Kapitel 9 feat. Robert Walker

Die Saints und sieben Short Stops – meine NFL-Teams

Wer von euch schon einmal sein altes Leben hinter sich gelassen hat und Hals über Kopf in ein neues aufgebrochen ist, kann vermutlich nachvollziehen, was mich erwartete. Boston war mir ans Herz gewachsen, die vielen Freunde am College fehlten mir schon in der Minute, in der ich mich von ihnen verabschiedete. Vor der nächsten Reise ins Ungewisse hatte ich mein Leben in einen Koffer gequetscht und alles andere zurückgelassen.

Mit meiner Einstellung, immer das Positive zu sehen, und mit meiner Neugier auf alles, was kommen würde, fühlte ich mich ready, in der NFL loszulegen. Und New Orleans war dafür genau der richtige Ort. Eine überragende Stadt, ganz anders als das irisch geprägte Boston, mit vielen französischen Einflüssen und einem schwülen Klima, das mir aber irgendwie besser lag als die feuchte Kälte im Nordosten. Alle Neuen wurden in einem Hilton-Hotel in der Nähe des Flughafens einquartiert. Von dort waren es etwa zehn Minuten bis zum Trainingsgelände der Saints. Viel mehr bekam ich in den ersten Wochen eh nicht zu sehen.

Das College war wie ein gebrauchter VW Käfer, die NFL im Vergleich dazu ein funkelnagelneuer Bugatti. Die Training Facility der Saints war top notch – »erstklassig«. Die ersten Tage konnte ich sie auch noch sehr entspannt nutzen, denn außer ein paar Rookie-Meetings stand nichts Verpflichtendes in meiner Hausaufgabenmappe. So konnte ich mich langsam an mein neues Umfeld gewöhnen. Als Undrafted Rookie sind die Chancen, ins endgültige Team zu rutschen, nicht gerade hoch. Deshalb hatte ich mir auch kein Apartment klar gemacht, sondern blieb zunächst im Hotel. Unter den Neuen waren sieben Draftpicks und acht ungedraftete Spieler, mich eingeschlossen.

Ich bin oft gefragt worden, wie es war, den ersten NFL-Vertrag zu unterschreiben. Bei mir lief das etwas chaotisch ab. Da ich mich nicht um ein Arbeitsvisum gekümmert hatte, sondern immer noch auf meinem Studententicket durch die USA surfte, konnte ich zunächst mein Autogramm nicht aufs Papier setzen. Stattdessen musste ich für ein paar Tage nach Kanada fliegen, weil ich für einen längeren Aufenthalt erst kurzfristig wieder außer Landes sein musste.

In dem Moment dachte ich echt, dass ich nach dem ganzen Chaos, das meine Situation als Nicht-Amerikaner mit sich brachte, niemals einen Vertrag unterschreiben würde. Aber Gott sei Dank lief in Kanada alles wie geplant. Dort erhielt ich in der US-Botschaft mein Arbeitsvisum, flog zurück nach New Orleans, und alles war okay. Unser Defensive Coordinator Rob Ryan rief mich direkt nach der Landung in Kanada an. Ich hatte mich schon auf eine Absage eingestellt, doch tatsächlich bat er mich, ihm ein paar kanadische Schokoriegel mitzubringen.

Nun also saß ich im Büro von General Manager Mickey Loomis. Vor mir der Rookie Minimum Contract, den alle ungedrafteten Neulinge unterschreiben: 1,5 Millionen Dollar Gehalt für drei Jahre. Ich sah die 15 mit den fünf Nullen und dachte: »Wow, let’s go!« Dann, ein paar Zeilen drunter: Garantierte Summe: 3.000 Dollar brutto pro Monat. Ich so: »Was bedeutet das, 3.000 Dollar garantiert?« Er so: »Das bedeutet 3.000 Dollar garantiert.« Ich so: »Okay. Und was ist mit den 1,5 Millionen?« Er so: »Die werden über die drei Jahre pro Spiel aufgeteilt.« Ich: »Ach ja, klar, das wusste ich doch …« Und schon hatte ich meine erste Lektion im NFL-Business gelernt.

Meine Jungs in Hamburg feierten mich schon als Millionär, doch in Wahrheit bekam ich 1.500 Euro netto und war glücklich über die Chance. Für mich war das okay. Sie hätten mir auch eine Seite aus einem Spongebob-Comic hinlegen können, die ich unterschrieben hätte – so motiviert war ich. Mein Agent Robert Walker erklärte mir, einige Teams hätten mir zwar ein paar Tausend Dollar mehr gezahlt, doch New Orleans bot eine große Chance, dass ich es ins Final Roster schaffen würde.

Robert hatte schon viele Spieler kennengelernt, die für ein paar Tausend Dollar mehr woanders unterschrieben hatten, es dort nicht ins Roster geschafft und danach nie wieder einen Fuß aufs Footballfeld gesetzt hatten. Ein klitzekleines Problemchen gab es allerdings noch. Um zu spielen, musste ich in den Kader kommen. Also: Vollgas von Tag eins an! Als ich beim ersten Fitting im Equipment Room meine Shirts mit dem NFL-Logo bekam, die ich bis dahin nur von »Madden« kannte, waren meine Adrenalinwerte schon auf Hunderttausend.

Ich durfte mir Schuhe aussuchen, und bekam einen dieser schwarz-goldenen Helme, in die ich mich schon 14 Jahre zuvor verliebt hatte. Ich bekam meine College-Nummer 91. Fand ich mega, denn als Defensive End willst du eine Nummer in den Neunzigern! Die meisten Free Agents, egal auf welcher Position, bekommen einfach eine Nummer von 60 bis 70. Wenn man nicht in der Offensive Line spielt, ist 60 bis 70 nicht sexy. Die Veteranen machten mir Mut: Wer als Undrafted Rookie eine 90er-Nummer bekommt, hat sehr gute Chancen, es am Ende ins Team zu schaffen.

Ich war »ready to go«, und das war auch nötig. Der Wahnsinn begann mit dem Rookie-Minicamp. Da waren nicht nur die 15 Neuen am Start, sondern auch 60 andere Spieler aus der Gegend, die keinen Job hatten und sich innerhalb von drei Tagen beweisen sollten. Drei Einheiten pro Tag, das Gaspedal in jeder Sekunde durchgedrückt. Schon im Walkthrough spielten die Jungs härter, als ich es aus dem College selbst aus den härtesten Matches gewohnt war. Mir war klar: Die Jungs hier sind bereit für die Schlacht, die wollen in jedem Spielzug zeigen, dass sie eine Chance verdient haben. Wer sich da nicht anpasst, ist schneller weg, als man Rookie-Minicamp sagen kann. Zwei Dinge sind in diesen Tagen entscheidend: Du musst zeigen, dass du Talent hast. Und dass du immer 100 Prozent gibst. Ansonsten: Fehler vermeiden, Bälle fangen, keine falschen Schritte, machen, sondern was die Trainer sagen.

Nach dem Camp waren 50 Mann weg, fünf Neue da, fünf andere gecuttet. Mir war bis dahin nicht klar gewesen, wie krass das Geschäft wirklich ist. Nach dem Rookie-Minicamp wusste ich es besser. Im College sagen sie dir nach einem schlechten Training, dass du es am nächsten Tag besser machen sollst. In der NFL sagen sie dir nach einem schlechten Training, dass du nach Hause gehen kannst.

