Kapitel 12 feat. Cam Jordan

Momente für die Ewigkeit – meine bemerkenswertesten Spiele

Wer als Rookie neu in ein NFL-Team kommt, versucht natürlich, möglichst viel von den Veteranen zu lernen. Ich habe im Locker Room eine Menge Gespräche geführt und dabei viele Dinge erfahren, die mir geholfen haben. Aber eine Sache, die mir wirklich jeder, mit dem ich sprach, geraten hat, war: Finde deine eigene Routine! Ob Krafttraining, Reha, normale Trainingswoche oder Gameday – wer die bessere Routine hat, hat die bessere Vorbereitung, und genau darauf kommt es an. Das ist entscheidend, wenn man die Kleinigkeiten richtig machen will, die am Ende über Sieg oder Niederlage entscheiden und damit die wichtigsten Momente in einer NFL-Karriere prägen, über die ich euch in diesem Kapitel erzählen möchte.

Man unterscheidet die Gameday-Routine von der Wochen-Routine, die in jeder Organisation unterschiedlich ist. Ich will mal versuchen, euch diese Wochen-Routine anhand einer durchschnittlichen Woche bei den Saints näherzubringen. Wie die Woche startet, hängt davon ab, ob man am Sonntag gewonnen oder verloren hat. Hat man gewonnen, beginnt der Montag ganz entspannt um 10 Uhr morgens mit einem lockeren Regenerationstraining in den Positionsgruppen. Danach ist noch etwas Pflege angesagt, um 13 Uhr ist man raus aus der Facility.

Hat man verloren, fühlt man sich wie in einer dunklen Wolke gefangen. Niemand lacht, alle wirken gestresst, der Tag beginnt um 9 Uhr morgens mit Teammeetings und Analysen. Diese Montage waren tough, es ist nie einfach, sich harte Kritik gefallen zu lassen. Keiner ist in diesen Meetings sicher. Egal, wer du bist – wenn du einen Fehler machst, wird dir hier verbal der Arsch aufgerissen. Auch wenn es schwierig ist, solche Kritik nicht persönlich zu nehmen, muss man sein Ego vor der Tür lassen und sich den altbewährten Leitspruch vergegenwärtigen: »We don’t attack people, we attack problems. So leave your ego at the door.«

Bei diesen Meetings erkennt man den Unterschied zwischen jungen Spielern und Veteranen. Wo manch Neuling noch für eine halbe Woche muksch (»eingeschnappt«) ist, nutzen die Veteranen jeden Fehler, um daraus zu lernen und ihn zu eliminieren. Ob Superstar oder Back-up, Fehler macht jeder. Es kommt nur darauf an, ob man aus seinen Fehlern lernt oder sie wiederholt. Wer das macht, ist schnell raus.

Nach harten Montagen kommt der freie Dienstag sehr gelegen. Viele nutzen diesen Tag, um ihre sozialen Projekte in den Communitys zu unterstützen. Ich habe dann ab und an Cam begleitet. Meistens aber musste ich um 10 Uhr zum Special-Teams-Meeting in die Facility fahren. Das war zwar freiwillig, aber es war ein offenes Geheimnis, dass von uns erwartet wurde, dabei zu sein. Einmal kam ein Spieler nicht und wurde direkt beim nächsten Meeting vom Coach vor der gesamten Mannschaft gefragt, warum er das Meeting verpasst hatte. Weil ich mir nie mangelnden Einsatz nachsagen lassen wollte, war ich immer am Start. Störte mich auch nicht, es hat wirklich geholfen, ein gutes Gefühl für den nächsten Gegner zu bekommen. Danach konnte ich im Gym ganz in Ruhe meinen Upper-Body-Lift durchziehen. Schön meinen Booster mit 300 Milligramm Koffein, Bizeps, Trizeps, was gibt es Besseres? Danach schön Wellness. Ein bisschen abwechselnd im Hot und Ice Tub planschen, anschließend massieren lassen. Wobei diese Massagen nicht wirklich »Wellness« waren, sondern 90 Minuten Schmerz. Curtis Lofton riet mir dazu, mich einmal pro Woche massieren zu lassen. In der ersten Hälfte der Saison spürte ich keinen so großen Effekt, aber um seinen Körper auf einem hohen Niveau zu halten, machen diese Massagen ungefähr ab Woche neun einen großen Unterschied.

Nach dieser Schmerztortur war ich ready für den Mittwoch, den Tag, an dem die Woche so richtig durchstartet. 7 Uhr aufstehen, in die Facility fahren, dort frühstücken. Um 8 Uhr war Teammeeting. Hier nannte Coach Sean Payton seine Keys to Victory, die wirklich jede Woche den Unterschied machten. Danach eine Dreiviertelstunde Special-Teams-Besprechung, gefolgt vom Defensive-Meeting und der Besprechung in der Positionsgruppe.

Bevor es endlich aufs Feld ging, entspannte ich immer zehn Minuten im Jacuzzi. Curtis Lofton, Drew Brees, Ben Watson waren auch dabei, aber jeder mit seiner eigenen Pre Practice Routine. Drew schaute sich nochmal das Script an, also die Spielzüge für die Trainingseinheit. Lofton spielte entspannt am Handy. Ben hatte immer die Augen geschlossen und visualisierte das Training. Ich persönlich hatte meine Kopfhörer auf und machte Party in meinem Kopf. Musik war für mich der Kickstarter vor dem Training.

11.51 Uhr raus aus dem Hot Tub, alle hörten laut Musik. Unser Equipment-Mann »Bum« rief im Minutentakt, wie lange es noch bis zum Trainingsstart war. Und selbst wenn ich nur im Handtuch dastand und alle anderen Jungs schon draußen waren, habe ich es doch jedes Mal geschafft, um 11.59 Uhr angezogen und »ready to go« zu sein. Mittwochs standen immer First und Second Down und mehr Run Plays auf dem Stundenplan. Donnerstags war das Passspiel dran. Mittwoch und Donnerstag waren lange Tage, die »long days at the office«, vor 16.30 Uhr waren wir selten durch. Aber ich mochte diese Tage, denn besonders als Special Teamer und Back-up konntest du den Coaches beweisen, dass sie dir vertrauen konnten, um dich im nächsten Spiel möglichst viele Minuten auflaufen zu lassen.

Was nicht heißt, dass ich den Freitag nicht mochte, auch wenn er immer unter dem Motto Fast Friday stand. Was nichts anderes bedeutet, als dass im Training alles perfekt sitzen muss. Wenn das gelang, war der Tag um 13 Uhr beendet. Dumm nur, wenn nicht alles klappt. Dann heißt es nämlich: Zurück in die Meeting Rooms, alles nochmal durchsprechen. Die Laune der Trainer hängt von diesem Training ab, es ist also nur im Interesse eines jeden Spielers, dass alles picobello aussieht. Sean Payton ist Erholung sehr wichtig, daher bot er uns nach fast jedem Freitagstraining besondere Möglichkeiten zur Entspannung an: Yoga, Massage, Kryotherapie, Eisbad, Sauna oder Recovery Boots. Jeder im Team musste mindestens drei dieser Dinge machen, bevor er nach Hause durfte. Das ist nicht in jeder Organisation üblich, aber Coach Paytons Philosophie half vielen Spielern dabei, ihre Recovery Routine zu finden.

