspiel bewusst wurde.
Ich war von meinen Teammates zum Kapitän gewählt worden, was mir wahnsinnig viel bedeutete. Schließlich hatten wir ein paar richtig starke Jungs im Team. Zum Beispiel Vollmaschine Andre Williams, unseren Runningback, der es in die Endauswahl für die Heisman Trophy schaffte und mich in einem Training mal zehn Yards mit sich schleifte, als ich ihn nach einem Tackle festzuhalten versuchte. So viel Vertrauen geschenkt zu bekommen und mit herausragenden Sportlern wie Matt Ryan, Luke Kuechly, Matt Hasselback oder Doug Flutie in einer Reihe zu stehen, die Boston College ebenfalls als Captain angeführt hatten, war für mich eine riesengroße Ehre. Zugleich aber auch eine Verpflichtung. Ich wollte meiner Vorbildfunktion gerecht werden. »Leading through example« war mein Leitsatz als Anführer. Vor jedem Spiel rief ich im Huddle: »All out!« Und das gesamte Team antwortete: »All day!« Bis heute bekomme ich deshalb Nachrichten von damaligen Mitspielern. Ich war und bin überzeugt davon, dass Menschen nicht dem folgen, was du sagst, sondern dem, was du tust.
In Spiel drei mussten wir in Los Angeles gegen die University of Southern California ran. Wir kassierten unsere höchste Saisonniederlage – 7:35 - und ich spielte wirklich nicht gut. Anschließend gab es eine kurze, aber direkte Message vom Headcoach. »Kasim, du willst in die NFL? Dann hast du verdammt noch mal keinen Raum für ein schlechtes Spiel, wir brauchen mehr von dir.« Da realisierte ich, dass die Trainer wirklich an mich glaubten. Und dass sich bei besserer Leistung eine echte Chance für die NFL ergeben würde. Dafür musste ich allerdings abliefern.
Von da an wurde ich zu dem Anführer, den alle in mir sahen. Kevin und ich waren die Spieler, die den Unterschied machten. Wenn unsere Spiele live im Fernsehen gezeigt wurden, hieß es, KPL und ich seien die »player to watch«. Das bedeutete uns beiden sehr viel, denn unser Mantra – »NFL or go home« – schweißte uns fest zusammen. Wir waren leider keine Roommates mehr, denn im fünften Jahr durften wir in eigenen Apartments außerhalb des Campus wohnen. Aber wir machten trotzdem alles gemeinsam. KPL hatte privat harte Zeiten zu überstehen. Einmal rief er mich um 1 Uhr nachts an und fragte, ob er zu mir kommen könne. Wir sollten um 6 Uhr schon wieder beim Training sein, aber ich antwortete: »Klar, Mann, komm rum!« Eine halbe Stunde später war er da. Er sagte: »Ich brauchte einfach jemanden, bei dem ich mich hinsetzen kann.« Um 2 Uhr schlief ich ein, als ich wieder aufwachte, war Kevin nicht mehr da. Auf dem Trainingsplatz sahen wir uns wieder. Und verstanden einander auch ohne Worte.
Kevin Pierre-Louis hat seinen kleinen Sohn auf dem Schoß, als er sich zum Zoom-Gespräch einwählt. Das letzte Spiel der Regular Season mit den Texans ist gerade zwei Tage her, der Linebacker ist zurück in seinem Haus in Fairfield, Connecticut. Und er freut sich sehr über die Anfrage, ein paar Anekdoten über seinen Kumpel Kasim zu erzählen. Wenn man bedenkt, wie die ersten Eindrücke entstanden, muss man sich fast darüber wundern, dass aus den beiden enge Freunde wurden. »Das erste Mal, als ich Kasim traf, dachte ich, er sei betrunken«, erinnert sich KPL.