Schon sehr früh habe ich genügend Spieler gesehen, die mehr Talent oder athletische Fähigkeiten hatten als ich. Aber wenn Coaches auffällt, dass ein Spieler die kleinen Dinge nicht richtig machen kann, ist er ganz schnell raus. Als ungedrafteter Spieler musst du auch damit klarkommen, dass die meisten dich nicht mal angucken. Man ist einfach nur eine Nummer, ein Camp Body, der höchstwahrscheinlich nach dem Trainingslager wieder raus ist. Ich war der sechste Defensive End in der Rangfolge, also in der Nahrungskette ganz unten. Weil die meisten Undrafted Rookies ohnehin schnell wieder weg sind, hatten wir keinen festen Spind im Locker Room. Unsere mobilen Spinde wurden in der Mitte des Raums geparkt.

Wer die ersten Tage übersteht, darf in die OTA’s einsteigen. OTA steht für Organized Team Activity. Damit sind lockere Trainingseinheiten gemeint, an denen auch die Veteran Player teilnehmen. Sie sind dafür gedacht, dass das Team sich kennenlernt und in Bewegung kommt. Das wusste ich allerdings nicht. Beim ersten Spielzug drehte ich komplett durch, so wie ich das eben aus dem Rookie-Camp kannte. Einer der Alten drehte sich zu mir um und sagte nur: »Edebali, entspann dich. Das hier ist OTA!« Zweite Lektion für den neuen Rookie: Ein Profi weiß, wann man Gas geben muss und wann nicht. Im OTA ist es das Wichtigste, sich oder andere nicht zu verletzen. Wer sich unserem Quarterback Drew Brees weniger als fünf Yards näherte, dem drohten saftige Strafen. »Edebali«, sagte mir einer, »wenn du in seine Nähe kommst, hör einfach auf zu laufen!« Auch wenn mein innerer Drang mir etwas anderes befahl: Ich folgte diesem Ratschlag. Headcoach Sean Payton klärte uns auf: »Niemand kommt in den OTA ins Team. Diese Zeit ist für euch gedacht, damit ihr in Form kommt!«

In Form kommen fand ich grundsätzlich super, umso mehr war ich erstaunt, dass nach der OTA-Phase von Mitte Juni an einen Monat frei war. Seit dem Bowl Game nach meiner letzten College-Saison hatte ich nicht mehr frei gehabt, trotzdem fühlte es sich merkwürdig an. Ich flog zurück nach Boston und trainierte dort bei meinem alten Strength-Coach Frank Piraino, um in top shape zum Trainingslager anzureisen, das im Juli angesetzt war. Wir reisten ins Greenbrier Resort, ein nobles Hotel in White Sulphur Springs (West Virginia), der perfekte Ort für ein gepflegtes Gemetzel. Denn nichts anderes war mein erstes NFL-Camp.

Am ersten Tag war ein Fitnesstest angesetzt. Zuerst Sled Push über 50 Yards hin und zurück, dann ein Sprint über dieselbe Distanz, zehn Push-ups, zehn Sit-ups, zehn Squads. Das Ganze viermal hintereinander, und die letzten 10 Prozent mussten es noch einmal von vorn machen. Der Durchschnitts-Defensive-Liner ist 1,95 Meter groß und wiegt 130 Kilo. Körperlich hatte ich also mit meinen 1,88 Metern und 116 Kilo einen Vorteil, und das zeigte sich auch im Sprint. Ich lag locker 15 Meter vor dem Zweiten. Dachte ich, bis ich merkte, dass ungefähr 20 Meter vor mir noch einer rannte. Cam Jordan, First-Round-Pick von 2011 und heute, wie ihr alle wisst, mein Schwager. Eine komplette Vollmaschine!

Wieder eine Lektion für mich. In der NFL geht alles in Lichtgeschwindigkeit. Auch wenn ich nur gegen die zweite oder dritte Offense trainierte, gab es keine Sekunde, in der ich entspannen konnte, weil wirklich jeder in der Lage war, mir den Kopf abzureißen. Das Training war körperlich nicht viel anstrengender als im College. Die Einheiten waren kürzer, dafür aber viel intensiver und deshalb mental viel härter. Ich gab alles, und die Coaches schienen mit mir zufrieden zu sein. Headcoach Payton sagte: »Look at Edebali, this man is always finishing!« Ich versuchte, ernst zu gucken, und sagte: »Yes, Coach!« Innerlich machte ich für den Rest des Tages den Carlton-Dance.

Am 8. August war es dann endlich so weit. Zum ersten Mal durfte ich das Shirt mit dem NFL-Logo tragen. Wir spielten unser erstes Pre-Season-Game in St. Louis gegen die Rams, und ich spürte, wie nah ich dran war, meinen Traum wirklich werden zu lassen. Wie Eminem in »8 Mile« stand ich vor dem Spiegel und war bereit zu zeigen, dass ich in die NFL gehörte. Auch wenn nur ungefähr 15.000 Zuschauer im Stadion waren, saugte ich die Atmosphäre auf. Zumindest so lange, bis Cam vor dem Start des ersten Quarters neben mir auf der Bank sagte: »Typisch St. Louis.« »Was ist typisch St. Louis?«, fragte ich zurück. »Hier ist nie etwas los!«, meinte er.

Meine Aufgabe war, als Teil der Special Teams rauszugehen, wenn wir den Ball punten mussten. Alle, die dieses Buch lesen, müssen verstehen: Einer der schlimmsten Momente im Leben eines NFL-Profis ist der vor dem ersten Spielzug der Karriere, wenn du als Special Teamer draußen sitzt und deine Offense 3rd Down und eine lange Distanz zu gehen hast. Du betest zu den Football-Göttern, dass sie deinem Team ein neues First Down schenken mögen, damit du nicht raus musst. Meine Gebete wurden nicht erhört. Also gleich im ersten Quarter nach drei offensiven Spielzügen: Punt Saints. Und in meinem Kopf diese Stimme: »Sei Usain Bolt!« Kick Step, Kick Step, Punch! Mit Vollgas rannte ich das Spielfeld runter, Fair Catch, alles paletti. So schnell wie noch nie, mit gefühltem 100-Meter-Weltrekord, kam ich zurück auf die Bank. Sauerstoffmaske! Ich brauchte eine Sauerstoffmaske! Cam schaute mich mit großen Augen an und fragte: »Alles okay?« Ich antwortete: »Alles okay? Das war gerade mein erster Spielzug in der NFL!« Er lachte nur: »Dann bleib ruhig. Je ruhiger du bist, desto weniger kommst du aus der Puste.« Netter Tipp. Aber leichter gesagt als getan.

Wir gewannen 26:24, ich hatte ein Tackle gemacht, aber alles in allem nicht wirklich solide ausgesehen. Es war okay, aber nicht das, was ich von mir selbst erwartet hatte. Auch das zweite Spiel gegen die Titans eine Woche später war nicht meins. Wobei ich meinen allerersten Quarterback-Sack hatte und den Coaches damit hoffentlich zeigen konnte, wozu ich in der Lage war. Dann kam Spiel drei, und das sollte aus verschiedenen Gründen ein besonderes für mich werden. Wir spielten in Indianapolis gegen die Colts, mit einem gewissen Björn Werner in seinem zweiten Jahr. Ich hatte mich riesig auf ihn gefreut, denn wenn sich zwei Jungs, die sich aus der deutschen Nationalmannschaft kennen, zum ersten Mal als Gegner in der NFL treffen, sind natürlich viele Emotionen mit im Spiel.