Der Sonnabend verläuft unterschiedlich, je nachdem, ob ein Heim- oder ein Auswärtsspiel ansteht. Vormittags sind Meetings über mehrere Stunden angesagt, in denen man intensiv auf den nächsten Gegner eingestellt wird. Auf dem Feld gibt es dann nur noch einen kurzen Walkthrough, ohne Shoulderpads und ohne Helm, denn was dann nicht sitzt, holt man eh nicht mehr auf. Wenn man ein Heimspiel hat, kann man nachmittags nochmal nach Hause und ein bisschen chillen, ehe um 19 Uhr Treffen im Teamhotel ist – und komm niemals zu spät, das kann schnell mit 3.000 Dollar bestraft werden! In New Orleans war unser Teamhotel das Le Meridien. Dort gab es nochmal Meetings von 20 bis 21.30 Uhr, anschließend war Bettruhe.

Spielt man auswärts, geht es am Sonnabendmittag nach dem Training zum Flughafen. Auswärtsreisen mit einem NFL-Team sind wie eine Klassenfahrt, nur auf gehobenem Niveau. Man fliegt mit einem teameigenen Charterflieger. Bei Kurzstrecken bis zu zwei Stunden hatten wir ein kleineres Flugzeug, in der Art eines Airbus A320. Auf Langstrecken flogen wir mit einer geräumigen Maschine. Man fliegt nicht von einem normalen Terminal ab, alle parken ihre Luxuskarren im Geschäftsbereich des Flughafens und checken an einem eigenen Gate ein. Bei den Saints waren wir noch recht bescheiden, aber bei anderen Teams sah es ab und zu aus wie auf einer Autoshow.

Im Flieger sind nur Menschen, die mit der Organisation verbunden sind: die Spieler, der Staff, aber auch Medienvertreter und Sponsoren. Die erste Klasse ist eigentlich für die Trainer reserviert, aber Coach Payton war immer der Ansicht, dass die Veteranen die bequemsten Plätze haben sollten, also zog er sich mit seinem Staff in die zweite Klasse zurück und ließ die Leistungsträger vorne sitzen. Feiner Zug von ihm! Eigentlich ist es aber ziemlich egal, wo man sitzt, denn weil man unter sich ist, gibt es sowieso keine Regeln. Keiner schaltet sein Handy aus, niemand schnallt sich an, niemand bleibt auf seinem Platz sitzen. Die Stewardessen sind nicht dazu da, um aufzupassen, sondern um Drinks und Snacks zu servieren. Von Peanut Butter Jelly Sandwiches, Gummibärchen und Schokoriegeln über richtige Mahlzeiten gab es alles, aber nach NFL-Tradition kam das Essen von woanders.

Dafür sind nämlich die Rookies zuständig. Sie müssen den älteren Spielern das servieren, worauf die Lust haben. Wenn die dicken Jungs Chicken Wings wollen, dann müssen die Jungen eben sehen, wo sie pünktlich vor dem Abflug noch ein paar Kilo knusprige Hähnchenflügel herbekommen. Eine Kleiderordnung gab es bei den Saints nicht, ich reiste in Jogginghose und Sweatshirt. Um das Material kümmern sich die Zeugwarte. Als Spieler musst du nur das mitnehmen, was du für die persönliche Körperhygiene brauchst. Passte bei mir immer in einen kleinen Rucksack neben meinen Gameboy. Auch wenn der Dresscode sehr entspannt war, kamen die Superstars meist im Anzug, weil sie wussten, dass jederzeit Fotos von ihnen geschossen werden konnten. Bei anderen Organisationen ist es auch Pflicht, im Anzug zu reisen, da wird ein Trip schnell mal zur Fashion Show.

Auf der Rückreise hing die Atmosphäre im Flieger vom Ausgang des Spiels ab. Wenn wir verloren hatten, war es sehr ruhig an Bord, die meisten versuchten, ein bisschen zu pennen und abzuschalten, oder gingen direkt in die Videoanalyse, um alle Fehler direkt aufzuarbeiten. Nach Siegen waren die Reisen ein bisschen wie im Partyflieger nach Mallorca. »Es ist nicht einfach, in dieser Liga zu gewinnen, Siege sind nie selbstverständlich«, sagte Coach Payton immer. Er wollte deshalb, dass wir jeden Erfolg zelebrierten und erlaubte sogar Alkohol. »Habt Spaß, ihr habt es euch verdient«, war seine Devise. Seine einzige Bedingung: »Wer etwas getrunken hat, lässt sein Auto am Flughafen stehen!« Das war ihm wichtiger als alles andere. »Sagt mir Bescheid, ich bestelle euch persönlich ein Taxi, wenn es sein muss. Das Letzte, was ich sehen will, ist einen von uns in der Zeitung als Drunk Driver.« Bei vielen anderen Teams ist jeder auf sich allein gestellt, von der Sekunde an, in der er den Flughafen verlässt. Aber bei den Saints haben Coaches und Spieler wirklich aufeinander aufgepasst.

Auf den Reisen hatten wir außerdem ein Ritual, das Hot Twenty hieß. Jeder, der mitmachen wollte, legte von den 150 Dollar Reise-Taschengeld einen 20-Dollar-Schein in einen Pott, auf den er seine Rückennummer schrieb. Dann wurden drei Scheine gezogen. Die ersten beiden erhielten ihre 20 Dollar zurück, der dritte bekam den gesamten Inhalt des Potts. Einmal wachte ich nach einem Zwei-Stunden-Nickerchen auf und hatte einen großen Haufen Geld auf meinem Schoß liegen. Ein schönes Erwachen.

Kommen wir zum Spieltag. Ganz egal, ob ich morgens im Teamhotel in New Orleans aufwachte oder irgendwo anders in den Vereinigten Staaten, meine Routine war immer dieselbe. Der Wecker klingelte um 8 Uhr morgens, nach einer heißen Dusche ging es runter ans Büffet. Viele Jungs fuhren bei Heimspielen nach dem Aufstehen wieder nach Hause, um dort zu frühstücken. Aber ich genoss immer die Ruhe im Hotel. Um meinen Blutdruck so niedrig wie möglich zu halten, hörte ich Jazz, um zu entspannen.

Was es zum Frühstück gab, hing immer davon ab, wann Spielbeginn war. Spielten wir nachmittags, aß ich Haferflocken und Eier und erst mittags das Pre-Game-Meal, das für mich bis heute immer dasselbe ist: Spaghetti mit Tomatenketchup, dazu zwei Hähnchenbrüste und zum Nachtisch zwei große Stücke Ananas. Wenn wir das frühe Spiel am Sonntagmittag hatten, gab es das Ganze eben schon zum Frühstück.

