Die oft gestellte Frage, ob nun die Henne oder das Ei zuerst da war, wird wahrscheinlich nie endgültig beantwortet werden können. Genauso ist es mit der Frage, woher meine Einstellung zum Leben kommt. War ich ein positiver Mensch, als ich zur Welt kam, und bin dann einfach so geblieben? Oder war mein Leben so positiv und hat mich deshalb zum gnadenlosen Optimisten gemacht? Ich glaube, dass diese positive Einstellung schon immer in mir war, aber alles hängt mit meiner Mutter zusammen. Ich reflektiere oft, warum ich Dinge tue, um meine eigene Psyche zu verstehen. Und immer, wenn ich über die schweren Momente in meinem Leben nachdenke, bin ich sehr glücklich darüber, dass meine Muddi so ein Powerhouse ist.
Die Liebe und Geborgenheit, die ich von ihr bekommen habe, haben mir so viel Selbstbewusstsein eingeflößt, dass ich mir niemals Sorgen über irgendetwas machen musste. Meine Mom hat so viel Last auf ihren Schultern getragen, dass ich unbeschwert durch meine Kindheit und Jugend gehen konnte. Seit ich Vater bin, weiß ich noch mehr, was für eine Superheldin Nesrin für mich war. Ich gebe alles, um meinen Kindern den gleichen Support und die gleiche Sicherheit zu geben. Aber ich bin mir auch dessen bewusst, dass nicht jeder so aufwächst, wie ich es tat.
Von der Highschool bis in die NFL habe ich mich viel mit meinen Mitspielern unterhalten und bin dankbar, deren Lebensgeschichten gehört zu haben. Es gibt so viele Dinge, die wir oft für selbstverständlich halten, doch wenn ich Geschichten von häuslicher Gewalt, Alkohol- oder Drogensucht oder vom Tod der Eltern hörte, wurde mir klar, wie hart die Realität sein kann. Und gleichzeitig, wie glücklich sich viele von uns bei allen Widrigkeiten schätzen können. Alle Geschichten haben etwas gemeinsam: Allein hat es niemand geschafft, bis in die NFL zu kommen. Jeder hatte mindestens eine Bezugsperson, die immensen Einfluss auf sein Leben hatte.
Für mich war diese Person meine Mutter. Positive Worte haben viel mehr Kraft und Einfluss, als die meisten sich vorstellen können. Wenn ich Menschen Vollgas geben sehe, lasse ich es sie wissen. »Good job, mach weiter!« Worte sind wie Benzin ins Feuer, sie machen die Flamme nur größer. Wenn Muddi sagte: »Das kriegst du locker hin!«, dann war ich auch überzeugt davon, dass ich das locker hinkriege. Egal, welche Hindernisse zu überwinden waren.
Manche nennen mich naiv oder verpeilt. Doch was auch immer andere sagen – ich hatte stets mein Ziel vor Augen. Und nichts konnte mich davon abbringen. Auch wenn es Momente gab, in denen ich keine Ahnung hatte und keine Antwort auf die Fragen, die das Leben mir stellte, war ich überzeugt davon: Solange ich Vollgas geben und mit vollem Herzen dabei sein würde, würden sich die Türen auf meinem Weg öffnen. »Trust the process« – solange du Gutes tust, wird dir Gutes begegnen. Das war schon immer meine Einstellung. Ein Kumpel in Hamburg hat vor einigen Jahren mal gesagt, für ihn sei ich wie Frogger im C64-Computerspiel (die Älteren von euch erinnern sich bestimmt!). Ich könnte auch blind über eine Autobahn laufen, und die Autos würden mich trotzdem nicht überfahren.
Es gibt ein Zitat, das meine Lebenseinstellung gut umreißt: »Luck is when preparation meets opportunity!« Glück gehört im Leben immer dazu, aber um es zu haben, muss man seinen Teil beisteuern und vorbereitet sein. Genau das habe ich immer versucht. Die harte Arbeit, die ich investiert habe, um immer bereit zu sein, ist ein Grund dafür, warum so vieles in meinem Leben in die richtige Richtung gegangen ist. Gleichzeitig vergesse ich dabei nie mein Support-System aus Menschen, die es gut mit mir gemeint und mich unterstützt haben. Ihr habt in diesem Buch einige von ihnen kennengelernt. Alleine wäre ich niemals dorthin gekommen, wo ich heute bin. Jeden Ratschlag, den ich für wichtig hielt, habe ich mir in ein kleines Notizbuch geschrieben, um ihn nicht zu vergessen und darauf zugreifen zu können, wenn es nötig sein sollte. Ihr könnt mir glauben: Es war oft nötig.
