»Iron sharpens Iron«, ein Spruch, den ich in meiner Karriere oft gehört und auch selbst benutzt habe. Er geht auf einen Bibelvers zurück und beschreibt, dass Menschen mit unterschiedlichen oder auch identischen Stärken sich austauschen sollen, um voneinander zu lernen und miteinander besser zu werden. Für meine Zeit im Football ist das ein Leitmotiv. Für mich war es – und ist es noch immer – eine riesige Ehre und ein Privileg, mit so vielen großartigen Teammates zusammenzuspielen. Das Wissen und die Erfahrung, die sich in einem Locker Room der NFL ballen, sind dermaßen inspirierend, dass es unmöglich ist, in diesem Kapitel all jene aufzuzählen, von denen ich lernen durfte. Mindestens 90 Prozent meiner Mitspieler haben mich nicht nur zu einem besseren Footballprofi, sondern auch zu einem besseren Menschen gemacht. Sie alle haben ihre eigene Geschichte, und ein paar möchte ich auf den folgenden Seiten erzählen.
Auch wenn wir jetzt schon mittendrin sind in meiner NFL-Karriere, muss ich dieses Kapitel im College beginnen lassen. Anthony Castonzo war einer der besten Left Tackles, die es im College-Football gab. Als ich nach Boston kam, war er schon Junior. Als Redshirt muss man mit den Startern trainieren, und ich hatte das zweifelhafte Vergnügen, gegen Anthony antreten zu müssen. Ich war wie Bambi, ein Reh auf wackeligen Beinen, das die ersten Gehversuche macht. Er war wie ein Gorilla, der gerne Bambis zerfleischt.
Trotzdem half er mir mit seiner Einstellung, niemals verlieren zu wollen, in meiner Anfangszeit sehr. Ich erinnere mich an eine Trainingseinheit, ein One-on-One-Passrush, in dem die O-Line gegen die D-Line eins gegen eins antrat und alle anderen dabei zuschauten. Alle Augen sind auf dich gerichtet, du kannst jemanden blamieren oder selbst blamiert werden. Dazwischen gab es nichts. In dieser Einheit schlug ich Anthony zum ersten Mal mit einem Spin-Move. Alle unsere Teammates drehten durch, weil ein solches Ereignis so selten war wie der 29. Februar. Anthony aber schaute mich nur wütend an und sagte: »Go again!« Diese Schmach konnte er nicht auf sich sitzen lassen. Also direkt wieder in den Dreipunktstand. Er panierte mich wie ein österreichischer Chefkoch sein Wiener Schnitzel.
Anthony zog mich immer damit auf, dass ich so sehr darauf achtete, meinen Bizeps zu trainieren. Er war mehr so die Vollkörpergranate. Aber einen Tag im Training gab es, als auch er die Folter von Coach Loco nicht länger aushalten konnte. Wir mussten bei Bullenhitze im Stadion die Tribünen hoch und runter laufen. Aber natürlich nicht einfach nur so im Vollsprint, sondern mit 50-Kilo-Sandsäcken auf den Schultern. Nach der vierten Wiederholung warf Anthony, der gerade keuchend die Tribüne hochgestolpert war, den Sack auf den Boden und brüllte Coach Loco an: »Coach, fuck it! Ich kann nicht mehr! Das war‹s, ich springe jetzt hier runter.« Legendär!
2011 ging er zu den Colts in die NFL. Vier Jahre später spielte ich mit den Saints gegen Indianapolis und musste gegen ihn passrushen. Ich habe versucht, ihn zu reizen, indem ich ihm zurief: »Hey Anthony, lass es uns machen wie damals im College!« Fand er gar nicht lustig. Auf dem Platz gibt es keine Freundschaften, das ist eine Lektion, die man schnell lernen muss. Aber nach dem Spiel gab es eine fette Umarmung. Gegner hin oder her, der Respekt ist immer da, insbesondere unter alten Teammates.
Einer, der sich einen solchen Spruch gegen den Trainer niemals erlaubt hätte, war Justin Simmons. Er ist ohne Frage einer der besten Safetys, die aktuell in der NFL aktiv sind. Am College musste er Cornerback spielen. Es gibt nicht viele Menschen, die noch positiver eingestellt sind als ich, aber wenn ich jemanden nennen müsste, dann wäre es Justin. Er ist zweifellos einer der angenehmsten Menschen, die ich kenne. Er flucht nie. Er ist ein geborener Anführer, den zehn von zehn Männern an ihrer Seite haben wollen.
Dazu kommt, dass er gottgegebenes Talent besitzt. Da ich für einen Defensive End relativ undersized bin, hatte ich in meiner Positionsgruppe immer den Vorteil, sehr schnell und beweglich zu sein. Deshalb lief ich im Training am College oft mit den Cornerbacks und Safetys und konnte auch immer gut mit allen mithalten. Ich muss aber ehrlich gestehen, dass meine Bilanz gegen Justin ungefähr bei 0:50 lag. Seine Agilität, seine Beschleunigung und seine Geschwindigkeit waren damals schon Elite und sind es bis heute geblieben.
2016 spielten wir mit den Saints gegen die Broncos und verloren 23:25, weil Justin ein Fieldgoal blockte, indem er über unsere O-Line hinübersprang. Ich hatte allerdings nicht mitbekommen, dass er es war. Nach dem Spiel ging ich zu ihm, wir umarmten uns und lachten. Weil er das entscheidende Play gemacht hatte, waren die Kameras auf ihn gerichtet. Die Fans und Twitter schlafen nie. Hinterher bekam ich von den Saints-Fans einen fetten Shitstorm: »Warum lacht Edebali und feiert mit dem Typen, der uns gerade den Sieg gekostet hat?«
Dumm gelaufen, aber ich hätte Justin auch umarmt, wenn ich gewusst hätte, dass er es gewesen war, der den Block gemacht hatte. Wenn man so viel Blut, Schweiß und Tränen gemeinsam investiert hat, um seine Träume zu erreichen, ist einfach ein großer gegenseitiger Respekt und Stolz da. Ganz besonders bei einem Menschen wie Justin, der so ein großes Herz hat. In seiner Community geht er mit starken Aktionen voran. Er will Menschen eine Stimme geben, die sonst nicht gehört werden. Dafür liebe ich ihn. Mehr Ehrenmann geht nicht!