Pre-Season-Game drei ist das wichtigste Spiel der Vorbereitung. Die ganze Woche über wird genau wie in der regulären Saison alles vorbereitet. Es ist die Generalprobe, denn es geht um die Kaderplätze, die Starter sind auf dem Feld. Ich allerdings spielte in der Defense überhaupt nicht, und obwohl ich in den ersten Pre-Season-Spielen im Special Team gestartet war, hat man mich für dieses Spiel auch nur in der zweiten Brigade eingeplant. Als Spieler kannst du dir schnell zu viele Gedanken machen. Unser D-Line-Coach Bill Johnson merkte das und sagte: »Mach dir keine Sorgen. Wir wollen alle Spieler sehen. Gib einfach Vollgas, wenn du drauf bist.«

Bei nur noch 54 Sekunden auf der Uhr im letzten Quarter und einer 23:17-Führung rief er: »Edebali, du bist dran!« Ich also raus – und sackte im ersten Spielzug den QB. Nächster Spielzug, das Ganze von vorn, zweiter Sack. Ich weiß nicht mehr, welcher Quarterback es war, aber egal – zwei Sacks hintereinander waren genau das, was ich in diesem Moment gebraucht hatte. Wir gewannen, die Coaches waren happy. Diese eine Minute in Indianapolis war meine Eintrittskarte ins Team – auch wenn das zu dem Zeitpunkt noch nicht klar war. »Selbst wenn es hier für dich nicht reicht«, sagte Coach Johnson, »es schauen 31 andere Teams zu, die Interesse haben könnten.«

Für mich aber war klar, dass ich es bei den Saints packen wollte. Ich hatte erlebt, wie der Kader immer kleiner wurde, nach zwei Wochen Trainingscamp waren von 90 noch 70 Mann übrig geblieben. Immer wieder ging der »Reaper«, der Sensenmann, wie wir ihn nannten, durch die Kabine und sagte zu denen, die es nicht hören wollten: »Der Coach will mit dir sprechen.« Dieser Satz bedeutete: Du bist raus! Ich hatte ihn bis dahin nicht gehört, und nun stand das letzte Vorbereitungsspiel an, zu Hause gegen die Baltimore Ravens. Einer unserer Veterans kam vor der Partie in die Kabine und sagte zu uns D-Linern: »Ihr seid fünf Defensive Ends, nur einer wird es ins Final Roster schaffen. Ich hoffe, ihr versteht das!« Ich hatte mir bis dahin tatsächlich keine großen Gedanken gemacht, sondern einfach versucht, mein Ding durchzuziehen. Ich wusste, wie klein meine Chancen waren, ins Team zu kommen. Das war wieder einer dieser »NFL ist ein Business«-Momente, denn obwohl wir alle miteinander klarkamen, waren wir doch Konkurrenten, die den Job haben wollten.

Ich war Starter gegen die Ravens, versuchte aber, nicht zu viel hineinzuinterpretieren. Trotzdem war ich stolz wie Oscar. Auch wenn es das letzte Vorbereitungsspiel war und kein Starter auf dem Platz stand, wollte ich allen beweisen, warum ich in diesem Spiel als Starter auflaufen durfte. Für viele meine Mitspieler waren es die letzten 60 Minuten Football, und damit die letzte Chance, unseren und allen anderen Coaches in der NFL zu zeigen, dass sie in diese Liga gehörten.

Wir verloren mit 13:22, aber meine Performance war anständig. Bloß: War sie anständig genug? Die 24 Stunden nach dem letzten Pre-Season-Game waren der Horror. Alle verfolgten in den sozialen Netzwerken, wer gecuttet wurde. Solange das Telefon nicht klingelte, war alles gut. Mein Handy klingelte fünf Minuten nach der Cut-Deadline. Am anderen Ende: Coach Johnson. »Gratuliere, du bist im Team!« Ich war viel zu überwältigt, um durchzudrehen, und sagte nur: »Danke, Coach!« »Hey, bist du gar nicht aufgeregt?«, fragte er mich. »Ich weiß, dass die Arbeit jetzt erst richtig losgeht«, war meine Antwort. »Edebali, genau das gefällt mir an dir!«

Am nächsten Tag im Locker Room machten die Veteranen richtig Stimmung für uns Rookies, die es gepackt hatten. Cam kam zu mir und sagte: »Edebali, richtig? Ich merke mir Namen erst, wenn das Final Roster steht, denn vorher macht es keinen Sinn. Wie ist deine Handynummer?« Ich war völlig geflasht und fragte, warum er meine Nummer wollte. »Ich muss dich doch in den Gruppenchat der D-Line aufnehmen!« Mehr ging nicht. Welcome to the Family!

Ihr erinnert euch vielleicht, dass das erste NFL-Spiel, das ich in den USA live gesehen habe, im Jahr 2000 die Partie Falcons gegen Saints gewesen war. 14 Jahre später, am 7. September 2014 reiste ich zu meinem ersten NFL-Spiel, das ich live auf dem Spielfeld erleben sollte. Die Paarung: Saints vs. Falcons. Ich werde euch an späterer Stelle mehr über meine wichtigsten Spiele erzählen, aber mein erstes Mal kann ich euch hier nicht ersparen. Es war leider nicht so schön. Zwei Minuten vor Ende der Halbzeit wollte ich im Third Down einen Spin Move machen, war aber etwas zu früh dran, geriet ins Stolpern und verpasste den Sack. Stattdessen warf Matt Ryan ein neues First Down, die Falcons schossen noch ein Fieldgoal. Am Ende verloren wir mit 34:37. »It’s a big man’s league, son, don’t guess and don’t waste steps«, kommentierte der Coach.

Die Woche nach dem Spiel war krass, schließlich hatte ich meinen ersten Game-Scheck auf dem Konto: 25.000 Dollar! So viel Geld hatte ich noch nie auf einmal gesehen oder besessen. Einfach nur crazy, mit Football so viel Geld zu verdienen, dachte ich mir. Ich rief direkt meine Mama an und fragte sie, ob sie irgendetwas brauchte. Ihre Antwort: »Kasim, ich arbeite länger, als du auf der Welt bist. Spar mal schön!« Aber auch diesmal lernte ich schnell: Geld kann genauso schnell wieder weg sein, wenn du nicht aufpasst.

Wir hatten einen verletzten Fourth-Round-Pick, der noch mindestens sechs Wochen lang nicht einsatzbereit war und zu einem Meeting zu spät kam. Das kostete ihn satte 10.000 Dollar Strafe. Die Woche darauf kam er erneut zu spät – und wurde direkt entlassen! Besonders nach dem holprigen Start in die Saison war mit Coach Payton nicht zu spaßen. Seine Ansage zu dem Vorfall: »Wenn du nicht Teil der Lösung bist, bist du ein Teil des Problems.« So läuft das NFL-Business.

Einer unserer D-Liner kam am letzten Trainingstag zu spät, bevor wir nach Dallas flogen. In der Nacht von Freitag auf Samstag war er feiern gewesen. Die Verspätung bezahlte er mit der Höchststrafe und weil er seinen »Gamecheque« verpasste, kostete ihn die Party 70.000 Dollar.

Mein erstes Geld in der NFL steckte ich lieber ins Sparschwein. Ein Notgroschen für schlechtere Zeiten. Da ich als Free Agent nie sicher sein konnte, in den 53-Mann-Kader zu kommen, zog ich erst in der dritten Woche aus dem Hotel in ein kleines Apartment. Als letztes Mitglied unserer Rookie-WG. Während der OTAs wurden wir in eigenen Rookie-Meetings regelmäßig auch über die finanziellen Gefahren aufgeklärt. Trotzdem hatten viele meiner Kollegen am Ende des Jahres ihr gesamtes Geld versenkt.