Als angehender Freshman war er zu seinem offiziellen Besuch am Boston College angekommen. »Wir fuhren mit einem Van die Auffahrt zum Freshman-Dorm hinauf. Ich sah einen großen Jungen mit breitem Grinsen zum Van kommen, und als er sprach, klang es für mich so, als habe er schon nachmittags einen Vollrausch. Ich wusste nicht, dass Kasim Deutscher ist.« Das zweite einschneidende Erlebnis war die Trainingseinheit, zu der er als Neuer zu spät kam. »Ich musste die Übungen für das Straftraining ansagen. Das war die härteste Strafe, die man mir geben konnte. Ich konnte den Jungs nicht in die Augen schauen, während sie wegen mir leiden mussten. Aber als ich mich wegdrehte, rief Kasim, ich solle nicht wegschauen, sondern zusehen, damit ich daraus lerne. Das hat mich beeindruckt und uns beide zusammengebracht.«
Kevin ist überzeugt, dass Kasim irgendwo einen versteckten Schalter hat, mit dem er zwischen seinen Persönlichkeiten hin- und herswitchen kann. »Er ist auf dem Feld ein ganz anderer Mensch als abseits des Footballs. Auf dem Feld ist er wie ein Raubtier auf der Jagd, und anderswo ist er der energiegeladenste und positivste Typ, der jedem immer ein Lächeln ins Gesicht zaubern möchte«, sagt er. Die gemeinsame Leidenschaft für harte Arbeit habe ihn mit Kasim zusammengeschweißt. »Wir haben uns gegenseitig zu Höchstleistungen gepusht. Obwohl er Kapitän war, hat er mich Ansagen machen lassen, weil er lieber mit Taten führen wollte. Wir haben uns perfekt ergänzt.«
Vor dem vierten gemeinsamen Jahr hätten Kasim und er gespürt, »dass es auf uns ankommt, etwas zu verändern. Wir hatten zwei miese Spielzeiten hinter uns, und wir mussten lernen, einander mehr zu vertrauen, statt alles allein erledigen zu wollen.« In dieser Phase sei es ein Segen gewesen, einen Spieler wie Kasim an seiner Seite zu wissen. »Er war wie eine Verlängerung meiner selbst, ich konnte mich zu 100 Prozent auf ihn verlassen und fühlte mich mit ihm an meiner Seite freier.«
Anderen Menschen zu vertrauen, fiele ihm schwer, gibt Kevin zu. »Aber mit Kasim war das anders. Er hatte meine Unterstützung ohne jede Einschränkung oder Zweifel. Die Liebe, die er mir gegeben hat, ist selten. Er gab mir zu verstehen, dass er sich für mich als Menschen interessiert und nicht nur den Footballspieler sieht. Ich war es gewohnt, Probleme mit mir allein auszumachen. Aber mit Kasim konnte ich offen über alles reden, und das hat mich stärker gemacht. Er hat mir gezeigt, wie wichtig es ist, sich als Freund zu öffnen, und damit hat er mich sehr inspiriert.«
An Kasim habe er immer dessen Entschlossenheit bewundert. »Wenn er sich für etwas entschieden hat, dann zog er es gnadenlos und mit voller Disziplin durch. Gleichzeitig war es seine Schwäche, Dinge, deren Potenzial er nicht erkannte, laufen zu lassen, obwohl er viel mehr daraus hätte machen können. Aber wenn er für etwas brannte, war er unaufhaltsam.« Deshalb sei er auch nicht überrascht über den Weg gewesen, den sein bester College-Kumpel gegangen ist. »Er hat all die Extraarbeit erledigt, die nötig ist. Kasim war immer stolz auf das, was er geschafft hat, aber er hat nie damit angegeben. Deshalb verdient er alles, was er sich erarbeitet hat.«
Dass der Kontakt nach dem College nie abgerissen sei, sei in erster Linie Kasim zuzuschreiben. »Er ist wie kein anderer meiner Freunde gut darin, sich immer wieder zu melden und nachzufragen, wie es mir geht«, sagt er. Die Whats-App-Gruppe, in der sich die Roommates aus dem College bis heute austauschen, heiße nicht zufällig »Kasims Brothers«. Der Name zeige, wie wichtig Kasim bis heute für die Gruppe ist.
Einmal hat KPL Kasim privat besucht. Das war in New Orleans, zu Saints-Zeiten, als Kevin mit den Seahawks in der Stadt war. »Er war einer meiner Trauzeugen, wir haben die Freundschaft aufrechterhalten. Und ich hoffe, dass ich ihn bald wieder besuchen kann.« Über Social Media verfolgt er die Karriere seines Kumpels. Vor allem seine Videos auf Instagram liebt er. »Das hat Kasim schon gemacht, als es noch gar nicht modern war. Deshalb bin ich mir sicher, dass er auch nach dem Football viele gute Ideen hat, um sein Leben bunt zu gestalten.« Ein Leben, von dem Kevin Pierre-Louis immer ein Teil bleiben möchte.
In Spiel 4 verloren wir zwar zu Hause 34:48 gegen Florida State – diesmal leider ohne Björn – aber ich sackte ihren Freshman-Quarterback Jameis Winston dreimal und hatte eines meiner besten Spiele in meiner gesamten Karriere. Spiele gegen High-Caliber-Teams sind immer wichtig, weil alle NFL-Scouts da sind, um die Topspieler zu scouten. Mir wurde später erzählt, dass sich viele Scouts den Left Tackle von Florida State näher anschauen wollten. Für ihn war es kein guter Tag, aber mir hat es immens geholfen, ein paar Köpfe der Scouts in meine Richtung zu drehen und meinen Draft Stock zu verbessern.