Eine ähnliche Aktion wie meine Umarmung für Justin erlebte ich mit Kevin Pierre-Louis, allerdings unter umgekehrten Vorzeichen. Über »KPL« habe ich euch schon einiges erzählt. Ihr wisst, dass er fast wie ein Bruder für mich war. Als ich bei den Broncos spielte, mussten wir gegen die Chiefs antreten. In der Vorbereitung auf das Match sagte Headcoach Vance Joseph: »Edebali, Kevin Pierre-Louis ist dein Mann, er darf keine Plays machen. Du bist sein Schatten, wo immer er hingeht, gehst du auch hin. Er geht aufs Klo? Du gehst mit und blockst ihn. Der Typ ist gefährlich.« »Ich weiß, Coach, er ist mein bester Kumpel aus dem College!« »Oh, okay. Hast du Extra-Infos über ihn?« »Nein, aber er läuft eine 4,5 auf 40 Yards und ist eine Maschine.« War vielleicht nicht das, was er hören wollte. Aber immerhin ehrlich.
Im Spiel gab es eine Szene, in der ich nach einer Kollision am Boden lag. KPL kam zu mir, fragte, ob alles okay sei, und zog mich auf die Beine. Dafür bekam er richtig Lack von seinen Teammates. War ihm aber egal. »He’s my brother«, sagte er nur. Damit war es erledigt. Schon bei der nächsten Chance wollte er uns wieder die Köpfe abreißen. Ganz liebevoll natürlich.
Der beste Spieler, mit dem ich am College in einem Team spielen durfte, war Luke Kuechly. Dieser Mann ist speziell. Wer ihn auf dem Uni-Flur traf und nicht wusste, wer er ist, hätte nicht zwingend auf Footballspieler getippt. Luke sieht so unscheinbar aus. Er artikuliert sich sehr distinguiert (um mal seine Sprache zu benutzen) und ist ein unfassbar kluger Mensch. Aber auf dem Footballfeld bedient er diesen kleinen Knopf an seinem Körper, mit dem er von Mensch auf Maschine umschalten kann. Dann hat er nur noch einen Gedanken: Wie kann ich meine Beute erlegen?
Was ihn abhebt von der Masse aller guten Linebacker, ist sein sechster Sinn, der ihn wie ein Schachgroßmeister Spielzüge vorausahnen lässt.
Einmal mussten wir mit den Saints bei den Panthers ran. Unser Quarterback Drew Brees sagte zu mir: »Heute müssen wir ganz besonders aufpassen. Luke Kuechly ist anders. Er sieht Dinge, die sonst niemand sieht.« Und das stimmte. Während Drew unseren Spielzug ansagte, hörten wir, wie Luke seiner Defense genau das voraussagte, was Drew vorhatte. Und als er darauf reagierte und seinen Spielzug änderte, ohne die Änderung anzusagen, wusste Luke, was kommen würde. Es war wie bei »Daredevil«, ziemlich gruselig. Aber das ist Luke.
Was ich besonders an ihm liebte, war seine Art, trotz seiner Qualität niemals die Bodenhaftung zu verlieren. Vor einem Spiel in Charlotte machten wir uns allein auf dem Feld warm. Wie Barney, der Dinosaurier, hüpfte er fröhlich vor mir herum und rief: »Kassiiiiim!« Vor dem Spiel ist immer Zeitdruck, aber wir hatten uns ein paar Minuten genommen, um uns über die Saison und unser Privatleben auszutauschen. Wir liefen als erstes Team ein, dann wurden die Panthers-Spieler einzeln begrüßt. Als Luke als Letzter vom Stadionsprecher angekündigt wurde, brüllte das gesamte Stadion seinen Vornamen: »Luuuuuuke!!« Ich war stolz und tief berührt davon, dass mein Kumpel aus dem College ein derart angesehener Ehrenmann geworden war.
So etwas inspiriert mich. Luke war immer gut drauf, war immer für einen Scherz zu haben. Als ich ihn mal privat in Charlotte besuchte und wir im Restaurant saßen, wurde er natürlich von den Panthers-Fans abgefeiert. »Und dieser Typ hier« – er zeigte auf mich – »spielt für die Saints!« Dazu muss man wissen, dass zwischen Panthers und Saints eine herzliche Abneigung besteht. Das ganze Restaurant buhte mich aus. Und Luke hatte seinen Spaß.
Natürlich hatte Luke Kuechly seinen Spaß, aber im Vergleich zu dem, was er von Kasim schon an den Kopf geworfen bekommen hat, sieht er Seitenhiebe wie diesen als Kleinigkeit an. »Kasim ist für mich der Inbegriff eines Spaßvogels. Er hat immer einen Spruch auf Lager, und wahrscheinlich haben wir uns auf Anhieb so gut verstanden, weil wir ähnlich ticken«, sagt der Mann, der zwischen 2012 und 2019 für die Carolina Panthers zum siebenfachen Pro Bowler und einem der besten Linebacker seiner Zeit aufstieg.
»In jeder NFL-Kabine gibt es mindestens zwanzig Jungs, die ihr Leben hassen und das auch ausstrahlen«, sagt er. »Kasim war immer das genaue Gegenteil. Egal, wie hart das Training war oder wie schlecht das Wetter, er hatte immer ein Lächeln im Gesicht. Ganz ehrlich: Wir haben uns oft gefragt, wo der Typ die Energie für sein Dauergrinsen hernahm. Aber seine Fröhlichkeit ist ansteckend, er macht damit andere Menschen glücklich, und die Leute lieben ihn dafür!«
Kasim und Luke lernten sich 2009 am Boston College kennen, als sich der im April 1991 geborene Topstar mit großer Bewunderung bei dem Neuankömmling erkundigte, wie zum Teufel er solche Oberarme bekommen hatte. »Kasim ist der Meister des Biceps Curls, keine Frage. Er hat mit Sicherheit gute Gene, aber er arbeitet auch sehr hart.« Von Tag eins an habe er die Energie bewundert, mit der der Junge aus Deutschland seine Ziele verfolgte. Aber auch die Liebe für das Leben und den Football.