Heutzutage ist das besser strukturiert. Das Einkommen wird auf zwölf Monate verteilt. Damals gab es viele Spieler, die noch nie in ihrem Leben Geld verdient hatten und dementsprechend lax damit umgingen. Im Team sprachen wir sehr offen über unser Geld, schließlich wurden unsere Gehälter sowieso öffentlich gemacht. Einmal sprach mich einer meiner Teammates an: »Wie hast du bloß geschafft, dass du noch so viel Geld übrig hast?« Eine 20.000-Dollar-Diamantkette um den Hals, Grillz im Mund, zwei brandneue Autos. C’mon, Man, dachte ich nur.

Ein Auto zu kaufen, hätte für mich keinen Sinn ergeben. Ich hatte ja noch keinen Führerschein. Jeden Tag musste ich meine Teammates fragen, ob sie mich abholen konnten. Also ging es ab Woche zehn jeden Mittwoch nach dem Training bis 21 Uhr zur Fahrschule.

Nach vier Doppelstunden hatte ich meine Prüfung. Glücklicherweise war mein Fahrlehrer ein großer Saints-Fan. Die Prüfung war überragend: Nach drei Rechtskurven erklärte mein Fahrlehrer: »Mister Edebali, Sie haben bestanden! Kann ich jetzt ein Autogramm bekommen?« Ich war ready für Amerikas Straßen und besorgte mir einen Leihwagen. Ein paar Tage später fuhr ich mit dem Ding in eine Tiefgarage. Parken hatten wir nicht wirklich geübt. Ich fuhr also völlig ahnungslos in die Parklücke, ohne darauf zu achten, dass da eine hässliche Säule im Weg stand. Als ich mit komplett zerbeulter und zerkratzter Seite zum Mietwagenanbieter zurückkam, schaute der Typ mich ungläubig an. »Sorry, ich bin Fahranfänger«, sagte ich, »ich habe die Säule nicht gesehen.« Er lachte nur und sagte: »Das erleben wir hier häufiger!« Zum Glück war ich vollkasko-versichert und bekam sofort ein neues Auto. Inzwischen, das könnt ihr mir glauben, weiß ich auch, wie man einparkt.

In meiner ersten Off-Season in der NFL kaufte ich mir einen gebrauchten Chrysler 300. Meine Mom war stolzer als ich! Für mich aber war es viel wichtiger zu wissen, wo ich während der freien Zeit, die immerhin von Januar bis April dauerte, trainieren konnte. Also flog ich zurück nach Boston und fragte, ob ich mich mit dem College-Team fithalten durfte. Bei meinem Kumpel Mehdi Abdesmad fand ich Unterschlupf auf der Couch. Er sagte zwar: »Kasim, du bist NFL-Profi, bitte mach dir ein cooles Hotel klar!« Aber das wäre Geldverschwendung gewesen. Seine Couch reichte mir, und weil ich für uns einkaufen ging, ging das für Mehdi auch klar.

Auch wenn ich das Training von Coach Piraino mit meinen Jungs vom Boston College liebte, brauchte ich bald eine neue Herausforderung. Es ist schwer, sich zu verbessern, wenn man anfängt, sich wohlzufühlen. Deshalb war ich froh, dass mein alter College-Kumpel Ifeanyi Momah mich anrief und fragte, ob ich mit ihm in Miami trainieren wolle. Florida war genau mein Ding. Besseres Wetter, beste Trainingsbedingungen. Die halbe Liga trainiert in der Off-Season in Miami, und mit den Besten zu trainieren kann den entscheidenden Unterschied ausmachen, um ein neues Level zu erreichen.

Ifeanyi und ich buchten uns ein Hotel eine Stunde außerhalb von Miami. Für 37 Dollar die Nacht. André Williams, den wir vom College kannten, zahlte gemeinsam mit seiner Freundin zur gleichen Zeit 2.000 Dollar pro Woche für ein Apartment. Kann man machen, muss man aber nicht. Eines Abends rief mich ein Saints-Teammate an: »Kasim, ich habe Geburtstag, komm vorbei, wir machen eine Barbecue-Party!« Beim Barbecue bin ich immer dabei, doch als ich in der Villa ankam, die er auf Star Island gemietet hatte, wo all die Superreichen wohnen, gab es eine Pizza und zwölf Wings, und ansonsten ziemlich viele leicht bekleidete Frauen. So einladend es für manch anderen gewesen wäre, wusste ich doch: Dies war nicht der richtige Ort für mich. Vor allem hatte ich keine Lust, meiner Freundin zu erklären, warum ich in einer Villa mit mindestens 30 »Schauspielerinnen« feierte. Mit ein paar anderen Jungs – allesamt Millionäre – zogen wir in einen Nachtclub weiter. Als wir ankamen, trug eine Kellnerin gerade eine unglaublich große Bestellung an einen Nebentisch. Einer aus unserer Gruppe fragte: »Was hat der Typ da bestellt?« Als sie fertig war mit Aufzählen, sagte er nur: »Bring uns das Doppelte!« Am Ende des Abends konnte ich einen Blick auf die Rechnung werfen: 35.000 Dollar. Ich werde schon traurig, wenn ich 2 Dollar für eine Extraportion Käse ausgeben muss.

Vor meiner zweiten Saison für die Saints fragte mich ein Freund aus Deutschland, ob ich jetzt Starter sei. Ich konnte diese Frage nicht beantworten. Mein Gefühl war, dass die Coaches mit meiner Leistung zufrieden waren, und dass ich mich sehr gut ins Team integriert hatte. Das gesamte Umfeld gefiel mir. Die Stadt war ein Traum, das Verhältnis zu den Fans sehr gut. Wenn ich erkannt wurde, feierten sie mein Spiel und lobten meine Einstellung. New Orleans ist footballverrückt, was man jeden Montag an der Stimmung merkt. Wenn die Saints verloren haben, ist die Laune im Keller. Wenn sie gewinnen, ist ein ganz besonderer Vibe in der Stadt. Je mehr die Saints gewinnen, desto weniger Kriminalität herrscht auf den Straßen. Da sieht man mal wieder, was für eine gesellschaftliche Bedeutung der Sport hat.

Im Team fühlte ich mich sehr gut aufgehoben. Für mich waren die Saints ein absoluter Topclub, sehr gut geführt und auf allen Positionen gut aufgestellt. Den Besitzer Tom Benson bekam ich zwar so gut wie nie zu Gesicht, aber der GM Mickey Loomis war immer ansprechbar. Wenn ich Probleme hatte, wurde mir geholfen. In diesem ersten Jahr wurde mir bewusst, wie wichtig die GM-Position für einen Club ist. Daran lässt sich die Qualität eines ganzen Franchises ablesen.

Einige Teammates hatten mich gewarnt: »In der NFL bist du nur so lange im Kader, bis sie einen Besseren gefunden haben.« In der zweiten Runde des Drafts sicherten sich die Saints die Dienste von Hau’oli Kikaha. Anthony Spencer kam aus Dallas, außerdem wurden mehrere Free Agents gesignt. Das bedeutete für mich, dass ich in der Hierarchie wieder ganz weit unten stand.

In der Vorbereitung hatten wir ein Joined Practice mit den Patriots. Abgesehen davon, dass ich einmal Tom Brady gesackt habe, war es sehr cool zu erleben, wie ein anderes Team trainierte und was für ein Typ Patriots-Headcoach Bill Belichick ist. Nach Fehlern starteten die Jungs von ganz alleine ihre Strafrunden, ein Blick von Belichick reichte.