Warum? Das will ich euch sagen: Es war das erste Essen, das ich kochen konnte. Meine Mom hat es mir schon als Grundschüler beigebracht, damit ich mich selbst versorgen konnte, wenn sie länger arbeiten musste. Wie die meisten Kinder liebte ich Ketchup, und weil ich Nudeln kochen konnte, aber noch nicht so der Saucen-König war, gab es eben Ketchup obendrauf. Ob Highschool, College, NFL oder jetzt ELF – vor jedem Spiel gibt es dieses Menü. Auch weil ich nicht vergessen möchte, wo ich herkomme – aus bescheidenen Verhältnissen. Die Ananas esse ich, weil Mama immer gesagt hat, dass Ananas Spezialkräfte verleiht. Und Muddis lügen nicht!

Aber zurück zur Spieltagsroutine. Nach dem Essen ging es ins Stadion, wo wir uns spätestens zwei Stunden vor dem Kick-off einfinden mussten. Auf dem Weg dorthin hörte ich immer Funk, mit etwas höherem Rhythmus, aber immer noch locker und entspannt. Erst im Locker Room, wenn es darum ging, den Kreislauf in Gang zu bringen, kam Rap auf die Ohren. Alle hören ihre eigene Musik über Kopfhörer, weil jeder seinen Geschmack hat.

Vor dem Warm-up kam für mich immer die Entspannung: Einmal abduschen, für zehn Minuten in den Jacuzzi, nochmal abduschen – und dann Aufwärmdress an und raus ins Stadion. Auch dort hatte ich immer dasselbe Stretchingprogramm, abgeschlossen von fünf Kick-Steps und einem 50-Yards-Run von Sideline zu Sideline und zurück. Bei Heimspielen gab es noch ein anderes Ritual. Dort war schon während des Warm-ups ein Fan auf seinem Platz, der ein Trikot mit der Nummer 91 trug. Nicht mit meinen Namen drauf, sondern mit dem der Saints-Legende Will Smith. Aber weil wir die gleiche Nummer auf unseren Shirts trugen, entwickelte sich zwischen uns eine Freundschaft. Also ging ich während des Warm-ups immer zu ihm und quatschte ein bisschen. Bevor wir uns nicht die Hände geschüttelt hatten, konnte es kein gutes Spiel werden. Sogar nach meiner Saints-Zeit hat er mir jeden Sonntag auf Twitter Glück gewünscht. Ein weiteres Highlight war 2018, als ich als Zuschauer mit der Familie ins Stadion kam und wir ein Foto zusammen mit meiner Frau und meinen Kindern machten. Bis heute verfolgt der Mann mit der 91 meine Karriere.

Nach dem Warm-up sprang ich ein letztes Mal unter die Dusche, um richtig fresh zu sein, und dann zog ich meine Ausrüstung an. Jetzt hieß es Lautstärke auf Maximum, es war Zeit für den Soundtrack von »Tekken 3«, den ich wirklich vor jedem College- oder NFL-Spiel gehört habe. Dann Stage Music von Lei Wulong, Paul Phoenix, Forest Law und als Letztes immer Musik von King. Kein Booster der Welt konnte mir mehr Energie geben als diese Songs. Beim Anziehen hatte ich nie eine festgelegte Reihenfolge. Das Einzige, was mir wichtig war: Dass meine Oberarme richtig schön glänzten. Also cremte ich sie mir vor dem Kick-off mit einem halben Pfund Vaseline ein. »Look good – play good.«

Ich war nie wirklich aufgeregt vor Spielen, musste auch nicht dauernd aufs Klo rennen wie manche andere. Wenn wir ins Stadion einliefen, gingen die meisten in die Endzone, um dort noch zu beten. Ich lief direkt auf die Bank, setzte mich und versuchte, die Atmosphäre auf mich wirken zu lassen. Einer meiner Mitspieler hatte ein etwas anderes Ritual, das vielleicht skurrilste, das ich in der NFL je erlebt habe. Kevin Williams, der mit Pat Williams zwischen 2005 und 2010 die legendäre »Williams-Wall« bei den Minnesota Vikings bildete, spielte 2015 für die Saints. Während ich auf der Bank saß und chillte, hockte er neben mir – und kotzte. Vor jedem Spiel. »Ich brauche das einfach«, sagte er mit einem Grinsen. »Damit es ein gutes Spiel wird.« Dann doch lieber viermal duschen, dachte ich mir. Aber: »Whatever you need to get ready, do it!«

Weil ich das oft gefragt werde, möchte ich an dieser Stelle auf ein sehr wichtiges Thema eingehen: Ge- und Missbrauch von Schmerzmitteln. Schmerz ist in einem Vollkontaktsport ein ständiger Begleiter. Während eines Spiels merkst du ihn durch das Adrenalin gar nicht so sehr. Um ohne Schmerzen in ein Spiel zu starten, nehmen viele Spieler Painkiller. Auch ich habe das in meiner Anfangszeit getan, auch weil ich nichts darüber wusste, was das Zeug bei Dauergebrauch im Körper anrichten kann.

Ibuprofen wird in der NFL wie Smarties verteilt. Wer Schmerzen hat, nimmt Todarol, das ist Ibuprofen in extrastark. Fünf Stunden lang spürst du keine Schmerzen. Aber wenn die Wirkung nachlässt, kommt der Schmerz mit voller Wucht zurück. Bis zu meiner zweiten Knieoperation nahm ich regelmäßig Todarol. Dann fing ich an, mich mit den Nebenwirkungen zu beschäftigen.

Es gibt in der NFL ein Sprichwort: »Your best ability is availability.« Auch wenn es nicht das Beste für deinen Körper ist, nimmst du Schmerzmittel in Kauf, weil du immer bereit sein willst. Aber je länger ich mich mit dem Thema befasste, desto klarer wurde mir, dass ich meinen Körper nicht mit Schmerzmitteln ruhigstellen durfte, wenn ich so lange wie möglich spielen, aber vor allem gesund leben wollte. Ich glaube, dass die Aufklärung darüber deutlich früher hätte stattfinden müssen. Ich gehörte als Rookie auch zu jenen, die mit der Einstellung aufs Feld liefen: »When you die, you die«. Ich war bereit, ohne Rücksicht auf Verluste mit vollem Tempo gegen die Wand zu rennen. Und wenn es Mittel gab, die einem dabei halfen, dann nahm ich sie. Heute denke ich: Wie irre warst du damals eigentlich? Aber damals war das normal.

Nicht, dass ihr mich falsch versteht: Hier geht es nicht um illegale Mittel. Ob ihr es glaubt oder nicht: Ich habe in meiner gesamten Karriere keinen Spieler gesehen, der gestofft hat. Ich habe Jungs erlebt, die positiv auf Adderall oder Marihuana getestet wurden. Das ist das Letzte, was du willst, denn dann geht es in »the program«, in dem positive Spieler nicht nur Bußgeld bezahlen müssen, sondern auch für zwei Jahre bis zu 20-mal im Monat getestet werden dürfen. Jungs, die sich Anabolika spritzten, habe ich tatsächlich nie gesehen.