»Hätte Kasim nicht diesen deutschen Akzent gehabt, wäre niemand auf die Idee gekommen, dass er kein Amerikaner ist. Seine positive Ausstrahlung war beeindruckend. Vor allem war sie immer ehrlich. Du kannst so etwas nur eine kurze Zeit faken, aber bei Kasim wusste jeder, dass er keine Rolle spielt. Nicht viele wollen so hart arbeiten, wie er es getan hat. Seine Art hat ihm jede Menge Respekt eingebracht.«
Dass man ihm nachsagt, er habe auf dem Footballfeld ein ganz anderes Gesicht als im normalen Leben, weiß Luke Kuechly. Bei Kasim sei es ähnlich – und doch anders. »Er kann auf dem Platz auch zum Tier werden, zu einem Bluthund, der seine Beute hetzt. Aber letztlich ging es ihm immer darum, niemals einen Mitspieler oder das Team hängen zu lassen. Und das zeichnet ihn auch im Privatleben aus«, sagt er.
Kuechly ist überzeugt davon, dass Kasim das Optimum aus seiner Karriere herausgeholt hat. »Er hatte diesen Traum, es als deutscher Junge in die NFL zu schaffen. Jeder, dem das gelingt, kann sehr stolz auf sich sein. Kasim ist das beste Beispiel für die Aussage, dass du von der NFL gefunden wirst, wenn du gut genug bist. Aber er hat dazu sehr viel beigetragen. Niemand konnte seine Liebe zum Football toppen und seine Einstellung, das Beste aus sich herauszuholen.«
Kasims Karriereweg hat Luke Kuechly eher am Rande verfolgt. »Ich habe mitbekommen, dass er zurück nach Deutschland gegangen ist, aber nicht, für welches Team er spielt. Ich freue mich sehr zu hören, dass er in seiner Heimatstadt versucht, den Football nach vorne zu bringen. Mit seiner Art wird er sehr viel dazu beitragen, dass deutsche Kids auch in Zukunft den Weg in die NFL schaffen. Es gibt doch kein besseres Vorbild als ihn.« Als er hört, dass das Spielfeld seines Heimatclubs Hamburg Huskies nach Kasim benannt ist, muss sogar der große Luke Kuechly schlucken. »Das ist großartig«, sagt er, »aber wer hätte es mehr verdient als Kasim?«
Ich muss euch noch von drei eher tragischen Helden aus dem College erzählen. Ifeanyi Momah war mein großer, kleiner Bruder. Er war jünger als ich, aber zwei Klassen über mir. Ein drahtiger Typ, über zwei Meter groß, aber leichter als ich. Trotzdem konnte er mehr heben und schneller laufen. Ich konnte das kaum fassen, aber es hat mich unheimlich motiviert, auf sein Level zu kommen. Wir trainierten sehr viel zusammen, und irgendwann verriet er mir, dass er nur deshalb so hart arbeite, weil er auf mein Level kommen wolle. Ohne es zu ahnen, hatten wir also beide dasselbe voneinander gedacht.
Die zwei Monate Training mit ihm in Florida waren krass. 6 Uhr morgens Lauftraining, 8 Uhr Kraft, 10 Uhr Kochen, 12 bis 16 Uhr Videogames – und da wir im gleichen Apartment wohnten, 24/7 Trashtalk. Keiner von uns wollte jemals in irgendetwas verlieren. Eine der lustigsten, aber auch produktivsten Phasen meines Lebens.
Ifeanyi war einer dieser Pechvögel, die dauernd verletzt waren. Deshalb spielten wir in der NFL nie gegeneinander. Bei einem Pre-Season-Game mit den Saints gegen die Cardinals wäre es fast so weit gewesen, aber dann fiel er wieder verletzt aus. In jeder Off-Season ackerte er wie ein Arbeitselefant im thailändischen Dschungel. Diese Einstellung hat auch mich geprägt.
Ein Beispiel dafür, was es bedeutet, sich für seine Teammates aufzuopfern, war Brian Murray. Wer den Gegenpol für einen besonders egozentrischen Menschen sucht: Brian is the man! Er war keine Granate, lief den 40-Yard-Dash in 5,6 Sekunden. Aber in jedem Training und in jedem Spiel gab er Vollgas und stellte sich altruistisch in den Dienst der Mannschaft. Zwar schaffte er es nicht in die NFL, aber für mich bleibt er trotzdem ein Held.
An dieser Stelle darf ich Mehdi Abdesmad nicht vergessen. Als Mehdi und ich uns das erste Mal trafen, war da sofort dieses unsichtbare Band, das Menschen verbindet, ohne dass man es erklären kann. Mehdi ist Kanadier, seine Eltern stammen aus Marokko. Er konnte aus der Kniebeuge nicht mehr als 60 Kilogramm stemmen. Ich pumpte neben ihm mit meiner 200-Kilo-Hantel und dachte nur: »Was ist los bei dir?« Bald trainierten wir gemeinsam. Und weil wir beide die Sonne im Gemüt anknipsen, sobald wir die Augen aufschlagen, waren wir schon bei den 6-Uhr-Workouts bestens gelaunt. Die anderen meinten nur: »Jungs, seid mal bitte leise, es ist sechs Uhr morgens und ihr seid viel zu gut drauf.«
Doch wir konnten nicht anders. Als er neu war in Boston und noch kein Zimmer hatte, war ich sein Host. Ich war der schlechteste Gastgeber der Welt. Damals war ich mit der Basketballerin liiert und wollte die Abende natürlich lieber mit ihr verbringen als mit einem Freshman. Also sagte ich: »Hier ist meine Playstation, da ist etwas zu essen, und jetzt Tschöö mit ö, ich gehe zu meiner Freundin.« Mehdi nahm mir das glücklicherweise nicht übel. Später kochte seine Mutter für uns beide marokkanisches Essen. Und als ich in der Off-Season in der NFL ans College zurückkam, um dort zu trainieren, durfte ich bei ihm auf der Couch pennen. Leider brachte er es nie weiter als in die Trainingskader der Titans und Buccaneers. Seine gute Laune hat er trotzdem nie verloren.