Eine wichtige Eigenschaft, die mir in meiner Denkstruktur hilft, ist die Empathie, die meine Mom mich gelehrt hat. Ich versuche immer, mich in andere Menschen hineinzuversetzen und sie zu unterstützen, ohne dass ich ihre Situation am eigenen Leib erlebt hätte. Auch wenn es einfach ist, sich schnell über etwas oder jemanden eine Meinung zu bilden, ist es für mich wichtig, die komplette Situation aus dem Blickwinkel des anderen zu betrachten. Ich habe in meinem Leben oft Dinge erlebt, die niemals eskaliert wären, wenn die eine Seite etwas mehr Verständnis für die andere aufgebracht hätte.
Es ist mir wichtig, meinen Kindern mit meinem Handeln ein Vorbild zu sein. Durch Taten will ich ihnen zeigen, was mir wichtig ist, mit Worten will ich ausdrücken, wie wichtig sie mir sind. Meine große Tochter Sarai hat dieses Jahr mit Football angefangen, und auch wenn man als Football-Dad am liebsten direkt mitcoachen würde, habe ich herausgefunden, dass sie viel mehr Spaß hat, wenn Daddy sich im Hintergrund hält. Sie hat große Freude daran, einfach nur zu spielen, Fehler sind ihr nicht wichtig. Als ich mit Football anfing, gingen meine Coaches genauso an die Sache heran. Lass die Kinder zunächst Liebe für den Sport entwickeln. Talent hin oder her – wenn jemand wirklich Leidenschaft für etwas hat, wird sie oder er immer gute Chancen haben, besser zu werden.
Nicht immer ging ich so optimistisch durchs Leben. Mit 15 hatte ich eine Phase, in der mein Feuer für den Sport nicht so stark loderte, wie ihr es von mir kennt. Ich hatte meine erste Freundin, und sie teilte die Leidenschaft für Football nicht wirklich. Sie beklagte sich oft, dass ich nicht genügend Zeit mit ihr verbrachte. So kam es, dass ich jede zweite Woche das Training schwänzte, um mit ihr zusammen zu sein.
Bei einem Hitting Drill der Huskies-Jugend wurde ich von einem meiner besten Freunde, Maurizio Tritarelli, regelrecht zerstört. Nach seinem Tackle rutschte ich fünf Meter über den Hallenboden. Dieser Drill war physisch und mental das beste Beispiel dafür, wie es damals um mich stand. In meinen ersten Monaten in der Jugend konnte ich körperlich kaum mithalten, und in der Schule und privat gab es den Hit Stick von links und rechts. Meine Jungs merkten, dass irgendetwas nicht stimmte. Zwar gaben sie mir gute Ratschläge, aber im Leben gibt es Momente, in denen man nur selbst eine Entscheidung treffen kann, um etwas zu ändern.
Meine Freundin ritzte sich damals. Einmal schnitt sie meinen Vornamen in ihren Unterarm. Ich war komplett verwirrt, weil ich nicht verstand, was mit ihr los war, gleichzeitig wollte ich ihr auch helfen. Das war eine harte Zeit. Als sie nach drei Monaten Schluss machte, war ich froh, fast wie erlöst von einer schweren Last. Ich selbst hatte mich nicht getraut, diesen Schritt zu gehen, weil ich sie nicht zusätzlich verletzen wollte. Eineinhalb Monate nach der Trennung rief sie mich an und sagte: »Kasim, ich bin schwanger!« Ich war wie vor den Kopf gestoßen. Meine Mom, für die diese ganze Phase auch sehr belastend war, forderte mich auf, sofort das Gespräch mit ihr zu suchen. Schließlich gestand mir meine Ex, dass sie die Schwangerschaft nur erfunden hatte, weil sie mich vermisste und hoffte, mich zurückzugewinnen. Danach brach ich den Kontakt zu ihr ab. Von da an war mein Mindset wieder voll auf das Erreichen meiner Ziele ausgerichtet.