Das mag merkwürdig klingen, wenn man die ganzen Vollmaschinen sieht. Aber ich bin davon überzeugt, dass sie alle so aussehen, weil sie ihr Leben lang dafür trainiert haben. Selbst die Spieler, die mit 18 schon so aussehen wie ich mit Anfang 30. Nahrungsergänzungsmittel sind Normalität, aber die waren alle legal. Wir hatten ständig Dopingtests. Auch im Training. Oft kamen die Kontrolleure sogar zu mir nach Hause. Niemals hätte ich riskiert, meinen Job wegen Doping zu verlieren.

Ich bin auch keiner, der sich viele Energydrinks reinhaut oder diese Koffein-Booster. Eine halbe Portion davon reicht mir, sonst springt mein Herz aus der Brust. Ansonsten trinke ich Wasser. In der NFL ist es normal, dass sich Spieler vor den Spielen intravenös ein bis zwei Liter Flüssigkeit zuführen lassen, damit sie das ganze Wasser nicht im Magen haben. Ich probierte das auch eine Zeitlang, aber es war nicht so mein Ding. Viele stehen auch auf Riechsalz. Vor dem Kick-off wurde uns immer welches in die Hand gedrückt. Mit freien Atemwegen waren wir ready, um durch den Gegner zu laufen. Wir hatten einen Right Tackle, Zach Strief, der vor jedem Spiel mit seinem Riechsalz durch die Kabine sprang und jeden schnüffeln ließ, der Lust darauf hatte.

Meine Game-Routine kennt ihr jetzt, aber es gibt noch vier Dinge, die ich erwähnen möchte, um diesen Komplex abzurunden. Sie waren als regelmäßig wiederkehrende Elemente wichtig für mich. Jeden Montag mussten die Rookies dafür sorgen, den Veteran Players Breakfast Sandwiches zu bringen. Und nicht irgendwelche pappigen Weißbrote aus dem Supermarkt, sondern High-End-Stullen. Da kamen gerne mal 400 Dollar zusammen. Weil ich als undrafted Player nicht das fetteste Gehalt hatte, waren die Jungs sehr fair mit mir. Ich musste immer nur 200 Dollar in den Topf werfen.

Teurer wurde es am Donnerstag. Bei den Saints fuhren wir dann abends in jeweils ein anderes Restaurant, genossen unser Defensive Dinner und schauten uns das Thursday Night Game an. Alle Spieler aus der Defense waren dabei, einer der Veteranen übernahm die komplette Rechnung. Wenn ich dran war, hoffte ich immer, dass die Jungs nicht so hungrig waren, aber das hoffte ich meist vergebens. Und wenn die Rechnung verhältnismäßig klein war, wurde eben noch für 2.000 Dollar Wein bestellt. Ich muss zugeben, dass ich mich auch nicht zurückgehalten habe, wenn ein anderer mit dem Bezahlen dran war. Es war ein freiwilliger Termin, aber fast die ganze Defense war jede Woche zusammen. Das hat gezeigt, was für eine enge Gemeinschaft wir waren. Diese Defensive Dinner waren eine meiner Lieblingstraditionen.

Genauso wie die Samstage, an denen reihum im Meeting mit der D-Line jeder dran war, seine Lebensgeschichte zu erzählen. Dabei ging es darum, seine Teammates persönlich kennenzulernen. Du bist viel eher bereit, alles für deinen Nebenmann zu geben, wenn du weißt, wo er herkommt und was ihn zu dem gemacht hat, der er ist. Ich hörte in diesen Meetings viele Storys, die mich sehr berührten. Von Jungs, die als Kinder ihre Eltern verloren hatten und die Verantwortung für einen Haufen Geschwister übernehmen mussten. In diesen Meetings wurden wir von Teamkollegen zu Brüdern, die füreinander in die Schlacht zogen.

Das lustigste Ritual hatten wir zu Weihnachten. Vielleicht kennt ihr Julklapp. Man kauft ein Geschenk, ohne zu wissen, für wen es ist, packt es schön ein und legt es auf einen Haufen, und dann darf jeder der Reihe nach ein Geschenk wählen. In der Schule liegt das Preislimit, was so ein Geschenk kosten darf, meist bei 5 bis 10 Euro. Bei den Saints gab es kein Maximum, sondern ein Minimum, und das lag bei 500 Dollar. Man gönnt sich ja sonst nichts!

In meinem ersten Jahr kaufte ich ein fettes Surround-System für schlappe 550 Dollar, schleppte es zur Weihnachtsfeier und legte es auf den Stapel. Der Erste suchte sich eine kleine Rolle aus. Es war ein Bild von einer Pumpgun, und derjenige, der es verpackt hatte, hatte tatsächlich eine Pumpgun als Geschenk ausgewählt. Weil er sie natürlich nicht mit in die Facility bringen durfte, hatte er ein Bild davon ausgedruckt und wollte sie dem glücklich Beschenkten dann später privat übergeben. So etwas gibt es wahrscheinlich auch nur in Amerika.

Als ich an der Reihe war, erinnerte ich mich an die Worte meiner Mom: »Nimm nie das größte Geschenk, denn die kleinen Geschenke kommen von Herzen.« Also nahm ich die kleinste Box, die ich finden konnte. Darin lag ein kleines, eher feminines Goldarmband fürs Handgelenk. Defensive Tackle Tyeler Davison, der sie ausgesucht hatte, sagte: »Meine Freundin fand das total süß, also dachte ich, das wäre ein passendes Geschenk.« Ihr könnt euch vorstellen, dass ich das Gespött der gesamten D-Line war. Ich bedankte mich trotzdem, denn eigentlich war das Geschenk völlig egal, es ging nur um die Geste. Und lieber ein Goldarmband als eine Pumpgun.

Momente wie diese runden meine Zeit in der NFL im Rückblick als Gesamtpaket ab. Natürlich sind die Erinnerungen an diese Jahre vor allem mit meinen Einsätzen verbunden. Dabei sind es nicht nur die Highlights, die eine Karriere definieren, sondern auch Dinge, die im ersten Moment vollkommen nebensächlich erscheinen und doch so wichtig sind, dass man sie niemals vergessen wird. Dennoch möchte ich meine Auswahl der wichtigsten sportlichen Momente mit meinem vermutlich besten Spiel beginnen.

Es war in der Saison 2015, die meine produktivste in der NFL war, mit Sacks gegen Top-Quarterbacks wie Jameis Winston, Eli Manning, Cam Newton oder – wie am 21. Dezember 2015 – Matthew Stafford, der 2022 den Los Angeles Rams den Super Bowl gewonnen hat. Stafford war damals Spielmacher der Detroit Lions. Weil unser erster Linebacker Hau’oli Kikaha angeschlagen war, kam ich als Starter in der Defense zum Einsatz. Gleich im zweiten Drive sackte ich Stafford. Von da an klappte alles, was ich anpackte. Am Ende standen zwei Sacks, drei QB-Hits und elf Tackles in meiner Bilanz. Ich hatte den Coaches bewiesen, dass auf mich Verlass war, dass sie mich immer bringen konnten. Kurioserweise verloren wir das Spiel mit 27:35, aber bis heute fühlt es sich für mich nicht wie eine Niederlage an. Es ist tatsächlich viel einfacher, über eine Niederlage hinwegzukommen, wenn die individuelle Leistung gestimmt hat. Und ich hatte in dieser Partie das Spiel meines Lebens gemacht.

