Halt ihn fest! Nichts anderes schießt mir durch den Kopf. Egal, was kommt, aber: VERLIER DIESEN MANN NICHT, KASIM! Mein ganzes Leben habe ich mich auf diesen Moment vorbereitet, nun ist er gekommen. Aaron Rodgers, einer der besten Quarterbacks aller Zeiten, hat ein Problem. Und das Problem bin ich. Mit meinem Super Tight Gorilla Grip habe ich sein Trikot zu fassen gekriegt. Er will sich losreißen, schleift mich zwei, drei Yards mit, aber ich lasse ihn nicht entkommen. Das ist mein Moment, und auch wenn der Mann am Ende meiner rechten Hand Aaron Rodgers ist, gibt es keine Alternative. Ich bringe ihn zu Boden. Mein erster Quarterback-Sack in der besten Liga der Welt. BOOM! NFL, da bin ich!
Es gibt Erlebnisse, die bleiben einem ewig in Erinnerung. Dieser 26. Oktober 2014 ist einer der Tage, die mein sportliches Leben definieren. Als Rookie war ich zu den New Orleans Saints gekommen. Meine Hauptaufgabe war es, unseren Star-Linebacker Junior Galette zu entlasten. Ich bekam fünf bis zehn Spielzüge pro Partie, war aber hauptsächlich ein Special Teamer. Mir war vollkommen egal, welche Aufgabe mir unser Defensive-Line-Coach Bill Johnson gab. Ich hätte auch die Trinkflaschen gefüllt oder den Platz gefegt. Auch wenn ich damals dachte, schon alles über Football zu wissen, so hatte ich eigentlich keine Ahnung. Und so war ich in den ersten Saisonspielen damit beschäftigt, meinen eigenen Rhythmus zu finden. Vor allem die Geschwindigkeit war neu für mich. Ich hatte konstant Druck, den Coaches zu zeigen, dass sie mir vertrauen können. Daran musste ich mich gewöhnen.
In Woche acht kamen die Green Bay Packers nach New Orleans. Wir waren zu dem Zeitpunkt 3 und 4, hatten also einen eher mittelmäßigen Saisonstart erwischt und gerade erst gegen die Detroit Lions verloren. Doch so etwas spielt keine Rolle, wenn ein Topteam in der Stadt ist. Die Packers waren superheiß. Sie hatten vier Spiele in Folge gewonnen, und natürlich waren alle Augen auf das Quarterback-Duell zwischen Drew Brees und Aaron Rodgers gerichtet.
Die Vorbereitung war anders als vor den anderen Partien, das spürte ich schon am Montag, als die Analyse der Niederlage gegen die Lions abgefrühstückt war und sich der Blick auf das nächste Wochenende richtete. Einem Aaron Rodgers darfst du keine Sekunde Zeit geben, um den Ball zu werfen, sonst feuert er dir die 50-Yard-Raketen um die Ohren. Und vor allem: Lass ihn niemals scrambeln, sonst nimmt er dir dein Lunch Money.
Coach Johnson hatte schon am Montag angekündigt: »Kasim, wir müssen Junior ein paar Pausen mehr geben. Du brauchst mehr Spielzeit, mehr Plays! Die Hälfte der Saison ist schon rum, jetzt gibt es keine Rookie-Ausreden mehr. Entweder du gehst den nächsten Schritt oder du bleibst zurück.« Mein Herz fing an zu rasen, aber ich schluckte die Aufregung herunter und versuchte ganz cool zu bleiben: »Okay, Coach!« Der Trainer muss zu jedem Zeitpunkt das Gefühl haben, dass er dich reinbringen kann, wann auch immer es notwendig ist. Ich war Free Agent, von mir wurden nicht die Big Plays erwartet. Aber ich wollte immer ready sein, egal welche Aufgabe man mir übertrug.
Unser Spiel gegen die Packers war das Sunday Night Game. Ich liebe Sunday Night Games. Die ganze Football-Nation guckt zu, weil es nur dieses eine Spiel gibt. Aber das Dumme daran ist: Wenn du am Sonntagmorgen aufwachst, ist leider noch ein verdammt langer Rest vom Tag übrig, bis du aufs Feld darfst. Das ist hart, denn du liegst den ganzen Tag im Hotelbett, versuchst dich auszuruhen, kriegst aber das Kopfkino nicht abgeschaltet. Ich dachte über jeden Spielzug nach, der kommen könnte. Football ist ein Spiel für Perfektionisten. Wie beim Bügeln muss jede Falte raus, bis alles glatt ist. Diesen Zustand vor einem Spiel erreichen? Für mich unmöglich. Mein Kopf war voll und zugleich leer, als wir endlich ins Stadion fuhren.