Vor dem letzten Saisonspiel in Syracuse stand ich bei 9,5 Sacks. Mein Bestwert war in den Jahren davor nicht über 2,5 hinausgekommen. Natürlich wollte ich unbedingt die Marke von zehn Sacks knacken, die mir Coach Brown vorhergesagt hatte. Und die Chance kam, als ich einen Pass des Quarterbacks blockte. Der Ball flog zurück in seine Arme, ich tackelte ihn für minus zwölf Yards, doch der Move wurde nicht als Sack, sondern als Tackle for loss gewertet. Also blieb ich bei 9,5 Sacks, aber dafür hatten wir am Saisonende einen Winning Record von 7:5 und nach den beiden miesen Vor-Saisons den Turnaround geschafft.
In den vier Wochen zwischen dem letzten Spiel der regulären Saison und dem Bowl Game, das wir an Silvester 2013 in Shreveport (Louisiana) gegen die Arizona Wildcats austragen sollten, begannen die Gerüchte über meinen Schritt in die NFL. Im Senior Year darf man keinen Kontakt zu seinem Agenten haben, damit nicht schon irgendwelche Geschäfte abgeschlossen werden können. Ich hatte nicht einmal einen Agenten. Warum? Weil die NFL für mich lange Zeit nicht mehr war als ein Traum.
Im Jahr 2000 bei den Hamburg Huskies sollten wir unsere Ziele aufschreiben, und ich hatte getextet: »Ich will Linebacker in der NFL sein.« Aber dass das irgendwann mal Realität werden könnte, daran war damals nicht zu denken. Ich muss zugeben, dass ich die NFL während meiner College-Zeit eher am Rande verfolgte. Sonntags, an Spieltagen, trainierten wir. Ich bekam zwar mit, wie sich meine früheren Teammates schlugen, aber ein Hardcore-Fan war ich nicht.
In Deutschland war ich Fan der Baltimore Ravens gewesen. Wegen Ray Lewis, wie wahrscheinlich jeder Defensivspieler. Ray war mein Held. In meinen Ansprachen ans Team versuchte ich ihn zu imitieren. Einmal kam einer von den Medienleuten der Eagles zu mir und fragte, ob ich nicht ein bisschen weniger fluchen könnte, sonst hätten sie Probleme, die Ansprache live zu senden. Doch ich blieb mir treu: keine Glücksbärchen-Ansprachen von mir.
In Boston darf man kein Ravens-Fan sein, da stehen alle hinter den Patriots. Trotzdem war ich insgeheim immer für die Ravens, wenn sie gegen die Patriots spielten. Ein großer Fan war ich trotzdem nicht. Viel lieber schaute ich zu, wenn die anderen Sportteams der Eagles spielten. Ich liebte Basketball, Eishockey oder Volleyball und feuerte die anderen Athleten an. »Du schaust dir ja mehr Spiele an als ich«, sagte mir der Präsident vom Boston College einmal. »Klar«, antwortete ich, »ich muss doch die Eagles unterstützen!« Das Motto »Eagles supporting Eagles« hatte ich verinnerlicht.
Nun, da es so aussah, als hätte ich eine realistische Möglichkeit, es in die NFL zu schaffen, musste ich mich nach einem Agenten umschauen. Nur für wenige Tage vor dem Bowl Game war es erlaubt, Kontakte zu knüpfen. Ich bekam Anrufe von Menschen, denen ich nicht mal eine Kaffeemaschine abgekauft hätte. Einer allerdings holte mich mit seiner Art sofort ab: Robert Walker. Gemeinsam mit einer Vertrauensperson der Schule vereinbarten wir ein Treffen. Robert Walker war, wie sich herausstellte, ein handlungsschneller und sehr intelligenter Typ. Er hatte eine Powerpoint-Präsentation mit meinen Statistiken vorbereitet. Ich war so geflasht, dass ich ihm versprach, nach dem Bowl Game einen Vertrag mit ihm abzuschließen.
Das Spiel in Shreveport war richtige Grütze. Wir holten uns eine fette 19:42-Klatsche ab. Kevin und ich waren verdammt sauer, weil wir zugelassen hatten, dass alle die ganze Woche vor dem Spiel schon Party machten. Trotzdem wusste ich, dass die nächste Generation von Anführern in unserer Defense wie Matt Milano oder Justin Simmons es sich zu Herzen genommen hatten, niemals vom Gas zu gehen.