Dazu müsst ihr wissen, dass die allermeisten NFL-Profis – ich eingeschlossen – nach Spielen das Gefühl haben, richtig mies gespielt zu haben. Du wirst in der NFL nicht dafür bezahlt, dass du dir deine dicken Oberarme mit Vaseline einschmierst. Du wirst dafür bezahlt, dass du mit Leistung und nicht mit Vaseline glänzt, und Leistung wird an Statistiken gemessen. Wenn du also im Meeting sitzt, die Statistiken analysiert werden und du deine Note für das Spiel bekommst, hoffst du jedes Mal, dass du nicht derjenige bist, bei dem das Blatt leer geblieben ist.

Was ich gelernt habe: Du bist nie so gut, wie du glaubst, aber auch nie so schlecht, wie du befürchtest. Mit etwas Glück hast du Trainer, die auch die Zwischentöne erkennen und nicht nur Schwarz oder Weiß sehen. Die sehen, dass dein Mitspieler das Play nur machen konnte, weil du gut vorgearbeitet hast. Die einschätzen können, dass die Zahlen nicht alles sind und manchmal auch lügen. Ich hatte Wochen, in denen ich zwar keine Stats produzierte, aber dennoch wichtig fürs Team war. Aber du wirst in der NFL bezahlt, um Stats zu produzieren, deswegen fühlte sich ein Spiel wie das im Dezember 2015 gegen die Lions besonders gut an.

Wer über sein bestes Spiel spricht, sollte auch über sein schlechtestes sprechen. Ich habe darüber lange nachgedacht, aber es gibt kein Spiel, in dem ich genauso schlecht war, wie ich gegen die Lions gut gewesen war. Ich hatte einige Spiele, in denen mir manches nicht so gelungen ist, wie es richtig gewesen wäre. Als ich 2017 in Denver aktiv war, hatten wir ein Spiel gegen die Patriots, wo ich im Kick-off-Team an Position Right Three das Feld herunterlaufen musste. Der Ball flog, wir rannten, der Gegner fing das Ei und trug den Return Touchdown über 100 Yards in unsere Endzone. Mit einem kleinen Schritt in die andere Richtung hätte ich diesen Move verhindern können. So ein Fehler fühlt sich nicht gut an, aber man muss ihn abhaken und daraus lernen.

Um den bittersten Moment meiner NFL-Karriere zu beschreiben, reichen zwei Worte: Minnesota Miracle. Dieses verrückte Divisional-Round-Duell mit den Saints bei den Vikings am 14. Januar 2018 in Minneapolis, an das sich kein Saints-Fan gerne erinnert. Ich habe nie ein lauteres Publikum erlebt als an diesem Tag. Man hätte Nase an Nase stehen und sich anschreien können – und hätte einander doch nicht verstanden. Der absolute Hammer.

Die Geschichte des Spiels ist bekannt. Zur Pause lagen wir mit 0:17 zurück, führten 25 Sekunden vor Schluss mit 24:23 und die Vikings standen an ihrer eigenen 39-Yard-Linie. In diesem Szenario war ich schon oft, und es war so gut wie unmöglich, dass die Vikings gewinnen würden, solange wir sie auf dem Feld tackelten. Ihr Quarterback Case Keenum warf, von der Bank aus sah ich den Ball wie in Zeitlupe fliegen. Dann unseren Defensive Back Marcus Williams, wie er unter Vikings-Receiver Stefon Diggs durchtauchte, statt ihn zu tacklen. Diggs fing den Ball, drehte sich um – und lief 60 Yards bis in die Endzone. Wir alle waren wie versteinert.

Nie wieder in meinem Leben habe ich eine solche Enttäuschung gespürt wie in jenem Moment. Erwachsene Männer waren am Boden zerstört, nicht wissend, ob sie heulen oder sich prügeln sollen. Die Saints waren in dieser Saison Super-Bowl-Anwärter, jetzt war alles vorbei. Aber so ist Football. In einem Spiel werden durchschnittlich 100 bis 120 Spielzüge gespielt. »Gebt ihnen nie ein Easy Play«, predigen die Coaches vor jedem Spiel. An diesem Abend hatte das eine Big Play den Unterschied ausgemacht.

Es war das kurioseste und bitterste Spiel, das ich je erlebt habe. Vom Verlauf her gab es noch eine weitere Begegnung, die diesbezüglich mithalten konnte. Am 1. November 2015 spielten die Saints gegen die New York Giants. Es war ein krasses Hin und Her, das wir am Ende mit 52:49 gewannen. An dem Tag war es eine Ehre, Drew Brees bei der Arbeit zuzuschauen. Egal, was unsere Defense verbockte, er fand auf alles eine Antwort. Aber von der Bedeutung her konnte diese Partie natürlich nicht ansatzweise mit dem Minnesota Miracle mithalten.

Sehr speziell waren allerdings auch die Rivalry Games mit den Falcons. Am 15. Oktober 2015 spielten wir zu Hause gegen unseren Erzrivalen aus Atlanta. Ich war als Defensive Tackle auf der rechten Seite postiert, Cam Jordan war linker Defensive End. Wir hatten zuvor viel darüber gesprochen, was zu tun sei, wenn Atlanta-Quarterback Matt Ryan aus der Pocket rollen und laufen würde. Als er es tat, antizipierte ich seinen Move rechtzeitig, packte und sackte ihn für minus zwölf Yards. Der Drive war beendet, unsere gesamte Sideline drehte komplett durch. Völlig außer Atem trabte ich in Richtung Bank, hatte aber völlig vergessen, dass ich mit dem Punt-Return-Team auf dem Feld bleiben musste. Schnell stellte ich mich wieder auf. Und was passierte? Unser Linebacker Michael Mauti blockte den Punt und trug den Ball in die Endzone. Ein unglaublich geiler Moment! Die Energie, die dir in solchen Momenten 70 000 vollkommen euphorisierte Zuschauer geben, ist kaum zu beschreiben. Du willst schreien, bringst aber keinen Ton heraus, weil 70 000 andere für dich brüllen.

Punts zu blocken ist in Duellen mit den Falcons in New Orleans spätestens seit September 2006 eine ganz besondere Geschichte. Damals, im ersten Spiel im Superdome nach Hurrikan Katrina, blockte Steve Gleason früh im ersten Quarter einen Punt von Michael Koenen. Curtis Deloatch brachte den Ball in der Endzone unter Kontrolle und sicherte den Saints einen Touchdown. Michael Mauti war damals sogar als Zuschauer im Stadion! Steve Gleason machte im Jahr 2011 öffentlich, dass er an der Nervenerkrankung ALS leidet. Seitdem hat er mehrere Auszeichnungen für seinen Kampf gegen diese Krankheit bekommen, eine ausgerechnet an dem Tag, an dem Michael Mauti den Punkt von Matt Bosher blockte. Gleason ist in New Orleans ein absoluter Held. Die Amerikaner lieben diese Geschichten, und ich muss sagen, dass auch ich diesen Moment als etwas ganz Besonderes abgespeichert habe.