Diese Phase machte mir deutlich, dass ich meine Prioritäten richtig setzen musste, um meinen Traum zu verwirklichen. »Sei nicht enttäuscht, du hast nicht genug Arbeit investiert«, dachte ich mir. 99 Prozent zu geben und mein Ziel nicht zu erreichen, wäre meine eigene Schuld gewesen. Nach diesem Erlebnis gab es nichts mehr, was mich vom Weg abbringen würde. Von da an gab ich jeden Tag 100 Prozent. Zwei Sprüche, die ich von Coaches am College gehört habe, habe ich nie wieder vergessen. »Ich brauche nicht viel von dir, gib mir nur alles, was du hast«, lautet der eine. »100 Prozent sind keine Garantie, dass es klappt. Aber wenn du sie nicht gibst, hast du keine Chance«, so der zweite. Beide haben mich durch meine Karriere begleitet.
In meinem ersten Jugendjahr bei den Huskies, nach der Episode mit meiner ersten Freundin, begann ich, nach dieser Einstellung zu leben. Es war sehr schwer, es ins Team zu schaffen. Es gab aber nur zwei Möglichkeiten. Entweder hätte ich mir sagen können: »Die sind alle besser als ich, ich habe keine Chance.« Oder: »Ich gebe alles, was ich habe, und höre nicht auf, bis ich mir Respekt verdient habe.« Ihr ahnt, für welche Option ich mich damals entschieden habe.
Von Widereceiver-Legende Jerry Rice stammt das Zitat: »Heute mache ich, was andere nicht tun, dann kann ich morgen Dinge tun, die andere nicht können.« Nicht nur auf dem Trainingsplatz, sondern zu jeder Zeit dachte ich mir: Was könnte ich heute tun, was niemand anders tun würde? Ob Regen, Sonne oder Wind – jeden Tag war ich joggen oder übte auf dem Grandplatz um die Ecke meine Drills. Ich lief, bis ich nicht mehr konnte. Ich war wie ein Schneeball, der nach und nach zur Lawine wird.
Damit das gelingt, muss man auch Ängste überwinden. In meiner Kindheit und Jugend hat mir meine Mutter all meine Ängste genommen beziehungsweise dafür gesorgt, dass gar nicht erst welche entstanden. Aber im College, als es ernst wurde, spürte ich auch Ungewissheit. Im ersten Jahr mussten wir einen Fragebogen ausfüllen, in dem es um eine psychologische Bestandsaufnahme ging. Eine Frage darin war: Wovor hast du Angst? Meine Antwort: vor dem Scheitern. Ich stellte es mir furchtbar vor, etwas, was ich mir vorgenommen habe, nicht zu erreichen.
Je mehr Erfahrung ich sammelte, desto klarer wurde mir, dass es ohne Scheitern keinen Erfolg geben kann. Die erfolgreichsten Menschen der Weltgeschichte sind an vielen ihrer Vorhaben gescheitert. Was sie von jenen abhebt, die nicht so erfolgreich wurden? Dass sie aus ihren Fehlern gelernt haben und stärker daraus hervorgegangen sind. Scheitern ist okay und wichtig, du musst nur wieder aufstehen und weitermachen.
Je älter ich werde, desto mehr fällt mir die Zerbrechlichkeit unserer Welt auf. Ihr wisst aus vorangegangenen Kapiteln, dass ich früh sehr enge Freunde verloren habe. Seit ich eine Familie habe, drehen sich meine Ängste um meine Kinder. Als Steffi nach der Fehlgeburt zum zweiten Mal schwanger war, hatte ich große Angst um sie. Und davor, dass es nochmal passieren könnte. Als Yara auf die Welt kam und dieses winzige Bündel Mensch vor mir lag, konnte ich meine Augen nicht von diesem Wunder abwenden.
In meinem ganzen Leben war mein Opa nur einmal sauer auf mich. Als ich sieben oder acht Jahre alt war, fuhren wir zum Kung-Fu-Training meiner Mutter. Vom Parkplatz lief ich hoch ins Dojo, mein Opa wusste allerdings nicht, wo das war. Er wollte mich nicht verletzen und sich nicht anmerken lassen, wie sauer er war und wie viele Sorgen er sich um mich gemacht hatte. »Kasim, du bist unser Goldstück, ich darf dich nicht verlieren«, war alles, was er an diesem Abend zu mir sagte. Heute verstehe ich diese Worte aus ganzem Herzen.