Immerhin erhielten Kevin und ich eine Einladung zum NFLPA Collegiate Bowl, einem Allstar-Game für College-Spieler, die eine Aussicht darauf haben, es in die NFL zu schaffen. Dazu eine Einladung zum NFL-Combine nach Indianapolis, die nur die rund 300 Top-Prospects im College bekommen. Langsam wurde es ernst.
Das Allstar-Game fand im kalifornischen Carson statt, was es meiner amerikanischen Familie ermöglichte, live dabei zu sein. Mein Vater musste leider früher los, weil er noch arbeiten musste. Er war Geschäftsführer in einem »Gentlemen’s Club«, wie er es nannte. Andere nannten es schlicht »Strip-Club«, aber Gentlemen’s Club klang definitiv besser. Nach dem Spiel fuhr ich dort vorbei, um mich bei meinem Dad für die Unterstützung zu bedanken. Er fragte, ob ich Hunger hätte. Klar. Also bestellte er mir eine große Portion Pizza und Chicken Wings. Ich setzte mich in eine Ecke des Ladens und aß. Immer wieder kamen »Angestellte« zu mir und fragten, ob sie für mich tanzen dürften. »Nein danke, ich besuche nur meinen Vater, aber wenn du willst, kannst du mit mir Pizza und Chicken Wings essen«, gab ich zur Antwort. »Wer ist dein Vater?«, wurde ich gefragt. »Big John.« Dann war Ruhe. So hatte ich wenigstens die Chicken Wings für mich, und das war gut so, denn sie gehören sicher unter die Top drei in meiner persönlichen Alltime-Wings-Bestenliste.
Vor dem Allstar-Game Mitte Januar absolvierte ich zum ersten Mal in meinem Leben eine Vorbereitung auf ein Spiel mit einer Mannschaft, die ich nicht kannte. Es war wie so oft: Alle versuchten, möglichst böse auszusehen, um auf diese Weise Stärke auszustrahlen. Nur einer war dabei, der wie ich keine Lust auf böse Gucken hatte und lieber ein paar Witze riss: Avery Williamson, der erfolgreich bei den Titans und Jets gespielt hatte. Wir waren sofort auf einer Wellenlänge. Mit ihm tauschte ich später in der NFL mein erstes Jersey. Menschen wie er sind sehr wichtig für mich. Ich liebe es, Leute um mich zu haben, die Herzlichkeit und Wärme ausstrahlen.
Davon gab es im Allstar-Camp ansonsten nicht allzu viele. Wir hatten drei Einheiten am Tag, und warum auch immer gab es kein Wasser zum Trinken. Beim Training standen Scouts von allen 32 NFL-Teams am Rand. Ich sah all die Caps mit den Logos und dachte: Wow, die sind alle hier, um uns zu beobachten! Nach den Einheiten hatten wir die Möglichkeit, mit den Teamscouts zu sprechen. Einer sagte zu mir: »Kasim, wir sind interessiert an dir, aber ich konnte in deiner Vita nichts Schlechtes über dich finden. Für mich ist genau das eine rote Flagge.« Ich sagte nur: »Ich versuche mich einfach von Problemen fernzuhalten, Sir.« Es wirkte, als hätte ihm die Antwort gefallen. Ich habe ihn trotzdem nie wiedergesehen.
Nach dem Allstar-Game flog ich nach Atlanta, wo ich mich bei Chip Smith Performance auf das Combine vorbereiten sollte. Mein Agent Robert Walker hatte mir das vorgeschlagen und mir ein sehr faires Angebot gemacht. Er würde die Kosten für Training, Wohnung und Essen übernehmen. Dafür müsste ich ihm die üblichen 3 Prozent meines Bruttogehalts abtreten, wenn ich es in die NFL schaffen würde. Wenn nicht, würde ich ihm gar nichts schulden. Die meisten Agenten lassen sich ihre Investition in ihre Klienten zurückzahlen, auch wenn sie es nicht in die NFL schaffen. Insofern war das ein feiner Zug von Robert Walker und ein Angebot, das ich nicht ablehnen konnte.