Es ist keine Überraschung, dass viele denkwürdige Momente im Rookie-Jahr passieren. Schließlich ist die erste Saison in der NFL vollgestopft mit neuen Erfahrungen. Ich erinnere mich zum Beispiel an das Spiel gegen die Tampa Bay Buccaneers am 5. Oktober 2014. Dass ich mich noch daran erinnere, ist nicht selbstverständlich – in dem Spiel musste ich meinen ersten Knock-out-Hit einstecken. Entsprechend verwaschen ist meine Erinnerung.

Der Hit kam aus dem Nichts, von meinem eigenen Teammate Ramone Humber, der mich, während ich das Tackle machte, mit Vollspeed unterm Kinn erwischte. Das Erste, was ich sah, als ich wieder zu mir kam, war der große Mercedesstern unter dem Dach des Superdomes. Ich lag komplett überfahren auf dem Rasen. Meine Mitspieler kamen und fragten, ob alles okay sei. »Klar, alles gut«, sagte ich und wollte zur Bank traben. Als ich die Sideline schon fast erreicht hatte, kamen drei meiner Jungs zu mir, um mich in die richtige Richtung zu lenken – ich hätte mich fast auf die Buccaneers-Bank gesetzt. Für die nächsten zwei Quarter war ich komplett neben der Spur. Ich bekam gar nicht mit, was um mich herum abging. Heute weiß ich, dass ich dieses Spiel niemals auf dem Feld hätte beenden dürfen. Aufgrund der heute deutlich strengeren Regeln wäre das auch nicht mehr möglich. Ich kann mich glücklich schätzen, dass mir damals nichts Schlimmeres passiert ist.

Sieben Wochen nach meinem Crash waren die Baltimore Ravens in New Orleans zu Gast. Schon beim Warm-up hatte ich festgestellt, dass Ray Lewis als TV-Experte am Spielfeldrand stand. Ray Lewis, der Held meiner Jugend! Wir verloren das Spiel mit 27:34, aber ich wollte mir die Chance nicht entgehen lassen, mein Idol zu begrüßen. Es ist üblich, dass die Spieler nach dem Spiel Hände schütteln. Man hat fünf Minuten Zeit, um sich auszutauschen. Ich nutzte die Chance und ging direkt auf Ray zu.

Er wusste nicht wirklich, wer ich bin. Aber ich sagte zu ihm: »Es gab mal einen kleinen Jungen in Deutschland, der genauso sein wollte wie Sie. Er hat alles dafür getan, und jetzt spielt er in der NFL.« »Wirklich? Wer ist der Junge?«, fragte er. »Der Junge bin ich«, sagte ich, »und ich möchte dir Danke sagen für alles, was du für mich getan hast, ohne es zu wissen.« Er war sichtlich gerührt, nahm mich in den Arm und sagte: »Danke für die Liebe. Großen Respekt dafür!« Wir haben uns nie wieder unterhalten, aber ich bin unglaublich froh, dass es diesen Moment gegeben hat. Das bedeutet mir sehr viel.

Man weiß nie, wie viele Menschen man mit seinem eigenen Tun inspiriert. Seit diesem Tag versuche ich noch mehr wertzuschätzen, dass ich vielleicht auch zu diesen Sportlern gehöre, von denen sich andere inspirieren lassen.

Wenn meine Familie bei meinen Spielen im Stadion anwesend war, gab mir das jedes Mal zusätzliche Energie. In meinem Rookie-Jahr war meine Mom zum ersten Mal live in New Orleans dabei. Sie wollte erst nicht kommen, aber ich bedrängte sie so lange, bis sie es doch tat. Für mich bedeutete es unheimlich viel, sie auf der Tribüne sitzen zu sehen, um mir dabei zuzuschauen, wohin mich mein Weg geführt hatte. Wenn ich in der Nähe von Los Angeles spielte, versuchte meine amerikanische Familie immer zu kommen. Dabei war das gar nicht mal so einfach, schließlich mussten die Tickets bezahlt werden.

Als Spieler erhält man für jedes Spiel zwei Karten, die Kosten werden vom Gehalt eingezogen. Für jedes weitere Ticket werden weitere 100 Dollar fällig. Als ich mit den Saints 2016 bei den Chargers spielte, fragte mich mein Dad nach 20 Tickets. Ich musste ihm erklären, dass wir die nicht geschenkt bekamen. Aber es war ein überragendes Gefühl, als schließlich die ganze Family mit Edebali-Saints-Shirts zum Supporten nach San Diego kam.

Bei meinem letzten Spiel für die Broncos im November 2017 gegen die Patriots war mein alter Highschool-Vertrauenslehrer Neal McIntyre mit seiner Frau im Stadion. Wir hatten uns fünf Jahre lang nicht gesehen, aber aus der Ferne den Kontakt gehalten. Sein Besuch hat mir sehr viel bedeutet. Meine Frau war in Denver bei den Spielen im Stadion, weil sie damals mit mir nach Colorado gezogen war. Bei den Stationen danach war sie dann nicht mehr dabei und blieb lieber in Phoenix. Meine Tochter Yara hat mich erst live spielen sehen, als ich in der Premierensaison der Europaliga ELF für die Sea Devils auflief.

Für viele Sportler, die während ihrer Karriere Vater werden, ist es ein wichtiges Anliegen, dass ihre Kinder sie noch live im Wettkampf erleben können. Mir bedeutet es viel mehr, dass meine Kinder verstehen, dass es viel wichtiger ist, ein guter Mensch zu sein als ein guter Football-Spieler. Sie sollen wissen, dass ihr Daddy alles immer mit vollem Herzen macht.

Dieser kleine Sidestep bringt mich zu dem Teil dieses Kapitels, der mir besonders wichtig ist. Im Laufe meiner NFL-Karriere waren es nicht die Spiele, die für die ganz besonderen Momente sorgten, sondern das, was in meinem Privatleben passierte. Mit Cam Jordan verstand ich mich bekanntlich auf Anhieb sehr gut. Wie ihr bereits wisst, verliebte ich mich in seine Schwester und fragte ihn schließlich, ob es in Ordnung sei, wenn ich sie daten würde. Seine Antwort: »Okay. Aber dann musst du sie auch heiraten.« Hätte er das auch gesagt, wenn er gewusst hätte, dass ich ihn beim Wort nehme?