Kurzum – to make a long story short: Ich schaffte es ins Team, konnte mich als Passrusher etablieren, hatte am Ende fünf Sacks und die meisten Tackles in den Special Teams in meiner Statistik stehen. Leider hatte ich zum Ende der Saison mit Knieproblemen zu kämpfen und entschied mich für eine Patellasehnen-OP am linken Knie. Was ich nicht wusste, aber später herausfand, weil die Beschwerden nach dem Eingriff nicht nachließen: Der operierende Arzt war ein Neuling, der so etwas zum ersten Mal gemacht hatte. Einer der Veterans meinte: »Always get a second opinion.« Der Teamarzt arbeitet im Interesse des Teams, nicht unbedingt in deinem. Lektion gelernt.

Während meiner Heilungsphase war Max Holloway an meiner Seite, mein bester Kumpel aus dem College. Aus Tampa, wo er mittlerweile als Sportlehrer arbeitete, war er extra nach New Orleans gekommen. Er kochte, putzte und fuhr mich überall hin. »Max, willst du das nicht hauptberuflich machen?«, fragte ich ihn. Wollte er nicht. Mit seiner Anwesenheit hat er mich in einer schwierigen Zeit enorm unterstützt.

Vielleicht könnt ihr euch vorstellen, wie groß der Schock war, als mich am Tag vor Halloween 2016, also mitten in meiner dritten Saison in New Orleans, die Schwester von Max anrief. Morgens um 6 Uhr. Unter Tränen berichtete sie mir, dass Max bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Am Abend zuvor hatte ich einen Anruf von ihm verpasst, weil ich noch im Trainingsgebäude war und mir die Spiele unseres kommenden Gegners angeschaut hatte. Nun würde ich nie wieder einen Anruf von ihm erhalten. Der Mann, mit dem ich im College meine Träume geteilt hatte und der zu meinem Freund geworden war, war nicht mehr da.

Mit dieser schlimmen Nachricht konnte ich nicht umgehen. Sie zog mir den Boden unter den Füßen weg. Dieser emotionale Schmerz war neu für mich. Eine harte Zeit. Den ganzen Tag dachte ich an tausend Dinge und gleichzeitig doch an nichts. Es ist schwer zu beschreiben, weil sich die Welt einfach weiterdreht und man sich selbst im Leerlauf befindet. Auch meine Performance litt darunter. Allen, die auch einen geliebten Menschen verloren haben, kann ich nur sagen: Umgib dich mit Menschen, die du liebst, und die dich auch lieben. Allein schafft man das nicht.

Die Beerdigung war an einem Montag. Direkt nach unserem Spiel in San Francisco flog ich nach Tampa. Ich kannte seine Familie. Sein Vater Brian hatte für die Patriots in der NFL gespielt, sein Bruder David war bei vier Teams Linebacker gewesen. Es war fürchterlich, zu sehen, wie die Mutter vor dem Sarg ihres Sohns stand. Es freute mich, dass viele Jungs vom College Max die letzte Ehre erwiesen. Einer unserer früheren Coaches hielt die Trauerrede. Ich selbst erzählte ein paar lustige Geschichten über Max, die alle zum Lachen brachten. Seinen Sarg zu tragen war einer der härtesten Momente meines Lebens.

Football rückte für mich in jenen Tagen in den Hintergrund. Aber die NFL verzeiht dir nichts, nicht einmal ein paar Tage der Trauer. Vor meinem dritten Jahr hatte ich mir fest vorgenommen, noch mehr Gas zu geben, schließlich lief mein Vertrag nach der Saison aus, und ich wollte mir unbedingt einen besseren erkämpfen. Obwohl ich in der Vorbereitung sehr solide gewesen war, wurde mit Paul Kruger ein Veteran von den Browns verpflichtet. Damit war ich mal wieder außen vor. In der Saison hatte ich nicht mehr so viele Passrush-Situationen, dafür aber ein Spiel als Starter, in Woche elf bei den Panthers. Ich schaffte zehn Tackles und einen Sack gegen Cam Newton. Am Saisonende teilten mir die Saints allerdings mit, dass sie mich erneut nur als Free Agent für das Minimum verpflichten wollten. Da war mir klar, dass ich nicht mehr gebraucht wurde. Mein Agent sagte, ich solle mich für andere Teams offen zeigen und meinen Marktwert testen. Und genau das tat ich.

Eine der Charaktereigenschaften, die Robert Walker an Kasim ganz besonders schätzt, ist seine positive Ausstrahlung. »Es ist für einen Spieler nie leicht, wenn er nicht weiß, wohin die Reise für ihn geht. Aber Kasim hat sich nie beklagt. Er hat an sich und seine Stärken geglaubt und seine Sache einfach durchgezogen«, sagt der Mann, der in Charlotte als Spieleragent arbeitet und zudem ein Verlagshaus führt. Walker erinnert sich noch gut daran, warum er sich 2014 dafür entschieden hat, mit dem deutschen Studenten am Boston College zusammenzuarbeiten. »Wir suchen in unserer Agentur High-Character-Guys. Genau das war Kasim: Ein harter Arbeiter, ein Top-Athlet mit perfekter Einstellung und einer Passion für den Football, die es braucht, um in der NFL eine Chance zu bekommen.«

Warum er seinem Schützling riet, nicht das höchstdotierte Angebot anzunehmen, sondern zu den Saints zu gehen, kann er einleuchtend erklären: »Kasim hatte ein paar Probleme mit seinem Visum, deshalb wussten wir, dass es für ihn schwierig werden würde, gedraftet zu werden. Aber um das Beste für ihn herauszuholen, musste ich ein Team finden, in dem seine Chancen, es ins Final Roster zu schaffen, am höchsten waren. Die Saints boten einfach das beste Gesamtpaket. Außerdem hätte Kasim seine Frau nicht kennengelernt, wenn er nicht nach New Orleans gegangen wäre. Im Nachhinein sollte ich dafür noch einen Bonus verlangen!«

Seine Klienten bestmöglich darauf vorzubereiten, was sie erwartet, ist Robert Walkers Credo. »Genau deshalb habe ich ihn nach Atlanta ins Trainingslager geschickt. Die Zeit dort war immens wichtig. Er hat nicht nur optimal trainiert, sondern auch Freunde fürs Leben kennengelernt.«

Grundsätzlich sei Kasim ein Spieler gewesen, der viel Vertrauen in seinen Agenten gehabt habe. »Ich habe ihm alles erklärt, was er wissen wollte. Aber meistens hat er gesagt, er wisse, dass ich das Beste für ihn herausholen würde.« Nach dem Aus bei den Saints einen Vertrag mit siebenstelligem Gehalt auszuhandeln, sei für einen Free Agent ein fetter Deal gewesen. »Kasim wusste das und hat verstanden, dass das etwas Besonderes war. Er wusste es zu schätzen, regelmäßig seine Gehaltsschecks zu bekommen.«

Dass ihre Beziehung eine besondere war und bis heute ist, ist Robert Walker sehr wichtig. »Dass wir bis heute Kontakt haben, ist in diesem Geschäft nicht alltäglich. Wir sprachen immer auch über Dinge abseits des Footballs. Als er sein erstes Auto gekauft hat, diesen coolen schwarzen Chrysler 300, bat er mich um Hilfe, damit er nicht über den Tisch gezogen wird. So haben wir es mit manchen Dingen gemacht, und ich freue mich, dass ich ihm helfen konnte.« Kasims ansteckende Fröhlichkeit habe ihm immer gutgetan, sagt Robert Walker. Und deshalb will er den Kontakt zu seinem deutschen Jungen nicht nur halten, sondern vertiefen. In der Hoffnung, weitere Spieler aus Deutschland in die NFL vermitteln zu können. Wenn die alle so seien wie Kasim, sagt Robert Walker, hätte er ein angenehmeres Leben.