Nun ist es Zeit, das College hinter uns zu lassen und in die NFL zu wechseln. Es wird niemanden überraschen, dass die meisten Teammates, die mich geprägt haben, aus meiner Zeit bei den Saints stammen. Schließlich habe ich dort die drei besten Jahre verlebt. Wie ihr wisst, sind Free Agents immer ganz unten in der Nahrungskette. Und vielleicht wären diese Jahre nicht so gut gewesen, wenn sich Junior Galette nicht um mich gekümmert hätte. Junior stammt aus Haiti, seine Eltern waren ohne ihn und seine beiden älteren Brüder in die USA ausgewandert und hatten die Jungs erst einige Jahre später nachholen können.
Er hat alles auf die harte Tour lernen müssen. In die NFL war er wie ich als ungedrafteter Free Agent gekommen, und wahrscheinlich erinnerte ich ihn deshalb an sich selbst und seine Zeit als Rookie. Er war der Erste in meinem neuen Umfeld, der mich wirklich ernst nahm. Er konnte sich mit meinem Weg identifizieren und erklärte mir, wie das Business NFL funktioniert: »Alles, was du haben willst, musst du dir doppelt hart erkämpfen.« Das war sein Lebensstil, und ich habe mir davon tatsächlich vieles abgeschaut.
Nur auf dem Footballfeld, sollte ich hinzufügen, denn off the field hatte Junior leider ein paar Probleme, die ihm eine Menge Ärger einbrachten. Viele haben ihn als Troublemaker abgespeichert, aber ich werde ihm immer dankbar sein für das, was er für meine Karriere getan hat. Meinen Vierpunkt-Passrush-Stand und die meisten meiner Passrush-Moves lernte ich von ihm. Er war immer brutal ehrlich – selbst, wenn die Wahrheit schwer zu verdauen war.
Wer neu in die NFL kommt, versucht einen Mentor zu finden, der für alle Fragen und Sorgen ein offenes Ohr hat und dabei helfen kann, im Team Fuß zu fassen. Einer dieser Männer war für mich Curtis Lofton. Curtis, einer unserer Starting Linebacker, hatte einen 30-Millionen-Dollar Vertrag bei den Saints unterschrieben, doch es wäre ihm nie im Leben eingefallen, sich darauf auszuruhen. Er war ein Typ, der das offene Wort schätzte. »I am gonna need you to set that edge, Edebali!«, forderte er im ersten Krafttraining von mir. Und dass ich mir einen Mentor suchen sollte. Er zeigte auf die anderen Defensive Ends und sagte: »Aber such dir einen, der dir was beibringen kann. Am besten machst du das, was ich mache.« Von da an hat er sich um mich gekümmert, nahm mich unter seine Fittiche. Er lud mich zu sich nach Hause ein und sorgte dafür, dass ich mich in der Mannschaft behaupten konnte.
Mentoren unterstützen einen allerdings nicht nur mit Wort und Tat, sondern gehen auch mit ihrer Einstellung als leuchtendes Vorbild voran. Benjamin Watson war so ein Typ. Als ich 2014 nach New Orleans kam, war er schon 34, aber ich glaube, er hatte zu Hause einen Jungbrunnen wie Ra’s al Ghul aus »Batman«. Wenn ihr wissen wollt, was für eine Vollmaschine er war, schaut euch das Video von 2004 an, in dem er im Trikot der Patriots im Spiel gegen Denver über das gesamte Spielfeld sprintete, um Champ Bailey an der 1-Yard-Line wegzupusten.
Ben ließ sein Herz auf dem Feld, um seinem Team zu helfen. Kam ich morgens in die Facility, saß er schon im Jacuzzi, um seinen Körper zu entspannen. Im Kraftraum hat er nicht nur gepumpt, sondern machte auch ganz viel Stretching. Von ihm konnte ich lernen, was es bedeutet, den eigenen Körper als das größte Kapital zu erkennen und entsprechend zu pflegen. Ich machte ihm einfach alles nach. Ich freue mich schon, ihm eine Ausgabe dieses Buchs zu schicken. Ben hat selbst zwei Bücher geschrieben, in denen es allerdings nicht um Football geht, sondern um seine Erfahrungen als Vater. Seinen Ratgeber für werdende Väter habe ich während der Schwangerschaft und nach der Geburt meiner jüngeren Tochter verschlungen. Mehr als 80 Prozent der Dinge, die er darin beschreibt, sind genauso eingetroffen. Ich hoffe, dass ihm meine Geschichte wenigstens halb so gut gefällt wie mir sein Buch.
Was man aus einem menschlichen Körper herausholen kann, hat mir Terron Armstead vor Augen geführt. Der Kerl wiegt 145 Kilogramm, kann aber schneller laufen als ich. Er hält den All-time-Combine-Rekord für O-Liner. Im Training sah ich eines Tages eine riesige Kugel Mensch an mir vorbeifliegen, die mich im nächsten Moment blockte. Das war Terron. Eine Maschine! Mit ihm zockte ich im Trainingslager viel Mario-Kart, während er von seinen Plänen berichtete, ein Rap-Album aufzunehmen. Ein Jahr später kam dann tatsächlich das Debütalbum von »T-Stead« heraus, das von da an immer im Locker Room und vor den Spielen im Stadion lief. Was für ein Multitalent!