Hätte er, sagt Cam Jordan, als er sich nach einem Massagetermin ganz entspannt am Mobiltelefon meldet. »Der Spruch war natürlich nicht ganz ernst gemeint. Aber ganz ohne Grund habe ich ihn auch nicht gesagt«, erklärt der Mann, der in der NFL zu den besten Defensive Ends seiner Zeit zählt. Es sei ihm damals gar nicht um sich selbst gegangen, sondern um das Teamgefüge. »Wenn es mit Kasim und Steffanie nicht funktioniert hätte, hätte das zu Problemen zwischen ihm und mir führen können. Und das wäre nicht gut für das Team gewesen. Aber sie haben es ja zum Glück sehr gut hingekriegt.«

Es heißt, dass man niemals eine zweite Chance bekommt, einen ersten Eindruck zu hinterlassen. Sein erster Eindruck von seinem späteren Schwager habe sich jedoch über die Jahre bestätigt. »Kasim war ein hungriger Athletik-Freak, der in seinem Rookie-Jahr bei den Saints aus jeder Pore ausstrahlte, dass er es ins Team schaffen wollte. Er war undrafted, hat aber alles gegeben, um diese Schlacht zu gewinnen. Er hat unglaublich hart gearbeitet.« Auch bei ihm, sagt der siebenmalige Pro-Bowler, der seit 2011 für die Saints spielt, seien die Zweifel anfangs groß gewesen, ob der Junge aus Germany wirklich gut genug sein würde, um die Saints besser zu machen. »Es war ein sehr steiniger Weg für ihn, aber er hatte genug Potenzial und noch mehr Motivation.«

Dass Kasim ein Mann mit zwei Gesichtern sein kann – abseits des Platzes lustig, offen und zu allen freundlich, auf dem Platz sehr aggressiv und extrem fokussiert – bestreitet Cam Jordan nicht. »Aber das ist in der NFL und wahrscheinlich in vielen anderen Sportarten auch nichts Außergewöhnliches. Du brauchst auf dem Platz andere Eigenschaften als im Privatleben. In seinem Beruf hat Kasim immer gezeigt, dass man sich auf ihn verlassen kann und er bereit ist, alles für dich zu opfern. Abseits des Footballs kann man ihn für seine Lockerheit nur lieben.«

Als seine Schwester und Kasim heirateten, war Cam der einzige Trauzeuge. Ein Fakt, der ihm viel bedeutet. »Ich habe nur eine Schwester, sie ist ein sehr wertvoller Mensch für mich. Die beiden haben sehr spontan geheiratet, deshalb war niemand anders dabei als ich, der davon früh genug erfahren hatte. Ich glaube, das war eine gute Entscheidung. Eine Hochzeit kostet in den USA schnell mal 50.000 Dollar. So hatte Kasim etwas mehr Geld, um Stefanie einen teureren Ring zu kaufen.« Dass der Hochzeitstag auf seinen Geburtstag terminiert wurde, weiß Cam Jordan sehr zu schätzen. Seine Beziehung zu Kasim habe sich kaum verändert, seit er in seine Familie eingeheiratet hatte. »Ich freue mich, dass er zur Familie gehört, aber wir trennen Arbeit und Privatleben gut voneinander.« Man habe Kasim auch angeboten, ein »ganz echter Teil der Jordan-Familie zu werden, aber er wollte seinen Nachnamen behalten.«

Aus gutem Grund, denn der Name Edebali steht in Deutschland für eine ganz besondere Football-Story, meint Cam Jordan. Er verfolgt den Weg, den sein Schwager in seiner Post-NFL-Karriere eingeschlagen hat, mit großem Interesse – und ist sicher, dass es die richtige Entscheidung war, nicht in den USA als Athletikcoach zu arbeiten, sondern zu versuchen, den Football in Deutschland nach vorn zu bringen. »Es gibt bei euch ein großes Potenzial für unseren Sport, und ich bin mir sicher, dass Kasim es schaffen kann, vielen Kids die Leidenschaft für Football zu vermitteln.« Sollte es mit dem Sport nicht klappen, könne Kasim auf sein zweites Talent als Schauspieler bauen. »Mit seinen lustigen Videos ist er so etwas wie der deutsche David Hasselhoff. Damit kann er bestimmt vielen Leuten Freude bereiten.«

In Woche zwei der Saison besuchte Steffi mich in New Orleans. Cam hatte sie davon nichts erzählt. Erst, als sie in der Stadt war, gab sie ihm Bescheid. Nach unserem Date übernachtete sie bei mir und nicht bei ihm. Am nächsten Morgen trafen Cam und ich uns auf dem Flur der Facility. »Ich habe richtig gute Laune. Meine Schwester ist heute Nacht nicht nach Hause gekommen. Wir reden später!«, meinte er. Und dann ergänzte er noch einen Satz, der mich sehr glücklich machte: »Wenn einer meine Schwester daten darf, dann bist du es.«

Steffanie konnte anfangs nicht verstehen, warum es mir nichts ausmachte, dass sie bereits eine Tochter hatte. Woher meine Familienverbundenheit käme, wo ich doch ohne Vater aufgewachsen sei, wollte sie wissen. »Ich habe sehr viel Liebe bekommen in meinem Leben, und ich möchte davon etwas zurückgeben«, war meine Antwort. Liebe ist für Menschen wie Wasser und Sonne für Blumen. Wenn du einem anderen Menschen deine Liebe schenkst, kann er daran wachsen. Ich wusste zwar nicht, was es heißt, Vater zu sein, aber ich fühlte mich bereit dafür, Steffis Tochter Sarai diese Liebe zu geben.

Acht Monate nach unserem ersten Kennenlernen nannte mich Sarai zum ersten Mal Daddy. Sie tat das aus eigenem Willen, Steffi oder ich haben sie nie dazu genötigt. Mir bedeutete das viel. Sie hat eine gute Beziehung zu ihrem leiblichen Vater, und ich bestärke sie immer darin, den Kontakt zu ihm nicht abreißen zu lassen. Ich sage ihr dann: »Du hast im Lotto gewonnen, denn du hast zwei Daddys, die dich lieben.« Ich bin sehr glücklich darüber, dass sie mich als Vaterfigur akzeptiert hat.

Im Sommer 2017 wollte ich Steffi einen Heiratsantrag machen. Wir kannten uns zwar erst elf Monate, aber für mich fühlte es sich so an, als sei es höchste Zeit, sie zu fragen. Bereits als wir uns erst einen Monat kannten, hatte ich sie nach ihrer Ringgröße gefragt. Ganz beiläufig natürlich, ich wollte vorbereitet sein. Mein Masterplan war, mit ihr auf die Turks&Caicos-Inseln in der Karibik zu fliegen und ihr dort einen Antrag zu machen.