Oft bin ich überrascht, wie viel Negativität um mich herum ist. Als ich 2019 in Philadelphia war und in der Pre-Season um meinen Platz im Final Roster kämpfte, gab es einen Mitspieler, der die ganze Zeit sagte: »Nächste Woche werde ich gecutted.« Ich konnte das nicht verstehen und fragte ihn: »Warum sagst du das? Wenn du es aussprichst, dann wird es auch passieren.« Mein Mindset war: Digga, ich bin nächste Woche im Final Roster, die können sich hier alle mal ganz schnell an mein Gesicht gewöhnen. »Dream it, believe it, achieve it!« Ohne Selbstbewusstsein hat man schon halb verloren. Und auch, wenn etwas letztlich nicht geklappt hat, war mir immer klar: Wenn du in einem Tunnel bist und weder das Licht am Eingang noch das am Ausgang siehst, brauchst du eine positive Einstellung, um dein eigenes Licht zu entzünden. Und du brauchst positive Menschen um dich herum, deren Fackeln du ebenfalls nutzen kannst.
In einigen meiner Teams habe ich die Erfahrung machen müssen, dass die Stimmung nach Niederlagenserien schnell kippte. Spieler fingen an, mit dem Finger auf andere zu zeigen. Es bildeten sich kleine Gruppen, es gab eine unsichtbare, aber deutlich spürbare Trennlinie in der Mannschaft. Die Coaches schafften es nicht, darauf einzuwirken. Es gab aber auch Teams, die nach Niederlagen nur noch enger zusammenrückten und wo Fehler knallhart angesprochen wurden. Vor jedem Meeting sagte unser damaliger Defense Coordinator Dennis Allen, heute Headcoach der Saints: »Wenn ihr sensibel seid, ist dieser Beruf nichts für euch. Ich coache euch hart. Ich greife das Problem an, nie die Person. Also lasst euer Ego vor der Tür und lasst uns individuell und als Defense besser werden.« Der Unterschied zwischen guten und schlechten Teams ist: Die schlechten können dir schnell sagen, wer und was das Problem ist, während die guten das Problem so schnell wie möglich beheben.
Max Holloway und ich starteten im College-Trainingslager mal einen interessanten Versuch. Jeder weiß: Trainingslager sind die schlimmsten vier Wochen des Jahres. Ich habe schon Veteranen gesehen, die lieber in Rente gegangen sind, statt sich noch einmal durch ein Trainingslager zu quälen. Von 6 bis 21.30 Uhr Football nonstop. Es ist hart, es macht keinen Spaß, nach einer Woche spielt Zeit keine Rolle mehr, weil sich alles gleich anfühlt.
Max und ich schworen uns damals, dass wir uns während des Camps über nichts beschweren würden, sondern jedes negative Wort, das uns in den Kopf käme, in etwas Positives übersetzen würden. Nach dem ersten Training ging es los. Mein Fuß schmerzte, und ich wollte gerade anfangen, mich darüber zu beklagen. Ich schaute zu Max, der mich angrinste wie der Esel von Shrek. Also antwortete ich: »Mir geht es super!« In diesem Stil haben wir es dann durchgezogen. Es ist verrückt, wie sehr einem auffällt, wie viel negativer Vibe um einen herum zu spüren ist, wenn man sich daran nicht beteiligt. Nach zwei Wochen hatte ich das Gefühl, 80 Prozent meines Teams waren mit Muffi Schlumpf verwandt, weil wirklich jeder zweite Satz mit »Ich hasse …« begann.
Welchen Einfluss die Psyche auf das eigene Mindset hat, spürt jeder Leistungssportler vor allem am Umgang mit Druck. Druck ist immer da, in vielen Berufen. Es gibt Menschen, die können ihn ausblenden, indem sie sagen: »Druck ist, wenn du an Heiligabend noch keine Geschenke für deine Kinder hast und auch kein Geld, um noch welche zu besorgen.« Aber es gibt auch viele, die von Versagensängsten geplagt werden. Deshalb bin ich ein großer Fan von Mentaltraining. Allerdings nicht in Form von Gruppengesprächen, wie es im Profisport oft angeboten wird. Ich bin überzeugt davon, dass jeder seinen eigenen Weg finden muss, um einen klaren Kopf zu bewahren. Ob es ein Buch ist, Yoga am Morgen oder ein Entspannungstraining vor dem Schlafengehen – ich glaube, dass es für jedes Problem eine individuelle Lösung gibt.