Todd Davis darf in dieser Liste nicht fehlen. Er war einer der Spieler, die es weder über den Draft noch als Free Agent in den Kader schafften, sondern über das Try-out-Camp, wo er sich gegen 60 andere Jungs durchsetzen musste. Er wurde gecuttet, dann ins Practice Squad aufgenommen, schaffte es schließlich in den Spielkader, wurde aber anschließend wieder gestrichen. Er hat sich nie beklagt, sondern einfach immer weiter an sich gearbeitet. Das wiederum fiel den Broncos auf, die ihn holten, weil sie seine Qualitäten als gut einschätzten. Dort entwickelte er sich zum Starting Linebacker und unterschrieb einen 20-Millionen-Dollar-Vertrag. Ich freue mich unglaublich für ihn, denn er war das perfekte Beispiel für einen, der niemals aufgibt und sich nur auf das konzentriert, was er selbst kontrollieren kann. Das verdient großen Respekt.
Manchmal reicht auch schon eine besondere Aktion, um diesen Respekt für immer sicher zu haben. Tim Hightower kam in meinem zweiten Jahr als Runningback zu den Saints. Wegen eines Kreuzbandrisses hatte er vier Spielzeiten verpasst. Es war seine Frau, die ihm in diesen schweren Zeiten Halt gab und ihn immer wieder an seinen großen Lebenstraum erinnerte. Sie gab ihm die Kraft für sein Comeback.
Diese Geschichte erzählte uns Tim vor versammelter Mannschaft. »Der Unterschied zwischen denen, die Erfolg haben und denen, die es nicht schaffen«, meinte er, »ist der Glaube an die Disziplin und das Weiterkämpfen. Vertraut der harten Arbeit!« Sich so zu öffnen, fand ich sehr mutig. Seine Worte halfen auch mir: »Motivation ist schön und gut, aber die Tage, an denen es wehtut, an denen man müde ist und nichts machen will, sind die Tage, die den Unterschied machen. Deshalb verlasst euch nicht auf eure Motivation, sondern auf eure Disziplin!« Konstant bleiben, dann wird man belohnt!
Meine Mentoren waren immens wichtig für meine Karriere, waren allerdings keine engen Freunde. Einen Freund fand ich unter anderem in »Onkel Mark« Ingram, wie ihn meine Kinder nennen. Im Locker Room nannten wir ihn »Heisman« oder »Deuce Deuce«. Eine Runningback-Dampfwalze und dazu einer der lustigsten und gleichzeitig ehrgeizigsten Menschen, die ich je kennengelernt habe. Ich wüsste nicht viele, die trotz eines so hohen Levels an Talent so hart arbeiten wie er.
Mit Mark hat das Training besonders viel Freude gemacht, auch wenn er mich immer abzog. In der Off-Season fuhr ich zu ihm nach Florida, um zu trainieren. Er ließ mich in seinem Gästezimmer schlafen und fuhr mich jeden Tag mit dem Auto zum Training und zurück. Zehn Minuten von seinem Haus entfernt habe ich standesamtlich geheiratet. Mit ihm habe ich einen Freund fürs Leben gefunden.
Auf Akiem Hicks trifft diese Bezeichnung ebenfalls zu. Der Mann ist Godzilla. Du kannst ihn nicht mit nur einem Gegenspieler blocken. Im Kraftraum packte er sechs 20-Kilo-Scheiben auf jede Seite der Hantelstange und hob das Ding an, als wäre es aus Watte. Selten habe ich mit einem talentierteren und stärkeren Menschen trainiert. Dass er das Herz der Bears-Defense ist, wundert mich überhaupt nicht. Vor allem aber hat er das Herz am rechten Fleck. In meiner Rookie-Zeit, als ich weder Führerschein noch Auto hatte, holte er mich jeden Tag vom Hotel ab und nahm mich mit zum Training und zurück. Seit ich selbst fahren kann, frage ich die jungen Spieler immer, ob sie einen Ride brauchen, weil ich das, was Akiem für mich getan hat, zurückgeben möchte.
Einen gibt es, mit dem ich zwar nur zwei Saisons zusammengespielt habe, der aber trotzdem einen bleibenden Eindruck auf mein Leben hinterlassen hat: Obum Gwacham. Obum und ich sind uns so nah, ich könnte mir ein Lied ausdenken und er würde es spontan zu Ende singen. Umso kurioser, dass er sagt: »Wenn wir gemeinsam Football spielen, mag ich dich gar nicht!« Obum, den meine Kids nur »Onkel Boom« nennen, ist auf dem Platz eher der Typ Träumer. Einmal fragte er mich kurz vor einem Spielzug: »Hey, Kasim, was muss ich eigentlich machen?« Nie wieder, sagt er, habe ihn irgendwer so böse angeschaut wie ich in jenem Moment. Obum war im Training immer an meiner Seite. In der Off-Season kam er zu mir nach Phoenix und trainierte mit mir bei Exos. Seelenverwandt im Privatleben, aber komplett unterschiedlich auf dem Platz – auch das kann in eine echte Freundschaft münden.
Oder sogar in Verwandtschaft. Jeder weiß, dass Cam Jordan mein Schwager ist. Dass er unser Trauzeuge war. Dass ich mich wegen ihm als zweifachen Pro-Bowler bezeichnen darf. Was bislang niemand weiß: Ich hielt Cam am Anfang meiner Zeit bei den Saints für einen richtigen Asi. Er sprach kaum mit mir und behandelte mich wie Luft. Den Grund dafür erklärte er mir erst, als ich es in den Kader geschafft hatte: »Ich freunde mich erst mit Rookies an, wenn sie meine Teammates geworden sind. Vorher ergibt es keinen Sinn, eine emotionale Beziehung aufzubauen, wenn die meisten doch nach kurzer Zeit wieder verschwunden sind!«
Das konnte ich nachvollziehen. Ich bin weiterhin davon überzeugt, dass Cam irgendwo in seinem Körper eine Atomkraftbatterie eingebaut hat. Er macht immer weiter, er ist wie der »Tatortreiniger«: Sein Job fängt da an, wo andere sich übergeben müssen. Cam ist der einzige Mensch, der mich mit zwei Händen locker in die Luft stemmen kann. Er ist nicht umsonst der Defensive Line-Ironman der NFL.