Und dann war es wieder Steffi, die den ersten Schritt machte. »Warum heiraten wir nicht einfach in der Karibik?«, fragte sich mich völlig unvermittelt. »Äh, ja, warum nicht?«, stammelte ich. War jetzt nicht der romantischste Antrag, aber definitiv eine einzigartige Geschichte. Wir heirateten standesamtlich in Florida und flogen für die Flitterwochen auf die Bahamas. Sehr praktisch, dass ich den Ring, mit dem ich ihr den Antrag machen wollte, gleich als Ehering nehmen konnte. Am 10. Juli gaben wir uns in einer ganz intimen Zeremonie, bei der nur ein Priester und Cam als unser Trauzeuge dabei waren, am Strand das Ja-Wort. Unsere Familien konnten zwar nicht dabei sein, aber dank Cam haben wir ausreichend Film- und Fotomaterial von unserer Traumhochzeit – er sendete mit vier Handys gleichzeitig nach Amerika und Deutschland. Definitiv der MVB (most valuable brother) unserer Hochzeit. Ziemlich durchgeknallt, ich weiß. Aber irgendwie passte es perfekt zu uns.

In Woche vier der Saison 2017 sagte mir Steffi, dass sie schwanger sei. Ich war total geflasht, auf dem Weg zum Training musste ich vor Freude im Auto laut singen – um 6 Uhr morgens! Papa zu werden hatte ich mir immer gewünscht. Ich rief sofort meinen Opa an, der sich so sehr ein Urenkelkind gewünscht hatte: »Opa, Steffi ist schwanger!« Opa war Kettenraucher, es ging ihm damals nicht gut, deshalb antwortete er: »Vielleicht bin ich gar nicht mehr da, wenn das Kind nächstes Jahr kommt.« »Du musst mindestens so lange bleiben, bis du deinem Urenkel einen Kuss geben kannst!«, rief ich. Ich spürte, wie glücklich ihn das machte, und dass er sich in dem Moment vornahm, all seine Kraft zusammenzunehmen.

Vier Wochen später, in Woche neun der Schwangerschaft, hatte das Kind bei einer Untersuchung auf einmal keinen Herzschlag mehr. Die Ärzte sagten, wir sollten noch etwas abwarten. Am Wochenende danach spielten wir mit den Broncos gegen die Chargers, aber ich konnte mich überhaupt nicht auf das Spiel konzentrieren. In der Woche nach dem Spiel war dann klar, dass unser Kind es nicht geschafft hatte. Steffi und ich waren komplett am Boden zerstört. Das war der mit Abstand schlimmste Moment meines Lebens.

Ich wollte mit niemandem über diese Tragödie sprechen. Der Gedanke daran wurde mit jeder Erinnerung schmerzhafter. Zwei Wochen nach der traurigen Nachricht wurde ich von den Broncos entlassen. Irgendwie kam alles zusammen in diesen Tagen. In der schwersten Phase meines Lebens halfen mir die Menschen, die mich lieben. Sie gaben mir die Kraft, die Zeit zu überstehen. Was uns zum Glück auch gelang. Es waren die vier stressigsten Monate in meinem Leben. Erst Denver, dann Detroit, dann Los Angeles und schließlich wieder New Orleans.

In der Woche nach dem Minnesota Miracle eröffnete Steffi mir, sie sei erneut schwanger. Wie geht man mit so einer Nachricht um, wenn man wenige Monate zuvor eine Fehlgeburt erleiden musste? Wir freuten uns wieder riesig, waren aber auch entsprechend zurückhaltend. Diesmal jedoch ging alles glatt. Bis im achten Schwangerschaftsmonat die Chicago Bears anriefen und mich verpflichten wollten. Als Profi, der Geld verdienen muss, um die wachsende Familie zu ernähren, gab es für mich keine andere Alternative, als das Angebot anzunehmen. Steffi gab mir volle Rückendeckung. Sie ist eine absolute Vollmaschine, ich habe sie sehr bewundert dafür, dass sie hochschwanger mit einem Kind im Vorschulalter den ganzen Laden alleine schmiss.

Ich flog also nach Chicago und ließ meine hochschwangere Frau in Phoenix zurück. In der dritten Trainingswoche rief meine Mutter an. Meinem Opa ging es sehr schlecht, niemand konnte sagen, wie lange er noch durchhalten würde. Ich sprach am Telefon mit ihm und verriet ihm, dass unsere Tochter Yara heißen würde, was im Arabischen »kleiner Schmetterling« heißt. Er freute sich sehr und versprach alles zu geben, um durchzuhalten und seiner Urenkelin einen Kuss geben zu können. Am nächsten Morgen rief mich meine Mutter wieder an. Opa war in der Nacht gestorben.

Ihr könnt euch vorstellen, dass mir diese Nachricht, gepaart mit der Sorge um Steffi, nicht gerade meine Aufgabe erleichterte, mich in der Vorbereitung für einen Platz im Bears-Roster zu empfehlen. Doch so traurig mich Opas Tod machte, versuchte ich, sein Leben zu feiern, und nahm mir vor, meinen Kindern die gleiche Liebe zu geben, wie ich sie von meinem Opa bekommen hatte. Ich versuchte, trotz der schlechten Nachricht alles, um es in den Kader zu schaffen. Auch wenn ich eine meiner besten Pre-Seasons hatte: Nachdem Khalil Mack am letzten Tag vor der Veröffentlichung des 53-Mann-Rosters von den Raiders getradet wurde, hatten die Bears den Veteranen und Playmaker, den sie brauchten – und ich war wieder raus.

Letztlich war das ein Segen. So gerne ich auch für die Bears gespielt hätte, konnte ich zwei Wochen nach meiner Entlassung in Chicago bei der Geburt meiner Tochter dabei sein. Es war einer der besten, mit Sicherheit aber aufregendsten Momente meines Lebens. Als sie endlich auf der Welt war, brachen die Emotionen der vergangenen Wochen aus mir heraus. Tränen der Trauer und des Glücks liefen über mein Gesicht.

Im Januar 2019 flogen wir zum ersten Mal zu viert nach Hamburg. Seit ich 2006 meine Heimat verlassen hatte, war ich bei jeder Rückkehr von meiner Mom und meinem Opa am Flughafen empfangen worden. Nun stand nur Mama dort. Aber als sie zum ersten Mal ihre Enkel in die Arme nehmen konnte, war alles andere für kurze Zeit vergessen. Auf der Fahrt nach Hause gab sie mir ein kleines Päckchen. »Das ist ein Geschenk von Opa«, sagte sie. In dem Päckchen lag ein goldenes Armband, das mein Opa extra in der Türkei für Yara hatte anfertigen lassen. Als ich es sah, konnte ich meine Tränen kaum zurückhalten.

Mir ist es sehr wichtig, auch diese dunkelsten Momente meiner NFL-Zeit mit euch zu teilen. Ihr sollt wissen, dass auch für mich nicht immer alles perfekt gelaufen ist. In meinem Leben habe ich sehr viele Menschen kennengelernt. Jedem Einzelnen bin ich dankbar für das, was er oder sie dazu beigetragen hat, dass ich der werden konnte, der ich heute bin. Ich versuche so vielen Menschen wie möglich etwas davon abzugeben. Meine Zeit in der NFL hat mein Leben so stark geprägt wie nichts anderes. Aber genau deshalb, weil ich all das erleben durfte, weiß ich die kleinen, aber manchmal noch wichtigeren Dinge im Leben umso mehr zu schätzen.