Mir helfen zwei Dinge sehr, meinen Kopf frei zu pusten. Das eine ist Musik. Ich liebe Musik. Für jede Stimmung habe ich die Musik, die mir dann guttut. Ich versuche, so viel wie möglich zu hören und darüber zu lernen. Nach meiner ersten Saison in der NFL kaufte ich mir ein großes Keyboard. So frustrierend es sein kann, ist es gleichzeitig auch entspannend für den Kopf, einfach den Alltagsstress auszuschalten und sich nur auf eine Sache zu konzentrieren.
Das zweite ist der Kampfsport. Am Boxen habe ich immer bewundert, dass man einerseits aggressiv, auf der anderen Seite aber auch immer kontrolliert sein muss, um dem Gegner nicht unnötig Schwachstellen zu liefern. Don Brown, mein Defensive Coordinator am Boston College, betonte immer, wie wichtig »kontrollierte Aggression« im Football ist. Das Boxen hat mich gelehrt, meine Energie für die Momente zu konservieren, in denen ich zuschlagen muss. Das hilft mir auch beim Football sehr. Ruhig bleiben, bis das Play gemacht werden muss, darum geht es.
Ein wenig überrascht war ich, dass es weder im College noch in der NFL regelmäßige Angebote für Sportpsychologie gab. Am College hatte ich eine Freundin, Taylor Turchi, deren Dad Mentalcoach war. Sie stellte mich ihm vor, und er schickte mir jedes Halbjahr drei, vier Bücher, die ich lesen sollte. Sein Rat war: »Schreib dir alle deine Ziele auf. Dann kannst du sie visualisieren, realisieren und attackieren!« Ich tat das, blickte jeden Morgen nach dem Aufstehen auf die Liste – und verfehlte im ersten Jahr alle Ziele, die ich mir gesteckt hatte. Dafür erreichte ich sie im zweiten Jahr komplett – und hatte gelernt, dass es sich lohnt, beharrlich zu sein und am Ball zu bleiben, auch wenn es mal länger dauert. Eile mit Weile!
In der NFL ging wahrscheinlich Coach Loco am ehesten in Richtung Mentaltrainer, allerdings mit einem Ansatz, der sicherlich nicht allen passte. Er wollte uns zunächst brechen, um uns dann wieder aufzubauen. Auch wenn es damals nicht viel Spaß gemacht hat, als junger Spieler mit dieser harten Mentalität gecoacht zu werden, sollte es mir später in meiner Karriere helfen, besonders nachdem ich die ersten Male entlassen worden war.
Auch wenn ich nur ein Jahr mit meinem Defensive-Line-Coach Ben Albert gearbeitet habe, lernte ich viele meiner wertvollsten Lektionen von ihm. Ich liebte seine Philosophie: »Mein Job ist es, dich auf ein Level zu bringen, das du allein nicht erreichen kannst. Aber du musst es wollen und dafür alles geben.« Fördern und fordern – das erscheint mir sehr sinnvoll.
Die beste Ansprache zum Thema Mindset und Motivation kam allerdings nicht von einem Trainer, sondern von Tim Hightower, unserem Runningback bei den Saints. Nach ein paar harten Niederlagen stellte er sich vor das Team. Tim hat mich mit seinen Worten berührt und beeinflusst. Er sagte: »Den größten Unterschied machen die Momente, in denen du überhaupt keine Motivation verspürst und trotzdem 100 Prozent gibst. In diesen Momenten heben sich die richtig Guten von den anderen ab. Wenn man motiviert ist, ist es nicht schwierig, sein Bestes abzurufen. Aber wenn du gar keinen Bock aufs Training hast, wenn dir alles wehtut und du lieber auf der Couch liegen würdest, und dann trotzdem Vollgas gibst – in diesen Momenten entscheidet sich, ob du deine Ziele erreichst. Deswegen gewinnt Disziplin immer gegen Talent und vorübergehende Motivation.«
Und damit hatte er so was von recht! Es sind nicht alle Tage gleich, es gibt Ebbe und Flut. Aber an schlechten Tagen musst du an den Tag denken, an dem du dir zum ersten Mal dein Ziel gesteckt hast, und daran, wie es dir damals ging. Benutze den Moment der Motivation, um dein Ziel zu setzen, und benutze deine Disziplin, um den Weg dorthin zu finden.