Unvergessen, wie das mit seiner Schwester und mir angefangen hat. In meiner zweiten Off-Season schrieb ich Cam: »Du wohnst doch in Phoenix. Ich hätte Bock, da zu trainieren. Kann ich mal bei dir vorbeikommen?« Konnte ich. Doch Training war nur noch zweitrangig, nachdem ich Steffi das erste Mal gesehen hatte. Ich rief Ifeanyi an und klagte: »Alter, ich habe gerade die Frau meiner Träume getroffen, aber ich werde sie niemals daten können!« »Warum nicht?« »Sie ist die Schwester von Cam Jordan!« Cam zu fragen, ob ich mit seiner Schwester ausgehen dürfe, traute ich mich nicht. Schließlich war ich zum Training nach Phoenix gekommen.
Zum Glück war es Steffi, die mich nach einem Date fragte. »Wie soll das gehen?«, fragte ich zurück. »Was wird Cam dazu sagen?« Um das herauszubekommen, musste ich ihn fragen. Seine Antwort: »Wenn du sie datest, musst du sie auch heiraten.« Das Ende dieser Geschichte kennt ihr. Ich glaube, Cam hat mir mittlerweile vergeben, dass ich seine Schwester geheiratet habe. Allerdings hat er uns nicht verziehen, dass die Hochzeit am 10. Juli stattfand – seinem Geburtstag. Unser offizieller Hochzeitstag ist deshalb der 11. Juli, Cam zuliebe.
Zwei Mitspieler muss ich noch erwähnen. Jeder Footballfan kennt ihre Namen. Der eine von beiden ist Brandin Cooks, First-Round-Pick der Saints beim Draft 2014 und im College als bester Widereceiver mit dem Biletnikoff-Award ausgezeichnet. Brandin ist vermutlich der schnellste Mensch, den ich jemals live sprinten sah. Auf dem Spielfeld gibt es kaum jemanden, der so im Tunnel ist wie er. Er kümmert sich nur um sein eigenes Ding, was ihm ab und an zum Vorwurf gemacht wird.
Auf Twitter las ich Behauptungen über seinen Umgang mit Mitspielern, die komplett falsch waren. Angeblich sprach er nicht mit seinen Kollegen. Völliger Quatsch. Spätestens da wurde mir klar, dass die meisten Gerüchte über NFL-Spieler nicht der Wahrheit entsprechen.
Der andere namhafte Kollege ist Drew Brees. Unser Quarterback, das Nonplusultra, beim Thema »Attention to Details«. Drew Brees ist einfach unglaublich, wenn es darum geht, die richtige Einstellung zu seinem Beruf zu finden. Vor meiner ersten Off-Season fragte ich ihn, ob er einen Rat für mein Training hätte. Seine Antwort war ein Vortrag über das Mikromanagement seines eigenen Trainings. Dass er mit zehn Würfen am Tag startet, dann auf 15, 20 und so weiter erhöht, um sich langsam an die Belastungen zu gewöhnen. Ich hörte ihm mit offenem Mund zu.
Wenn ich morgens um 7.15 Uhr die Facility betrat, saß Drew bereits im Film Room und sah sich Videos des nächsten Gegners an. Nachmittags war das Training meist gegen 16.30 Uhr zu Ende. Ich nahm mir gern etwas mehr Zeit zur Pflege, aber wenn ich um 18.15 Uhr die Anlage verließ, saß Drew immer noch im Filmraum und schaute Videos. Es wirkte, als hätte er sich seit dem Morgen nicht bewegt. Es gibt schon Gründe für seinen Erfolg.
Drew war aber nicht nur der penibelste Arbeiter, er ist auch einer der ehrgeizigsten Typen, die ich jemals erlebt habe. Auf dem Footballfeld war es besser, ihn nicht zu verärgern. Einmal habe ich erlebt, wie er im Training eine Interception warf. Headcoach Sean Payton rief: »Go on!« Aber Drew antwortete: »No, run it back!« Er war richtig sauer. Ein paar Wochen später hätte ich im Training locker einen seiner Pässe abfangen können, doch ich ließ ihn durch. Alle schauten dem Ball nach, wie er über den Platz kullerte. »Warum hast du den nicht gefangen?« »Ich will keinen Stress mit Drew«, war meine Antwort.
Drew hasste es zu verlieren. Als guter Deutscher hatte ich einen Fußball dabei, und an unseren trainingsfreien Tagen trafen wir uns manchmal zum Kicken. Teilweise waren da locker 20 Jungs am Start, das reichte für zehn gegen zehn auf dem Kunstrasen. Als ich den Ball das erste Mal mithatte, kam Drew auf mich zu. »Wie oft kannst du den hochhalten?« »Keine Ahnung, 20-mal?« Ich nahm die Kugel und machte die 20 voll. »Good job«, sagte Drew, nahm sich den Ball, schaffte 21 Berührungen und verabschiedete sich mit einem triumphierenden Grinsen in die Kabine.
Noch geiler war er beim Tischtennis. Wir spielten mit viel Ehrgeiz und Verbissenheit in einem von mir entworfenen Power-Ranking-System um die besten Positionen. Wer in einer der untersten Gruppen eingeteilt war, musste zweimal einen aus der nächsthöheren Gruppe besiegen, um aufzusteigen. Drew nahm sich einen Zwei-Euro-Schläger, auf dem nur noch die untere gelbe Kunststoffschicht klebte, während ich mit meinem 150-Dollar-Gerät an der Platte stand. Drew gegen mich im Tischtennis, one on one, mein persönlicher Super Bowl! Den ich auch noch klar gewann.