Am ersten Tag meiner neuen Free-Agency bekam ich einen Anruf aus Boston. Die Patriots wollten mich ebenfalls als Free Agent fürs Minimum verpflichten, gaben mir aber eine große Chance, es ins Team zu schaffen. »Normalerweise sitze ich hier mit Spielern und coache sie darin, was sie hätten besser machen können. Aber wir beide wissen, dass du Special Teams spielen kannst, also unterschreib einfach, dann können wir loslegen«, sagte mir Special-Teams-Coordinator Matt Patricia.

Während ich in den Meetings war, schickte mir Robert eine SMS. Weil Demarcus Ware seine Karriere beenden wollte, waren die Broncos an mir interessiert. Also ging es noch am selben Abend direkt von Boston nach Denver. John Elway und die Broncos boten mir das Doppelte. Ich war überzeugt, dass Denver für mich die beste Option war. Der neue Headcoach Vance Joseph wollte mich unbedingt haben und erklärte mir persönlich seine Philosophie. Ich sollte als vierter Outside Linebacker fest zum Team zählen, vor mir standen nur Shaquil Barrett, Von Miller und Shane Ray.

Auch wenn es nicht der Superstar-Vertrag war: Als ich eine Zahl mit sieben Stellen und 200.000 Dollar Signing Bonus sah, war das schon eine andere Hausnummer als die 3.000 aus meinem Rookievertrag. Ich war einfach dankbar für die Chance und die finanzielle Sicherheit für meine Familie. Meine Mama erzählte mir, mein Opa habe seinen türkischen Kollegen stolz berichtet, sein Enkel sei nun Millionär. Mein Opa wollte nie gerne Geld annehmen. Doch als meine Mom ihm 50 Euro in die Hand drückte und sagte: »Das ist von Kasim!«, war sie erstaunt, mit welchem Stolz er den Schein in Empfang nahm.

Eine Woche später schickte mir meine Muddi ein Foto aus dem Wohnzimmer meines Opas. An der Wand der eingerahmte 50-Euro-Schein. Für mich ein besonderer Moment.

Aber zurück zu Denver. Es schien die ideale Lösung zu sein. Als ich mich in New Orleans verabschiedete, freuten sich alle für mich. »You never know, you might be back here eventually«, waren Coach Paytons letzte Worte.

Leider sollte der Wechsel nicht ganz so erfolgreich ablaufen, wie ich es mir gewünscht hatte. Denver gefiel mir gut, auch körperlich war ich in Topform. Aber das System bei den Broncos passte nicht für mich. Meine ganze Karriere lang sollte ich nur eine Sache machen: »get the Quarterback!« In meiner neuen Rolle sollte ich mehr droppen, ich war wirklich mehr ein Linebacker als ein Defensive End (DE). Als DE war alles instinktiv, ich musste niemals darüber nachdenken, was ich machte. Der Ball bewegte sich, der Rest klappte automatisch.

Aber als Linebacker musste ich ab und zu über meine Aufgabe nachdenken. Und wenn du eine Sekunde nachdenkst, läufst du schon einen halben Schritt hinterher. Meinen schnellsten Football habe ich gespielt, als ich mich am wenigsten bewegt habe. Effizienz ist der Schlüssel zum Erfolg. Auch wenn ich weiterhin mit Vollgas spielte, lieferte ich nicht mehr ab. Ich war kein Playmaker, sondern irgendwie zwar da, aber nicht mittendrin. Und fürs Dasein wirst du in der NFL nicht bezahlt.

Dennoch waren die Broncos geduldig mit mir. In Woche zehn gab es einen kuriosen Moment, als ich den Rookies erzählte, dass bei den Saints jede Woche irgendein Spieler gecuttet wurde und wir damit rechnen müssten, dass uns das auch bald passiere. Einen Tag später bat mich der Coach in sein Büro. Shit, dachte ich, jetzt bist du dran. Und so war es auch. Vance Joseph erklärte mir: »Kasim, wir werden dich releasen.« Es war ein faires Gespräch, ich konnte seine Entscheidung nachvollziehen. Trotzdem pisste es mich natürlich an. Ich war sauer, ich war enttäuscht, aber ich konnte vor der Realität nicht weglaufen, sondern musste ehrlich zu mir selbst sein. »Wie mache ich das Beste aus dieser Lage und was ist der nächstbeste Schritt?« Das war alles, woran ich denken konnte.

Ich rief meine Frau an. Sie war mit unserer Tochter gerade erst von Phoenix nach Denver gezogen, Steffi und Sarai hatten sich nach drei Monaten endlich eingelebt. Nun musste ich ihr mitteilen, dass ich gerade gefeuert worden war und wir das ganze Spiel irgendwo anders von vorne beginnen mussten, auch wenn ich keinen blassen Schimmer hatte, wo und wann das sein würde. Ich ahnte auch nicht, dass der Wahnsinn erst begann.

Am nächsten Morgen rief mich mein Agent an. Die Detroit Lions hätten mich von der Waiver-Liste geclaimt, was bedeutete, dass sie den Vertrag von Denver übernehmen würden. An einem Dienstag war ich gecuttet worden, am Mittwoch flog ich nach Denver, am Donnerstagmorgen um 5 Uhr bestand ich den Medizincheck, wurde komplett eingekleidet und stand wenig später auf dem Trainingsplatz.

Kris Kocurek, der Defensive-Line-Coach, fragte mich: »You know the plays?« Ich dachte nur: »Digga, ich bin gerade erst angekommen, ich weiß gar nichts!« Aber natürlich antwortete ich: »I’m ready to go, coach!« Genauso fühlte ich mich auch! Ich war wieder Defensive End, hatte gleich im ersten Spielzug einen Sack und spürte die Anerkennung meiner neuen Teammates. Ich dachte: Das ist ein cooles Team, in dem ich eine gute Rolle spielen kann.

Schließlich teilte mir Headcoach Jim Caldwell mit, ich solle am Sonntag im Auswärtsspiel bei den Bears auflaufen. Blieben also zwei Tage, um das Playbook einzustudieren. Wer es nicht weiß: Das Playbook ist die Bibel eines jeden Teams, in dem alle Spielzüge detailliert erklärt sind. Wer nicht ordentlich lernt, versagt. Aber normalerweise hat man dafür die gesamte Pre-Season Zeit. Mir blieben genau zwei Tage. Niemals habe ich so wenig geschlafen wie in dieser verrückten Woche.

Eine Woche später verpflichteten die Lions Dwight Freeney als Defensive End. Auch wenn er bereits am Ende seiner Karriere stand – der Typ war nach wie vor eine Passrush-Legende. Ein Mann, der den Spin Move perfektioniert hatte. Für mich war das keine gute Nachricht, aber ich versuchte, das Beste aus der Situation zu machen. Von Freeney, der mit den Colts den Super Bowl gewonnen hatte, konnte ich viel lernen.