Ich bin großer Fan des Anime-Charakters Naruto, ein kleiner Ninja, der Außenseiter ist. Am Anfang der Serie mochte ihn keiner, aber er gab immer alles, was er hatte, und inspirierte damit die Menschen um sich herum. »Ich bleibe mir treu, gehe meinen Weg, wie ich ihn gehe«, sagte er. Und am Ende brachte er eine ganze Nation zusammen. Ich gebe zu, ziemlich kitschig, aber irgendwie sah ich mich in ihm. Auch ich wollte alle Menschen um mich herum zusammenbringen. Selbst wenn ich down bin, sage ich mir: »Es ist ein Segen, dass ich tun kann, was ich liebe, auch wenn es hart ist.«
In diesem Zusammenhang fällt mir die Geschichte von Jodie Williams ein. Jodie ist eine britische Leichtathletin. Wir haben uns kennengelernt, als wir beide bei Exos trainierten. Sehr viele olympische Sprinter trainieren bei Exos, und ich liebte es, mir von ihren detaillierten Trainingssessions etwas abzuschauen. Unser Footballtraining ist oft fast mehr mental geprägt, damit wir trotz großer Erschöpfung auf hohem Level weiterspielen können. Ich liebte die Einstellung der Sprinter. Jeder Zentimeter, jeder verschwendete Schritt hat direkte Auswirkungen auf den ganzen Lauf. Daher war jede ihrer Einheiten haargenau und kalkuliert.
Jodie war als Juniorin eines der größten Sprinttalente in Großbritannien, aber im Übergang in den Erwachsenenbereich tat sie sich schwer. Ihre Leistung stagnierte, es sah so aus, als würde es für eine erfolgreiche Karriere nicht reichen. Doch Jodie gab nie auf. Sie gab jeden Tag Vollgas. Unsere Trainings-Facility Exos ist wie eine große Familie. Ob ein NFL-Spieler einen neuen Vertrag unterschrieben, ein Free Agent ein Team gefunden hat oder ein Sprinter gute oder schlechte Läufe hatte – jeder wusste über jeden Bescheid. Ich war damals Free Agent, und als ich hörte, dass es bei Jodie nicht so lief, wie sie es sich vorgestellt hatte, konnte ich ihre Frustration gut nachfühlen.
Nicht ein einziges Mal hat sie sich die Sinnfrage gestellt oder geklagt, sondern sie hat es einfach weiter durchgezogen. 2020 hatte sie eine ordentliche Saison und entschied danach, von der 200- auf die 400-Meter-Distanz zu wechseln. Wahrlich kein einfacher Schritt. Aber ein sehr erfolgreicher: 2021 schaffte sie es ins olympische Finale von Tokio und wurde Sechste. Ich kann nicht oft genug sagen, wie motivierend und inspirierend es ist, sich mit solchen Sportlerinnen oder Sportlern zu umgeben. Selbst wenn man nicht viel miteinander kommuniziert: Die Energie und der Wille sind immer spürbar, und sie bringen das Beste aus jedem hervor.
Sie war 22, als sie entschied, aus ihrer Heimat London nach Phoenix zu ziehen. Jodie Williams war bis dato in Großbritannien die beste Juniorin ihrer Generation. Mehrere Jahre lang hatte sie kein internationales Rennen verloren, bis sie 2010 bei der Junioren-WM »nur« Silber gewann. »Von da an ging es bergab. Ich verpasste die Olympischen Spiele 2012 in meiner Heimatstadt, hatte mit Verletzungen zu kämpfen und ging 2015 ziemlich frustriert in die USA, um von vorn zu beginnen«, erinnert sich die heute 28-Jährige.