Er hatte in Atlanta ein Haus für all seine Klienten gemietet. Wir waren zu sechst und hatten ein paar echte Charaktere dabei. Auch einer meiner College-Teammates, Offensive Lineman Ian White, war dabei. Ich teilte mein Zimmer mit ihm. Am besten verstand ich mich allerdings mit Kenny Anunike von der Duke University. Er teilte mein Mindset. Das fing damit an, dass wir morgens gesund frühstückten, danach zum Training gingen, alles aus uns herausholten, wieder gut aßen, uns regenerierten, trainierten und abends früh zu Bett gingen. Mir war klar, dass diese Arbeitsmoral meine einzige Chance sein würde, es in die NFL zu schaffen.
Anderen schien das nicht so klar zu sein. Einer zum Beispiel schaute die ganze Zeit auf sein Handy, während er Sprints trainierte. Ein anderer kam mit dicker Hose zu mir und sagte: »Ich werde unter den ersten zehn gedraftet. Was ist mit dir?« Ich antwortete: »Keine Ahnung. Ich werde einfach abwarten.« Sein Blick war unbezahlbar. Er dachte, er sei der Prinz von Zamunda und könnte kurz mal zeigen, wo der Hammer hängt. Solche Typen, die noch kein Geld verdienten, aber schon den ersten Porsche vorbestellt hatten, sah ich von da an öfter, als ich erwartet hätte.
Vier Wochen ackerte ich in Atlanta, und als es dann am 13. Februar 2014 zum Combine nach Indianapolis ging, fühlte ich mich in einer Top-Verfassung. Ich hatte gehofft, Björn in Indianapolis besuchen zu können, aber keine Chance! Das Combine ist so etwas wie die Olympischen Spiele für NFL-Anwärter. Der Zeitplan war so dermaßen durchgetaktet, dass ich froh war, Zeit zum Atmen und Pinkeln zu haben. Wobei das mit dem Pinkeln eine eigene Geschichte ist.
Am ersten Abend checkte ich im Hotel ein. Dabei musste ich gefühlte hundert Formulare unterschreiben, dass ich in alles einwillige, was die NFL mit mir veranstalten wollte. Jeder bekam ein Goodie Bag mit kleinen Geschenken und seine Ausrüstung. Dann war man drin im Inner Circle. Mein Roommate war Dominique Easley, später First-Round-Pick der Patriots. Allerdings war er verletzt und nur für die Gespräche mit den Teams angereist. Entsprechend entspannt war er drauf, während mir langsam der Stift ging.
Um 5.30 Uhr am nächsten Morgen war ich wach. Und beging einen schweren Fehler: Ich ging zur Toilette. Gerade hatte es unter mir zu plätschern aufgehört, als mir einfiel, dass ich zuerst zum Dopingtest hätte gehen müssen. Also musste Nachschub rein. Ich trank ungefähr vier Liter Wasser, um beim Drug Test den Verkehr nicht aufzuhalten. Zum Glück lief es gut. Aber in meinem Bauch war Flut. Nicht gut, wenn man sich von seiner besten Seite präsentieren soll.
Der erste Tag des Combine ist für den medizinischen Teil reserviert. In alphabetischen Gruppen wird man in eine große Halle geführt. Auf den Tribünen sitzen Vertreter aller Teams. Und dann geht es zu wie auf dem Viehmarkt. Man wird aufgerufen, geht in Unterhose auf die Bühne, wird gewogen und vermessen, alle Werte werden laut vorgelesen. Danach geht es in einen Raum, in dem die Ärzte aller 32 Teams warten. Die Verletzungen werden vorgelesen, anschließend haben alle Ärzte das Recht, einen überall anzufassen und Fragen zu stellen. Einer riss an meinem Arm: »Tut das weh!« Schmerz durchzuckte meine Schulter. »Nein, alles gut«, log ich. Ein anderer packte mein Handgelenk: »Das war schon gebrochen, richtig? Davon brauchen wir einen Kernspin.« Zwei Stunden lag ich in der Röhre und wurde durchleuchtet. Schwierig, sich dabei nicht wie ein Stück Fleisch zu fühlen.
Nach der medizinischen Prozedur folgten in einem großen Saal im Hotel Meetings mit den interessierten Teams. Ein bisschen wie Speeddating, zehn Minuten pro Paar. Während also im großen Saal gedated wurde, gab es noch private Meetings. Die Arizona Cardinals waren das einzige Team, das mit mir sprechen wollte. Headcoach und Defensive Coordinator wirkten mit ihren Fragen wie Sherlock Holmes und Doktor Watson auf mich. »Draw up your defense.« »No, another one.« »No, another one.« »Explain what everybody is doing!«
Dann fragten sie mich: »Glaubst du nicht, dass du als Deutscher kalte Füße bekommen wirst, wenn du auf einmal mit NFL-Superstars trainieren sollst?« Am liebsten hätte ich geantwortet: »Kollege, ich werde sie zerstören.« Es kam aber doch nur ein schlichtes »No, Sir« heraus.