Tatsächlich waren die drei Wochen mit Freeney sehr lehrreich. Er ist wie ein Doktor, wenn es um Passrush geht, und hörte nicht auf zu betonen, wie wichtig es ist, immer als Gruppe zu agieren und niemals auf eigene Faust. Nach zwei Wochen konnte meine Familie aus dem Haus in Denver ausziehen. Ich holte sie direkt nach Detroit. Wir mieteten ein Haus für 2.000 Dollar im Monat. Doch am Geburtstag meiner Tochter, einen Monat nach meiner Ankunft in Detroit, wurde ich nach unseren Meetings in Coach Caldwells Büro gebeten. »Alle Coaches halten sehr viel von dir«, setzte er an, »aber in der jetzigen Situation müssen wir dich leider entlassen.«

Business ist Business, dachte ich mir. Mein Vermieter dachte leider ähnlich. Meine Frau wirkte noch enttäuschter als ich. Trotzdem wollte ich meiner Tochter einen wunderschönen fünften Geburtstag bereiten. Und auch wenn die Enttäuschung groß ist, merkt man schnell, was das Wichtigste im Leben ist, wenn man nach Hause kommt und die Freude im Gesicht seiner Tochter sieht. So kurz die Zeit in Detroit auch war: Die Schneeballschlacht an ihrem Ehrentag werde ich nie vergessen.

In dieser Situation weiterhin positiv zu bleiben, war nicht einfach. Aber nach einigen Jahren in der NFL wusste ich: Ich war nicht der Erste und würde nicht der Letzte sein, dem so etwas passierte. Das Zitat von Coach Pirainos kam mir in den Sinn: »If something hits you, how do you respond?« Seine Einstellung war: »Wenn es hart wird und du zu Boden gehst, ist es einfacher, aufzuhören. Besser ist aber, du stehst wieder auf und machst weiter, denn wenn das einfacher wäre, würde es jeder machen.«

Also ging es zurück nach Phoenix, und obwohl es komisch war, das erste Mal nach fast vier Spielzeiten nicht auf ein Footballfeld zu laufen, war diese freie Woche für Kopf und Körper gut.

Bereits am Tag der Absage hatte das nächste Team angerufen. Probetraining bei den Eagles, mit elf anderen Mitbewerbern. Wir machten ein paar Drills und sollten danach in der Cafeteria warten. Eine Stunde verging, dann wurden acht Namen aufgerufen, die sich im Trainerbüro melden sollten und dort erfuhren, dass die Anstrengungen umsonst gewesen waren. Die anderen vier, zu denen ich gehörte, bekamen Angebote. In meinem Fall sah das so aus, dass mir Philadelphia einen Future Contract vorlegen wollte, also einen Vertrag für die nächste Saison. Ich brauchte aber jetzt einen Job, also reiste ich ohne Vertrag wieder ab – und zwar direkt nach Houston, wo ich ebenfalls zum Probetraining eingeladen war.

Nach einer intensiven Einheit mit Mike Vrabel boten mir die Texans einen Zweijahresvertrag an. Ich wollte schon unterschreiben, da rief mich mein Agent an und sagte, ich solle sofort zum Flughafen fahren. Coach Johnson, mein ehemaliger Defensive-Line-Coach bei den Saints, hatte sich bei ihm gemeldet. Er war mittlerweile bei den Rams tätig und wollte mich unbedingt in seinem Team haben. Also sagte ich den Texans ab und flog umgehend nach Los Angeles.

In Los Angeles sollte ich in Woche 16 erstmals spielen und dann in den Play-offs weiter ins Team integriert werden. Ich hatte richtig Bock, schließlich lebte der amerikanische Teil meiner Familie in der Stadt. Wir gewannen bei den Titans mit 27:23 und sicherten uns damit den Titel in der NFC West. Obwohl ich nicht allzu viel dazu beigetragen hatte, war ich zum ersten Mal in meiner Karriere Division Champion!

Das zweite Mal sollte schneller folgen, als ich es mir hätte vorstellen können. In der Woche nach meinem ersten Einsatz rief mich Coach Johnson ins Büro und sagte, ein O-Liner habe sich verletzt und sie müssten deshalb auf der Position nachverpflichten. Damit war für mich kein Platz mehr im Kader. Schon wieder war ich raus. Auch wenn meine Zeit kurz war: Coach McVay und die gesamte Rams-Organisation strahlten in jedem Meeting und in jedem Training eine so positive Energie aus, wie ich sie nirgendwo anders erlebt habe. Und nach allem, was ich in dieser Saison bereits erlebt hatte, konnte ich auch das verkraften. »Wenigstens kann ich jetzt auschecken und diese Saison hinter mir lassen«, dachte ich mir, während ich mit meiner Halbschwester auf dem Weg in einen Burgerladen war.

Als wir dort saßen und ich den Mund gerade voll mit einem dicken Double-Cheeseburger und Milkshake hatte, erfuhr ich über Twitter, dass die Saints mich wieder unter Vertrag nehmen würden. Als sie mich anriefen und fragten, ob ich innerhalb der nächsten 60 Minuten im Flieger sitzen könne, musste ich den schönen Burger liegen lassen. Hau’oli Kikaha hatte sich verletzt, sie brauchten einen Back-up für das Saisonfinale. Die Saints! Ich musste nicht lange überlegen.

Das letzte Spiel der regulären Saison fand an Silvester bei den Buccaneers statt. Trotz der 24:31-Niederlage waren die Saints Champion in der NFC South. Obwohl ich nicht gespielt hatte, durfte ich mich ganz offiziell Double-Division-Champion nennen. Ein bisschen wie in der Schule, wenn du zum Referat nichts beigetragen hast und trotzdem eine Eins bekommst. Kasim Edebali, Double Division Champion – das macht schon was her im Lebenslauf! Im Wildcard-Game gewannen wir mit 31:26 gegen die Panthers. In der Divisional Round folgte einer der schwärzesten Tage der Clubgeschichte. »Minneapolis Miracle« sage ich nur, und wer nicht weiß, was damit gemeint ist, muss sich bis Kapitel 12 gedulden. Wieder spielte ich keine Sekunde, hatte aber nach dem Ende des Spiels Tränen in den Augen. Die Atmosphäre in der Kabine war gruselig.

Damit endete eine Saison, die mir auf gnadenlose Weise auch die Schattenseiten der NFL gezeigt hatte. »Entweder du wirst härter, oder du wirst gebrochen« – diese Weisheit hatte ich nun verstanden. Besonders mental war es eine unfassbar krasse Zeit gewesen. Dieses Hin und Her, von einem Tag auf den anderen in ein ganz neues Umfeld geworfen zu werden, nicht zu wissen, wie lange es gut geht. So etwas stellt vor allem das Familienleben auf eine harte Probe. »Es ist verständlich, aber nicht akzeptabel«, hat mir mal einer meiner Coaches gesagt. Stimmt schon, aber wer sich nicht anpasst, bekommt auch keine Chance.

Ich empfand es als ein gutes Zeichen, dass immer wieder Teams anriefen. Viele gecuttete Spieler in der NFL bekommen keine zweite Chance. Die Trainer der Teams tauschen sich untereinander aus, dein Ruf spricht sich schnell herum. Meiner war, ein Spieler zu sein, der immer Vollgas gibt und sich nicht beklagt. Ich war zwar auch genervt, wenn ich wieder rausflog, aber dennoch war mir bewusst, dass es ein großes Privileg war, einen Job machen zu dürfen, für den Millionen Menschen alles andere aufgeben würden. Die meisten sehen von außen nur den Fame der NFL. Wenn Leute sagen, es sei ein harter Job, kann ich nicht oft genug betonen, dass mein Job ein Segen ist. Die richtig harten Jobs machen die Menschen, die Doppelschichten brauchen, um ihr Abendessen auf den Tisch zu bringen. Alleinerziehende Eltern, die alles geben, um ihren Kindern ein Lachen aufs Gesicht zu zaubern. Es ist wichtig, die Dinge aus der richtigen Perspektive zu betrachten.