New Orleans ist eine Football-Stadt, in der du am Tag nach einem Match sofort weißt, wie es ausgegangen ist, auch wenn du das Ergebnis nicht kennst. Die Menschen sind traurig, wenn die Saints verloren haben, und sie strahlen vor Glück, wenn ihre Mannschaft gewonnen hat. 73.150 Fans waren an diesem 26. Oktober 2014 im Stadion – ausverkauft. Die Stimmung war unfassbar, die Lautstärke in unserem vollüberdachten Superdome blies mir auch dieses Mal wieder den Kopf durch.
Bei diesem für mich so besonderen Erlebnis habe ich eine Erinnerungslücke. Ich weiß nicht mehr, ob ich vor dem Play, das mein Leben veränderte, schon einmal auf dem Feld war oder nicht. Es stand 10:16 im zweiten Quarter, als Coach Johnson auf mich zukam: »Edebali, you gonna be in for Junior next drive!« Ich nickte und antwortete: »Yes, sir!« Mein Gehirn ballerte die gespeicherten Informationen heraus: Pass auf Eddie Lacy auf, einen der damals besten Runningbacks der Liga. Und der Left Tackle, David Bakhtiari, ist auch eine Maschine, richtig gefährlich!
Zweites Down. Ich stellte mich in meinem Vierpunktstand auf, den Kopf so nah am Boden wie möglich. Mein Körper fühlte sich an wie eine einzige Muskelfaser. Ich schaute nach links, fixierte den Ball. In der Sekunde, in der er sich bewegte, war ich der Erste in der Line of Scrimmage, der reagierte. Wie ein Pferd im Kentucky Derby, das die Startbox endlich verlassen darf. Viel zu gerade sprang ich auf und rannte – speed to power – voll in Bakhtiari rein. Dann kam Lacy und chippte mich. Ich hielt mich an Bakhtiari fest, kam wieder hoch und sah, dass Aaron Rodgers sich etwas Zeit ließ. Zu viel Zeit. Doch alle meine Teammates verpassten ihn. Ich sprang und bekam sein Jersey zu fassen. Den Rest kennt ihr.
Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich realisierte, was passiert war. Im Training darfst du den Quarterback niemals sacken, er ist »Mister Untouchable«. Im Spiel ist es die Königsdisziplin der Defense. In dem Moment, in dem Rodgers zu Boden ging, schoss das Adrenalin nur so durch meinen Körper. Ich stand sofort auf und versuchte ganz cool und gelassen zu tun, als hätte ich das schon tausendmal gemacht. Es fühlte sich an, als hätte meine Hand übernatürliche Kräfte. Mein Hirn schrie: »Ziel erledigt!« Meine Teammates brüllten: »Good job, Kasim!« Junior Galette feierte mich richtig ab, als ich zur Bank zurückkam. Brust an Brust sprangen wir gegeneinander. Du arbeitest jeden Tag mit den Jungs zusammen, aber in diesem Moment ist dir klar: Jetzt hast du ihren Respekt.
Im vierten Quarter, kurz vor Spielende machte ich das gleiche Play noch einmal. Sack Fumble, unser Backup-Linebacker Parys Haralson bekam den Ball, das Spiel war vorbei, Sieg für uns: 44:23. Ich fühlte mich unzerstörbar.
Es ist Wahnsinn, was ein solches Play auslösen kann. In der Folge bekam ich Hunderte Nachrichten von Menschen, mit denen ich teilweise über Jahre keinen Kontakt mehr gehabt hatte. In Deutschland hatten leider nur wenige Fans das Spiel gesehen, es war ja schließlich mitten in der Nacht. Aber all meine Freunde aus der Highschool und aus der Uni hatten zugeschaut, Facebook und Twitter explodierten. »Kasim, ich habe es immer gewusst.« »Kasim, du gibst einfach nie auf.« »Kasim, der Mister 110 Prozent.« Ich fand das geil und war einfach unglaublich stolz darauf, dass ich offensichtlich so vielen Menschen etwas bedeute.
Dabei war die Chance, einen Quarterback Sack in der NFL zu schaffen, sehr klein gewesen, als ich den Weg nach Amerika angetreten hatte. Aber ich hatte sie trotzdem genutzt und meinen Traum wahr gemacht.
Das Selbstvertrauen, das ich aus diesen Sekunden zog, war gigantisch. Wenn du merkst, dass du gegen einen der Besten so ein Play machen kannst, weißt du, dass du alles schaffen kannst. Du musst vor niemandem mehr Schiss haben, sondern alle anderen vor dir, dachte ich damals. Von diesem Tag an fühlte ich mich angekommen in der Liga. Ich wusste, was auch immer mich erwarten würde, ich war dafür bereit.