Für mich war das alles so weit cool, aber als ich danach ein paar andere Jungs fragte, sagte einer, dass er 16 Gespräche gehabt hätte. Das fühlte sich dann schon nicht mehr so cool an. Die Begründung für das Desinteresse an meiner Person war mein Alter. Mit 25 ist man als Rookie eben nicht mehr ganz taufrisch.
Nun lag es an mir, mich an den beiden Folgetagen zu beweisen. Doch bevor es an die körperliche Arbeit geht, hat der liebe NFL-Gott die geistige Ertüchtigung vorgesehen. Am zweiten Tag standen fünf Stunden lang psychologische Tests auf dem Programm, bei dem auf verschiedenen Feldern Intelligenz, Ausdrucksvermögen, Rhetorik und logisches Denken überprüft wurden. Jeder dieser Tests war wie ein Endgegner, ich war danach mental so ausgelaugt wie nie zuvor in meinem Leben. Weil ich wusste, dass am Nachmittag Bankdrücken angesetzt war, gab ich mir davor die volle Dröhnung mit meinem Booster aus Koffein und verschiedenen anderen, natürlich legalen, Substanzen, was mich verlässlich wach machte. Drei statt zwei Teelöffel wirkten Wunder, ich war ready. Als ich aufgerufen wurde, wusste ich nicht, ob mein Herz wegen des Koffeins raste oder wegen des Adrenalins.
Ich bin nicht der Stärkste, aber in dem Moment, in dem ich mich auf diese Bank legte, waren da nur diese 100 Kilogramm und ich. Ich war wie im Tunnel. Ein Strength Coach, der die Übung beaufsichtigte, fragte mich, wie viele Wiederholungen ich schaffen würde. »15«, sagte ich mutig, denn mehr hatte ich nie geschafft. Er schaute mich an und sagte: »Give me 20!« Ich griff mir die Stange und fing an zu drücken. Eins, zwei, drei – »all the way« hörte ich jemanden rufen, der mir sagen wollte, dass Schummeln nicht gestattet war – vier, fünf. »Ten«, rief der Strength Coach, und ich dachte: Das fühlt sich nicht an wie zehn, es ist, als würde ich Federn drücken!
Ob es die Wirkung des Boosters war, weiß ich nicht, aber ich spürte auch bei 15 nichts. Ich drückte weiter, mehr hatte ich bis dahin noch nie geschafft. Der Einbruch jedoch kam so überraschend wie meine vorangegangene Leistungsstärke. Bei 18 fühlten sich die 100 Kilo an wie 1.000, und bei 19 war Schluss. Das war zwar immer noch unter dem Durchschnitt, aber ich war hochzufrieden mit mir. Die weiteren Meetings und Tests schwebten an mir vorüber.
Am dritten Tag ging es um alles. 40-Yard-Dash im Stadion der Colts! Wir waren in Positionsgruppen eingeteilt. Vor uns waren die Receiver dran, Odell Beckham Jr. war locker an mir vorbeigeschlendert. Als ich auscheckte, kam er an. Ich war an zehnter Stelle vorgesehen. Nummer acht war Jadeveon Clowney, später First-Round-Draftpick der Houston Texans, der eine 4,5 raushaute. Eine Superzeit. 4,6 sind auch noch top, 4,7 ist Durchschnitt. Nummer neun war Aaron Donald, später First-Round-Pick der Rams, ein Ehrenmann, auch er sah extrem schnell aus.
Dann höre ich meinen Namen. Ich war die 40 Yards zuvor schon tausendmal gelaufen, aber jetzt war ich doch sehr aufgeregt. Ich ging in den Dreipunktstand. Erster Versuch: Fehlstart! Zurück auf Los. Der Druck stieg. Zweiter Versuch. Ich startete korrekt, aber spürte, wie ein Krampf durch meine Wade schoss. Abbruch! »Relax. Breathe. Take your time«, sagte der Coach, der die Sprints überwachte. Letzte Chance. Ohne Technik schoss ich aus der Startstellung und ballerte alles raus. 4,6. Ich verspürte eine Mischung aus Erleichterung und Glücksgefühlen: Schneller war ich noch nie gewesen.