Der Neustart gelang, 2016 startete sie in Rio de Janeiro bei ihren ersten Olympischen Spielen. »Doch danach fiel ich in ein noch tieferes Loch. Einige Jahre ging gar nichts, ich fing mir die merkwürdigsten Verletzungen ein.« In dieser Zeit traf Jodie Williams Kasim. »Er lernte mich am Tiefpunkt meiner sportlichen Laufbahn kennen. Wir waren sofort auf einer Wellenlänge. Er hatte keine Berührungsängste und wollte alles über mich und meinen Weg wissen. Wir führten viele Gespräche und ließen den anderen hinter unsere Fassade schauen. Für mich war diese Phase sehr wichtig und spannend, und ich glaube, auch ihm hat es viel gegeben.«
Was ihr an Kasim besonders imponierte? »Dass er der positivste Typ ist, den ich im Sport kennengelernt habe. Er hat immer ein Lächeln im Gesicht, ganz egal, wie hart das Training gerade ist oder wie kompliziert die eigene Situation erscheinen mag. Mit seiner Laune hat er alle um sich herum angesteckt und beeinflusst. Er hatte eine besondere Wirkung auf die Trainingsgruppe.« Sie selbst sei ein viel ernsterer Mensch. »Ich gucke im Training meistens grimmig und arbeite sehr stringent und verbissen. Aber ich glaube, genau das war es, womit ich ihn bereichern konnte: Dass ich emotional das genaue Gegenteil von ihm war, wir aber die gleiche Einstellung zum Sport teilten.«
Wie hart ihr Alltag auch war, wie aussichtslos ihr ihre Situation erschien: Aufgeben kam für Jodie nicht in Frage. »Ich wusste ja, dass ich das Talent hatte. Dass es nicht verschwunden, sondern nur verschüttet war.« Als sie 2019 bei der WM in Doha das Finale über die 200 Meter verpasste, entschied sie sich für den Wechsel auf die doppelte Distanz. »Ich hatte diesen Deal mit mir selbst gemacht: Wenn du das Finale nicht schaffst, musst du deinen Plan ändern! Und das tat ich. Ich ging für ein Jahr zurück nach London, zog zu meiner Mutter und arbeitete so hart wie möglich.« Mit Erfolg: Platz sechs bei den Sommerspielen in Tokio.
Jodie Williams ist sich sicher, dass die Trainingsfreundschaft mit Kasim durchaus einen positiven Effekt auf sie hatte. »Er hat mich in allem ermutigt, was ich tat, und er hat mir zugehört, wenn es notwendig war. Für mich war das eine wichtige Unterstützung.« Jodie Williams, die mittlerweile in Atlanta lebt, freut sich sehr darüber, dass sie weiterhin Kontakt zu Kasim hat. »Ich habe seine Karriere verfolgt, seine Filme gesehen, und weiß, dass er einen erfolgreichen Podcast macht. Ich bin sehr stolz auf ihn und sicher, dass er mit seiner Art eine Menge Kids in Deutschland und den Football in seiner Heimat auf den richtigen Weg bringen wird.«
Eine Sache, mit der ich in meinen ersten Jahren in den USA nicht so gut umgehen konnte wie Jodie, waren Verletzungen. Wenn ein Leistungssportler verletzt ist, fehlt ihm auch die körperliche Komponente der Entlastung. Wenn ich ein paar Tage nicht trainieren kann, werde ich unausstehlich. Diese Mischung war zu Beginn meiner Karriere gar nicht gut. Als ich mir an der Highschool die Hand brach, schleuderte ich vor Wut einen Stuhl gegen die Wand. Ich wusste nicht, wohin mit meinem Frust und meiner überschüssigen Energie. Als ich im College mit einer Schultereckgelenkssprengung zu kämpfen hatte, saß ich heulend am Spielfeldrand, weil ich dachte, die Saison sei gelaufen.
Dann bekam ich eine Kortisonspritze und konnte kurze Zeit später schon wieder trainieren und sogar spielen. Seit diesem Erlebnis bin ich in der Lage, Verletzungen zu akzeptieren. Natürlich finde ich es immer noch nicht toll, verletzt zu sein. Aber wenn man die Zeit der Reha gut nutzt, kann man stabiler daraus zurückkommen.
Ich glaube an die »Self-fulfilling prophecy«. Wenn du aufs Feld läufst und denkst: »Ich darf jetzt keinen Fehler machen!«, wirst du garantiert einen Fehler machen. Wenn ich für ein Play auf dem Feld stehe, sage ich mir: »Du wirst es perfekt machen.«
Als ich mal bei den Jets im Probetraining war, hatte ich ein Erlebnis, das mir verdeutlicht hat, wie sich negative Energie auswirken kann. Wir waren eine Gruppe von sieben Outside Linebackern, die einen Platz im Kader wollten. Einer von uns hatte bereits eine beeindruckende Karriere vorzuweisen. Er war gerade erst entlassen worden, was ihn komplett runterzog. Auch wenn er sich nichts anmerken lassen wollte, spürte ich sofort, dass es ihm nicht gut ging. Selbstbewusstsein hin oder her, es half ihm nicht wirklich, dass er im ersten Drill nach zwei Zehnmetersprints das ganze Feld vollkotzte. Im letzten Drill musste er wegen Wadenkrämpfen aufgeben. Die Wut war ihm anzusehen. Ich glaube, er war unter dem Druck zusammengebrochen, den er sich selbst gemacht hatte.