Ein paar Wochen später forderte er mich wieder heraus. Ich fragte mich, warum er sich das antun wollte. Was dann kam, hätte ich ahnen können. Drew brauchte sich eine Sportart nur lange genug anzuschauen, um sie zu beherrschen. Er spielte richtig gut. Ich besiegte ihn zwar knapp mit 16:14, aber ich vermute, er wollte es nur rechtzeitig zum nächsten QB-Meeting schaffen. Einfach irre. Aber so war er eben.
Als ich Cam zum Pro Bowl begleitete und zum Training ins Gym ging, traf ich dort Drews Frau Brittany. Ich machte eine Gleichgewichtsübung auf einem Balance Board. Sie guckte nur kurz – und schaffte die gleiche Übung mit demselben Gewicht deutlich länger. »Was ist mit euch los?«, fragte ich sie. »Seid ihr alle so in eurer Familie?« Ihre Antwort: »Ich bin mit Drew Brees verheiratet, mein ganzes Leben ist ein Wettkampf!« Es gäbe noch viel mehr Geschichten zu erzählen über diesen außergewöhnlichen Menschen, aber das würde hier den Rahmen sprengen. Nur so viel noch: Es war ein großes Privileg, Drew als Teamkollegen gehabt zu haben.
Bei den Broncos durfte ich einen Menschen kennenlernen, der sich von Drew Brees kaum unterscheidet. Wenn Drew der Quarterback-Doktor war, dann ist Von Miller der Professor des Passrushings. Er weiß selbst, dass er eine Vollmaschine ist. Aber er lässt es nicht raushängen, sondern ist einer der bescheidensten Stars, die ich kenne. So talentiert er auch ist, er macht Dinge niemals für sich allein, sondern nur fürs Team. Von ihm habe ich in den paar Monaten unserer Zusammenarbeit doppelt so viel über Passrushing gelernt wie bei den Saints binnen drei Jahren. Er hat die Gabe, die Dinge nicht nur in einfachen Worten zu erklären, sondern sie auch so umzusetzen, dass es wirklich jeder kapiert.
Die besten Mitspieler sind die, die ihre Mitspieler besser machen, und Von war in dieser Beziehung wirklich absolut selbstlos. Ständig organisierte er Teamabende oder lud uns zu sich nach Hause ein. In einigen Off-Seasons organisierte er in Las Vegas ein Camp für die Passrusher der NFL und vom College, die dort an einem Wochenende alle zusammen trainierten und sich gegenseitig ihre besten Tricks zeigten. Demarcus Ware, Aaron Donald und sogar Trent Brown und Doug Flutie sind dort gewesen, um aus der offensiven Perspektive zu berichten.
Von übernahm die Kosten für die Hotelzimmer und die Training Facility. Da war die Crème de la Crème der NFL-Passrusher am Start, aber niemand war sich zu fein, die anderen an den eigenen Geheimnissen teilhaben zu lassen. Jeder hat sich an diesem Wochenende verbessert, und genau das war es, was Von damit bezwecken wollte. Am Ende saßen wir im Theorieraum und schauten uns die Highlight-Tapes der anwesenden Jungs an. Jeder erklärte, wie er sich auf die einzelnen Passrushs vorbereitete. Es braucht einen Ehrenmann, die Besten der Besten zusammenzubringen und so eine brüderliche Atmosphäre zu kreieren.
Ich habe die Off-Season grundsätzlich geliebt, denn sie hat mich jedes Mal auf ein neues Level gehievt. Mit den besten Jungs zu trainieren, ist zehnmal effektiver, als allein vor sich hin zu ackern. Ich habe mir vorgenommen, so ein Camp auch in Deutschland zu organisieren, denn gemeinsam ist man einfach immer stärker.
Wie stark man auch allein sein kann, solltet ihr mal Shaquil Barrett fragen! Ich lernte ihn bei den Broncos kennen, wo er, so wie ich bei den Saints, 2014 als ungedrafteter Free Agent mit 3.000 Dollar brutto angefangen hatte. Kein anderer Mitspieler hatte so gute Hände wie er. Als unfassbar explosiver Linebacker zeigte er jedes Jahr, wie viel Potenzial in ihm steckt. Er musste viele Jahre um seinen Status kämpfen, denn hinter Demarcus Ware, Von und First-Round-Pick Shane Ray war es nie einfach zu zeigen, zu was er wirklich in der Lage war. 2018 wurde er bei den Broncos entlassen. Dann kamen die Buccaneers, gaben ihm 5 Millionen für einen Einjahresvertrag – und er bedankte sich mit 19,5 Sacks – Ligabestwert.
Heute ist er einer der besten Passrusher der NFL und hat einen 40-Millionen-Dollar-Vertrag in der Tasche. Solche Stories bedeuten mir am meisten. Jungs wie Shaq, die im Draft übersehen wurden, habe ich schon einige gesehen. Supertalente, die nie eine echte Chance bekamen. Umso mehr freue ich mich für Shaq und seine Karriere.
Meine Monate in Denver sind aber auch verbunden mit der Erinnerung an einen, der leider nicht mehr unter uns ist. Demaryius Thomas, einer unserer Widereceiver, war ein Anführer alter Schule, die geballte positive Energie. Alles, was er tat, tat er aus vollem Herzen. Nach seinem Tod im Dezember 2021 war die Anteilnahme aus der NFL-Community riesig. »DT« war ein Mensch, der jeden in der Liga, ob Spieler oder Fans, positiv beeinflusst hat. Seine Todesursache ist noch immer nicht bekannt. Aber was auch immer ihn aus dem Leben riss: Er wird uns allen fehlen. Auch mir, obwohl ich nur kurz mit ihm zusammenspielen durfte.