Beim Vertical Test sprang ich danach 35,5 Inches, was auch ein guter Wert ist. Die Position Drills liefen ebenfalls gut. Durchsprinten ist da angesagt, wie bei Forrest Gump, bis einer »Stopp« ruft. Und bloß keinen Ball fallen lassen. Einmal passierte es mir, aber das war okay. Nach dem 40-Yard-Dash war der Druck weg, denn alles was danach kam, hatte ich über zehn Jahre lang immer wieder gemacht. Ich wusste, worum es ging. Ich glaubte, sauber abgeliefert zu haben. Dann wurden die 40-Yard-Ergebnisse vorgelesen. Edebali: 4,76. What? Ich war von einer 4,6 ausgegangen, das hatte man mir doch gesagt! Eine 4,7 ist Mittelmaß, aber zum Glück noch gut genug. Alles in allem konnte ich mit meinem Combine zufrieden sein und reiste zurück nach Atlanta, um dort mein Training für weitere drei Wochen fortzusetzen.
Schließlich war das Combine nicht das Ende, sondern erst der Beginn meines Wegs. Anfang März folgte bereits der Pro Day. Dabei werden alle Jungs aus einer Draft Group an ihrem Heimat-College unter die Lupe genommen. Im Prinzip macht man dort noch einmal das Gleiche wie beim Combine. Der Pro Day ist also eine Chance, um den eigenen Wert vor dem Draft noch einmal zu steigern. Mein Agent fragte mich, ob ich den 40-Yard-Dash oder das Bankdrücken noch einmal wiederholen wolle. »Wenn ich nicht muss, dann nicht«, sagte ich, denn ich war mit den Werten zufrieden und fürchtete, schlechter abzuschneiden.
Cassidy Vaughn, eine gute Freundin von mir, die im Volleyballteam der Eagles spielte, saß damals zufällig eine halbe Stunde bevor die Tests beginnen sollten, in dem Raum, in dem die NFL-Anwärter warteten. Sie spürte, wie ernst alle waren. Dann betrat ich den Raum. Sie kannte mich gut und dachte: Ob Kasim auch so ernst ist? In dem Moment fing ich an, mit hoher Stimme »It’s Pro Day!« zu singen und dabei durch den Saal zu tanzen. Da wusste sie: Alles ist gut! Sie hat mir diese Geschichte einige Jahre später erzählt, und ich finde, sie unterstreicht, was eine meiner Maximen ist: Nicht immer alles im Leben allzu ernst nehmen, aber immer wissen, wann du ernst machen musst.
Ich entschied, nach dem Pro Day in Boston zu bleiben und dort auf den Draft zu warten, der Ende April angesetzt war. Die Arizona Cardinals hatten sich gemeldet und mir mitgeteilt, dass sie interessiert seien, mich aber nicht als Fourth-Round-Pick riskieren wollten. Fünfte bis siebte Runde war die Prognose. Für mich war das völlig okay. Weil ich ein Late Rounder war, musste ich nicht vor Ort sein, sondern konnte das Prozedere aus Boston verfolgen. Mich störte das nicht, schließlich hatte ich im Jahr zuvor das Glück gehabt, den Draft live mitzuerleben.
Björn hatte mich damals eingeladen, er war ja schon 2013 mit dem College fertig und hatte beste Chancen, in der ersten Runde ausgewählt zu werden. Ich fuhr mit der Bahn nach New York und hatte dafür meine besten Klamotten angezogen. Björn hatte ein Hotelzimmer für mich gebucht. Für mich war es der Hammer, das mit ihm gemeinsam zu erleben. Schließlich waren wir den Weg seit unserer Nationalmannschaftszeit 2006 Seite an Seite gegangen. Am Morgen seines großen Tags bügelte er mir sogar noch mein Hemd, damit ich auch ordentlich aussah. Björn, wenn du das liest, jetzt kann ich es ja zugeben: Ich habe mir auch ein Paar von deinen Socken stibitzt.
Als er dann an 24. Stelle von den Colts gedraftet wurde, war ich einfach nur stolz und glücklich, dass er es geschafft hatte. Seine Eltern und seine Frau waren dabei, das ganze Event war einfach nur krass. Manche Väter waren doppelt so breit wie ich, alle sahen aus wie Alphatiere. Für mich war es eine riesige Motivation, alles reinzuhauen, um das Ganze ein Jahr später selbst zu erleben.
Beim Draft wird am ersten Tag die erste Runde durchgezogen, am zweiten die zweite und dritte und am dritten die Runden vier bis sieben. Am zweiten Tag rief mich mein Agent immer wieder an, um mir den aktuellen Stand zu übermitteln. Ich machte mir keinen Stress, ich wusste ja, dass es für mich erst am dritten Tag interessant werden würde. Der dritte Tag kam, in Runde vier wurde KPL von den Seahawks gedraftet. Ich freute mich sehr für meinen besten College-Kumpel. Aber langsam stieg dieses Gefühl in mir auf: Wann bin ich endlich dran? Sehen die in mir nichts? Bin ich ein One-Hit-Wonder?