Für die Jungs auf NFL-Level geht es sportlich meist nur voran. Von einem Team entlassen oder nur auf die Bank gesetzt zu werden, kann für manche Spieler alles ändern. So etwas habe ich leider öfter gesehen: gestandene Männer, die komplett einbrachen, wenn sie einmal scheiterten. Deshalb gebe ich auch gar nichts auf die, die darüber lästern, dass ich bei insgesamt acht Teams war und es bei vielen nicht in den Kader geschafft habe.
Ist der schon wieder in einem anderen Team? Das schafft der eh nicht! Der kann sich nicht entscheiden! Ich habe viele solche Kommentare zugeschickt bekommen. Aber ich kannte das NFL-Business und wusste, dass viele Spieler nach der Entlassung nie wieder eine Chance bekommen. Die durchschnittliche NFL-Karriere dauert drei Jahre, und deswegen bin ich stolz darauf, den Respekt meiner Coaches und Mitspieler gewonnen zu haben, und dass mir so viele Teams die Chance gaben, ihren Kader zu verbessern. »No matter what, Edebali will always give you 100 percent.« Diese Aussage bedeutet mir viel, weil sie zeigt, dass meine Coaches und Mitspieler mir vertrauen können.
In den Momenten der Absagen oder Kündigungen dachte ich an Max. Natürlich ist es nie einfach, mit einer Entlassung umzugehen. Trotzdem bin ich dankbar, am Leben zu sein und aus dieser Erfahrung lernen zu können, um besser und stärker zurückzukommen. Wie damals im Trainingslager mit Max besteht die Herausforderung darin, trotzdem das Positive zu erkennen. Mit dieser Einstellung bin ich vielen schon ein Stück voraus.
Das erste Mal ohne Team zu sein, war dennoch eine harte Erfahrung, das gebe ich zu. Damals, 2018, half mir das Vatersein. Eine eigene Familie zu haben, rückt viele Dinge in ein anderes Licht. Gleichzeitig sagte ich mir: Mit deinem ersten Spielzug in der NFL hast du deinen Lebenstraum verwirklicht. Alles, was danach kam, war bloß die Kirsche auf der Torte. Selbst wenn ich nach meinem ersten Spielzug nie wieder gespielt hätte, wäre ich dennoch stolz auf mich gewesen. So denke ich bis heute.
Mein Mindset hat sich trotzdem verändert. Für mich geht es jetzt in erster Linie darum, wie ich anderen helfen kann, besser zu werden. Was kann ich tun, um die nächste Generation nach vorne zu bringen? Wie kann ich helfen, damit sich der Football in Deutschland weiterentwickelt?
In meiner Jugend fing ich an, andere Menschen als Vollmaschine zu bezeichnen. Nach drei Folgen von »Late Night Football« mit Football Bromance auf Twitch entschied sich die Community, mich Vollmaschine zu nennen. Oft werde ich gefragt: Was ist eigentlich eine Vollmaschine, und wie wird man das? Die meisten denken, dass man dazu einen riesigen Bizeps braucht, und geben sofort auf, weil sie bezweifeln, dass sie jemals so aussehen werden wie ihre Vorbilder. Aber darum geht es nicht. Ich beantworte diese Frage deshalb mit dem Spruch, den mein Opa immer brachte: Du kannst 1000 Volt in den Armen haben, aber wenn die Birne oben nicht leuchtet, hilft dir das gar nichts.
Und genau darum geht es. Solange du das, was du tust, mit 100 Prozent und aus vollem Herzen tust, bist du eine Vollmaschine. Mit allem, was ich in meinem Leben tue, versuche ich das auszudrücken. Nicht die Muskeln – also das Äußerliche – zählen, sondern die Taten. Wenn ich mal nicht mehr bin, sollen die Menschen über mich sagen: »Der Typ war immer eine Vollmaschine. Immer mit Vollgas und Herz dabei, dem konntest du vertrauen, dass er seinen Job macht.« Dann wäre ich glücklich. Wo auch immer ich dann sein mag.