Meine weiteren Stationen waren zu kurz, um bleibende Eindrücke zu hinterlassen. Dwight Freeney möchte ich jedoch unbedingt noch nennen. Auch wenn er mich bei den Detroit Lions nach wenigen Wochen verdrängt hat, hatte er Einfluss auf meine Karriere. Er war das komplette Gegenteil zu Von Miller, der alles instinktiv machte. Bei Dwight war jeder Move kalkuliert. Er wusste genau, wie viele Schritte er machen musste, um seinen Spin Move anzubringen. Und er war der Godfather des Spin Moves! Von ihm lernen zu können, hat meinen Football-IQ noch einmal deutlich erhöht.
In diese Kategorie zählt sicherlich auch Aaron Donald, den ich für ein paar Wochen bei den Rams erleben durfte. Er ist einer der agilsten Spieler, die ich auf der Position des Defensive Tackle je gesehen habe. Dann ist da noch Maxx Crosby, den ich in Oakland erleben durfte. Er erzählte mir aus seinem früheren Leben, als er große Probleme mit Drogen und Alkohol hatte. Über den Football und die Beschäftigung mit positiven Menschen und professionellen Athleten schaffte er seine persönliche Wende und ist heute einer der besten Defensive Ends der NFL. Ich liebe solche Geschichten, weil sie zeigen, worauf es im Sport wirklich ankommt.
Wenn ihr euch jetzt fragt, warum dieser Edebali nur positive Geschichten über seine Mitspieler erzählt: Nein, das liegt nicht daran, dass ich immer positiv denke. Ich habe einfach fast nichts Negatives erlebt! 99 Prozent der Jungs in der NFL sind Ehrenmänner. Natürlich ist der NFL-Lifestyle etwas speziell. Es ist doch auch schön, wenn jeder seinen Ruhm so genießen kann, wie es ihm gefällt. Am Ende des Tages versucht aber jeder, sein Wissen weiterzugeben und sich nicht besser zu fühlen als alle anderen.
Klar, es gab auch Typen, mit denen ich nichts anfangen konnte. Bei den Raiders gab es einen, der sich gegenüber den Servicekräften im Teamhotel aufgespielt hat, als wäre er der Prinz von Zamunda. Einmal fragte er eine Kellnerin, ob sie Muffins hätte. »Natürlich«, antwortete sie. »Ich will einen Blueberry-Muffin«, herrschte er sie an. »Natürlich, ich bringe ihnen einen.« Sie drehte sich um, ging ein paar Schritte zum Tisch hinter uns und kam mit einem Blaubeer-Muffin zurück. Als ich das sah, fragte ich ihn: »Warum stehst du nicht auf und holst dir selbst einen?« Er hat nicht einmal kapiert, was ich von ihm wollte.
Bei den Saints hatten wir einen Fourth-Round-Pick, der sich verletzte und innerhalb von einer Woche zweimal zu spät zur Behandlung kam. Nach dem ersten Mal musste er 12.000 Dollar Strafe zahlen. Nach dem zweiten wurde er gecuttet. Ich dachte nur: Wie kann man nur seinen Traum so sehr in die Tonne treten? Da hast du die Chance deines Lebens und vergeigst alles innerhalb von sieben Tagen. Seine Karriere war dann auch leider schon nach zwölf Monaten beendet.
Ansonsten hatte ich wirklich nie Stress. Alle, die ich in der NFL als meine Freunde bezeichne, sind Menschen, die genau wissen, wie man das Beste aus sich und den Mitspielern herausholt. Auf dem Feld geben wir alles, um zu gewinnen, anschließend geben wir gemeinsam Gas, um voranzukommen.
Drogen, Waffen, Gewalt? All die Horrorgeschichten, die man über die NFL hört oder liest? Es gibt sie, keine Frage. Vor allem die Einstellung zu Waffen ist in den USA einfach anders. Einmal war ich mit einem Kollegen im Auto unterwegs zum Training, als er plötzlich anhielt und sagte: »Shit, ich habe vergessen, meine Knarre aus dem Kofferraum zu nehmen.« Er ging nach hinten – und holte ein M-16-Sturmgewehr aus dem Fond. Ich war völlig perplex.
Die Jungs, mit denen ich mich umgab, nahmen keine Drogen und verprügelten auch keine anderen Menschen. Natürlich habe ich Situationen erlebt, in denen Grenzen überschritten wurden. Aber dabei hielt ich mich an einen alten NFL-Grundsatz: »Stay out of trouble«. Das ist besser, wenn man seinen Job behalten will.
Bleibt noch die Frage, was für ein Mitspieler ich für meine Teammates war. Oder welche Art Teamplayer ich für sie sein wollte. Dennis Allen, unser Defensive Coordinator bei den Saints, stellte allen Spielern die Frage: »What is your Why?« Frei übersetzt: »Was ist deine Motivation?« Er nahm einen Bleistift und zerbrach ihn. Dann nahm er ein Bündel Bleistifte und versuchte sie zu zerbrechen, was nicht gelang. »Nur zusammen sind wir stark«, wollte er damit verdeutlichen.
Die Antwort auf seine Frage ist sehr komplex. Ich wollte an jedem einzelnen Tag besser sein als der, mit dem ich trainierte oder gegen den ich spielte. Ich wusste, dass ich nie der Beste der Welt sein würde. Aber an jedem Tag besser zu sein als mein Gegenüber, war mein Antrieb. »You don’t have to be better than him, you just have to beat him«, um einen anderen Coach zu zitieren. Als Teammate wollte ich derjenige sein, dem alle anderen blind vertrauten. Ich finde, das ist das schönste Gefühl, das es im Mannschaftssport geben kann.
Die NFL kann Leben verändern. Nicht nur dein eigenes, sondern auch das deiner Frau, deiner Kinder und sogar deiner Enkel. Diese Chance sollte man jeden Tag wahrnehmen, indem man immer nur versucht, den positiven Weg zu gehen. Genau das habe ich immer versucht. Ob es mir gelungen ist, müssen andere bewerten. Was mich auf die Idee bringt, euch mehr über die zu erzählen, deren Job es war, mir etwas beizubringen: meine Coaches.