In der Off-Season 2018 durfte ich wieder ein neues Team treffen. Ryan Pace, GM der Bears und ein echter Ehrenmann, lud mich zu den OTA nach Chicago ein. Man wollte mich kennenlernen und schauen, ob ein Vertrag infrage käme. Die Jungs waren alle cool, Brandon Staley coachte die Outside Linebackers, Coach Loco, der verrückte Athletikcoach aus dem College, war Strength and Conditioning Coach und freute sich, mich zu sehen. Ich unterschrieb für ein Jahr, flog zurück nach Phoenix, und trainierte hart, um fürs Camp bereit zu sein. Leider zog ich mir in der ersten Woche im Trainingslager eine fiese Zerrung im schrägen Bauchmuskel zu und verpasste das erste Pre-Season-Game gegen die Ravens. Im zweiten gegen die Bengals war ich aber wieder dabei – und machte das beste Spiel meiner NFL-Karriere. Meine Teammates waren begeistert: »Den brauchen wir!«

Ich ging also fest davon aus, dass ich es in den finalen Kader schaffen würde. Auch weil mir mein Positionscoach gesteckt hatte: »Es gibt keinen Grund dafür, dass du nicht ins Roster kommst.« Meine Frau war mit unserer jüngeren Tochter schwanger und in Phoenix geblieben. Ich wollte bei der Geburt unbedingt dabei sein, hatte mich zwischendurch sogar mal nach einem Privatjet erkundigt, weil man das in der NFL halt so macht, wenn man irgendwo dringend hinmuss. »Kein Problem, für 26.000 Dollar kann ich Ihnen etwas anbieten«, flötete die freundliche Agentin der Airline am Telefon. Eher wäre ich mit dem Bus gefahren.

Als die Pre-Season beendet war, flog ich nach Hause – per Linienflug. Headcoach Matt Nagy hatte mir die Erlaubnis für den Familienbesuch erteilt. Ich verließ Chicago im Glauben, schnell wieder zurückzukehren. Ihr ahnt es schon: Am Tag des Final Rosters, sicherten sich die Bears die Dienste von Khalil Mack. Und ich? Machte wieder dicke Backen. Woche eins in der NFL, und ich saß ohne Team zu Hause.

Nun also wieder Probetrainings. Same procedure as every year, wie bei »Dinner for One«. Ich war bei den Bengals, wo ich den Typen wiedertraf, der mir beim Combine noch erzählt hatte, er würde als Top-Ten-Draftpick groß Karriere machen. Ich war in Tennessee bei den Titans, wo mein alter Bostoner Fitnesscoach Frank Piraino Athletikcoach war. Ich war bei den Jets in New York, wo ein paar hoch gedraftete Jungs um einen Job kämpften, die so frustriert waren, dass man es ihnen deutlich ansah. Auch wenn es nirgends klappte, versuchte ich, positiv zu bleiben.

In Woche neun kam ein Anruf aus Cincinnati. Sie hatten einen Verletzten, und weil ich mich im Probetraining gut präsentiert hatte, boten sie mir einen Vertrag an. Es war nicht einfach, meine Familie, vor allem meine drei Monate alte Tochter, in Arizona zurückzulassen. Mein Traum wurde noch etwas verlängert – in Cincinnati.

Lasst es mich so sagen: Die Bengals waren sicherlich nicht die beste Organisation. Alles war ein bisschen chaotischer im Vergleich zu den anderen Teams. Wir verloren sieben der acht Spiele bis zum Saisonende. Ich war die meiste Zeit inaktiv. Meine Frau fragte mich, wie ich damit umgehen würde, nicht zu spielen. »Baby, ich bin im Roster, ich werde bezahlt, und solange es euch gut geht, geht es mir auch gut«, lautete meine Antwort. Im letzten Spiel bei den Steelers hatte ich drei Spielzüge plus ein paar Special-Teams-Reps. Es war ein gutes Gefühl, endlich wieder mit Helm und Pads in die Schlacht zu ziehen. Dann war die Saison 2018 auch schon wieder vorbei. Ich wusste nicht, was nun kommen würde.

Es kam ein Anruf. In Woche drei der Saison 2019 war ich mit meiner Tochter gerade in Phoenix einkaufen, als mein Mobiltelefon klingelte. Ob ich in zwei Stunden ein Flugzeug nach Oakland nehmen könne? »Klar«, sagte ich, »ich muss nur noch meine Tochter nach Hause bringen!« Die Raiders schienen Bock auf mich zu haben. Headcoach Jon Gruden kannte meinen Namen, GM Mike Mayock hatte auch in Boston studiert. Doch nach dem Workout schickten sie mich erst einmal wieder nach Hause. Schon verrückt, wie viele Flugmeilen in der NFL verbraten werden. Solche Workouts dauern manchmal nicht länger als 15 Minuten. Dafür fliegen manche Spieler aus Miami nach Oakland, das sind sechs Stunden pro Strecke. Nur um dann mitgeteilt zu bekommen, dass es für sie nicht reicht.

An einem Dienstag in der Pre-Season fragten mich die Eagles, ob ich zwei Tage später für sie spielen könne. Natürlich war ich »game ready«. Und ich hatte ein gutes erstes Spiel mit zwei Tackles. Inzwischen war ich 30, fühlte mich aber gut und hatte noch genug »juice in the tank«. Vor dem letzten Pre-Season-Spiel, das wir bei den Jets mit 0:6 verloren, teilte mir Defensive Coordinator Jim Schwartz mit: »Ich hoffe, dass du es ins Team schaffst, denn deine Einstellung ist richtig gut.«

Obwohl ich das Team in Special-Teams-Tackles anführte und einen guten Eindruck auf viele Coaches machte, reichte es wieder nicht. Mit drei jungen Defensive-End-Rookies und einem Topmann wie Josh Sweat hätte es sich für die Eagles nicht gelohnt, eines ihrer jungen Talente für mich ziehen zu lassen. Schämen musste ich mich trotzdem nicht, ich hatte alles gegeben. Wenn du alles gibst und es nicht reicht, dann ist es okay.

Ende Oktober meldeten sich die Raiders. Sie brauchten Hilfe in der D-Line und wollten mich nach den Eindrücken im Probetraining verpflichten. Also flog ich wieder nach Kalifornien. Zehn Tage später verletzten sich zwei O-Liner. Nachschub musste her, ich musste gehen. Zurück in Phoenix versuchte ich mich, so gut es ging, in Gameshape zu halten. Doch ein weiteres Angebot sollte nicht mehr kommen. Dann brach die Corona-Pandemie über uns herein. Meine Zeit in der NFL war beendet.

Was bleibt hängen von den Teams, die ich in diesen wilden sechs Jahren kennenlernen durfte? New Orleans wird immer einen Platz in meinem Herzen haben, dort fühlt sich alles wie Heimat an. Nach Denver würde ich sofort wieder ziehen, dort war es wunderschön. Mit allen anderen konnte ich nicht so richtig warm werden. Aber ich hatte in jedem Team Spaß und habe sehr viele Freundschaften geknüpft. Mit Spielern, Coaches und dem Staff. Freundschaften, von denen ich bis heute zehre. Ich bin ganz besonderen Menschen begegnet, die ich Mitspieler nennen durfte und über die ich euch im nächsten Kapitel gerne mehr erzählen möchte. Die Worte von Joe Vitt, meinem Linebacker-Coach bei den Saints, sagen alles über die Bedeutung dieser Freundschaften aus: »Win together today, and we walk together forever!«