In Runde fünf wurde Andre Williams von den New York Giants verpflichtet. Wieder freute ich mich riesig. Dann ging ich in die Mensa, weil ich Hunger hatte. Die Leute, die ich dort traf, waren völlig verdutzt, als sie mich sahen. »Ist heute nicht der Draft?« »Doch.« »Was machst du dann hier?« »Ich habe Hunger.« »Und wie feierst du, wenn du gedraftet wirst?« »Ich bin allein im Zimmer, keine Ahnung.« Und das stimmte. Beides. Ich war allein im Zimmer eines Kumpels, bei dem ich übernachtete. Und ich hatte keine Ahnung, wie ich feiern würde. Darüber hatte ich mir keine Gedanken gemacht. Aber das war für mich nichts Neues. Wenn die Leute groß feiern, ziehe ich mich gerne zurück. Wenn am College wieder mal eine fette Party stieg, setzte ich mich oft ins leere Stadion und visualisierte meine Ziele. Mag komisch wirken für einen, der so gerne mit Menschen interagiert. Aber für mich waren diese Momente wichtig.
Nun aber, da Runde sechs lief, gab es keine Ziele zu visualisieren. Außer dem einen Ziel, endlich meinen neuen Arbeitgeber zu kennen. Ich erhielt eine SMS von den Browns: »Wenn du in Runde sieben noch drin bist, draften wir dich!« Geil, dachte ich, Cleveland ist jetzt nicht das beste Team, aber immerhin, Hauptsache NFL. Auf einmal rief mein Agent an. Die Titans hätten angeboten, ich solle als Free Agent zu ihnen kommen, wenn ich nicht gedraftet würde. Kurz darauf riefen die Giants bei mir an, sie würden mich nicht draften, aber gerne als Free Agent haben. Das Gleiche sagten mir wenig später die Texans.
In dem Moment war Geld das Letzte, an das ich dachte. Ich wollte nur eine Chance bekommen, um mich zu beweisen. Wenn du nicht gedraftet wirst, heißt das, die Teams wollen nicht in dich investieren, sondern lieber das Risiko auf dich abwälzen, obwohl sie interessiert sind. Das ist auf der einen Seite zwar nicht so toll, und ich muss zugeben, dass ich schon sauer und enttäuscht war, nicht gedraftet zu werden. Andererseits konnte ich so immerhin mein Team frei wählen.
Der Letzte, der mich anrief, war Dwaune Jones, Scout bei den New Orleans Saints. Das Ganze passierte wohlgemerkt, während die siebte Runde noch lief. Er sagte: »Ich finde cool, wie du spielst, ich liebe deine Energie.« Er war der einzige Scout, der wirklich von mir überzeugt und gleichzeitig auch ehrlich zu mir war, weil er auch meine Defizite ansprach. Dann kündigte er mir einen weiteren Anruf an. Wenig später war Rob Ryan in der Leitung, Defensive Coordinator der Saints. Er sagte: »Jedes Jahr rede ich nur mit einem einzigen Free Agent. Dieses Jahr bist du mein Mann. Und glaub mir: Jeder Free Agent, mit dem ich geredet habe, hat es ins Team geschafft.«
Nun hatte ich also die Wahl. Und es musste schnell gehen. Mein Agent drängelte, die Giants und die Texans wollten wissen, ob ich zu ihnen komme. »Wohin willst du?«, fragte mein Agent. Ich antwortete: »Das ist doch dein Job! Was ist deine Meinung?« Obwohl alles ganz schnell gehen musste, erlebte ich diese Minuten wie in Zeitlupe. In meinem Kopf lief ein Film ab, der mir im Zeitraffer vorführte, was ich alles dafür gegeben hatte, nun diese Wahl treffen zu können. »New Orleans«, sagte ich schließlich. Dann rief ich Rob Ryan an. »Herzlichen Glückwunsch«, war alles, was er sagte. Und dass mein Flug nach New Orleans am nächsten Morgen um 9 Uhr gehen würde.
Ich hatte also gerade noch Zeit, mich von meinen Freunden zu verabschieden, abends mit meinem damaligen Date essen zu gehen und das Teamlogo der Saints und den berühmten Fansong »Who Dat« auf meinem Instagram-Account zu posten. Am Morgen hieß es dann: NFL-Time – the dream continues!