Der Respekt meiner Teammates war von diesem Zeitpunkt an tatsächlich ein anderer. Unser Left Tackle Terron Armsted fing auf einmal an, mir im Training Tipps zu geben, was für mich ein Ritterschlag war. Nach dem Spiel nannten sie mich »Two Piece Bali«, weil mir zwei Sacks gelungen waren. Meinen eigentlichen Spitznamen aber verpasste mir unser Defensive Coordinator Rob Ryan in der Videoanalyse am nächsten Tag. Er zeigte die Sequenz mit dem ersten Sack und danach ein Video eines deutschen Militärhunds, der auf das Kommando »Fass!« loslief und erst aufhörte, seine Beute zu jagen, als jemand »Aus!« schrie. »Ich sehe da keinen Unterschied«, sagte Rob Ryan. Und von da an war ich der »German Shepherd«.
Aaron Rodgers übrigens hat nach dem Spiel nichts zu mir gesagt. Es ist ja auch nicht üblich, sich bei denen zu bedanken, die einen zu Boden reißen. Weder habe ich mir sein Trikot gesichert, noch irgendein anderes Erinnerungsstück an diesen Abend aufbewahrt. Es gibt ein Foto von Junior Galette und mir, wie wir die Aktion auf der Bank abfeiern, und es gibt Videosequenzen und Fotos von beiden Sacks. Aber vor allem gibt es diese Bilder in meinem Kopf. Sie sind mir mehr wert als alles, was mich materiell an diesen Moment erinnern könnte.
Wer glaubt, ich hätte diesen Boom-Effekt meiner Karriere angemessen gefeiert, also mindestens mit Schampus und Kaviar und was NFL-Stars sonst noch so brauchen, wenn sie es krachen lassen, den muss ich enttäuschen. Der Abend nach dem Spiel war dennoch legendär. Als Rookie hatte ich noch keine so enge Bindung zu meinen Kollegen, die meistens nach Spielen noch gemeinsam ins Restaurant oder in einen Club gingen. Ich ging also auch an diesem Abend in meine kleine Zweizimmerwohnung zurück, rief meine Mom an, und dachte anschließend über das Spiel nach. Mir dröhnte der Kopf, aber vor allem knurrte mein Magen, denn wir hatten nach dem Spiel nur ein Sandwich und einen dicken Keks bekommen. Für einen hungrigen Defensive End, der gerade zweimal den Quarterback der Packers verputzt hatte, war das nicht genug. Also schaute ich, was um diese Zeit noch geöffnet hatte. Die einzige Möglichkeit war McDonald’s, zwei Kilometer die Straße runter. Da ich damals noch keinen Führerschein hatte, machte ich mich zu Fuß auf den Weg. Beim goldenen M gab es zu der Zeit eine schöne Aktion für Saints-Fans. Für jeden Sack des gegnerischen Quarterbacks gab es 50 Prozent Rabatt auf einen Big Mac. Das brachte mich auf eine Idee.
Beim Schnellrestaurant angekommen, stellte ich fest: Es war nur noch der Drive-In geöffnet. Ich marschierte also vor den Lautsprecher und sagte: »Hi, ich bin die Nummer 91 der Saints und habe heute zwei Quarterback-Sacks gemacht. Kriege ich jetzt einen Big Mac umsonst?« »Sie brauchen ein Auto, um hier zu bestellen«, knarzte die Stimme aus dem Automaten zurück. Ich wollte nicht zugeben, dass ich als Saints-Spieler kein Auto, ja nicht einmal einen Führerschein besaß, also log ich: »Ich habe zwei Bier getrunken und wollte nicht mehr fahren. Kann ich nicht trotzdem meinen Big Mac bekommen? Ich bin die Nummer 91 der Saints!« Antwort: »Ja, klar. Gehen sie jetzt bitte nach Hause.« So schnell landet man auf dem harten Boden der Realität.
Aber da das Wort »aufgeben« in meinem Sprachgebrauch nicht vorkommt, ging ich zur Tankstelle auf der anderen Straßenseite, schnappte mir ein paar nett aussehende Autofahrer und fragte sie, ob sie mich kurz durch den McDonald’s-Drive-In fahren könnten. Das versuchte ich so lange ohne Erfolg, bis der Tankwart rauskam und mir zu verstehen gab, ich solle seine Kunden nicht anbetteln. Dazu solltet ihr wissen, dass die Kriminalität in New Orleans ein großes Problem darstellte und ein dunkelhäutiger, muskelbepackter Riese, der um einen Big Mac bettelt, nicht unbedingt zur Vertrauensbildung beiträgt.
Nun musste ich also dem Tankwart erklären, was mein Problem war. Zum Glück hatte er das Spiel gesehen und glaubte mir meine Geschichte, auch ohne meinen Namen zu googeln. Und so fuhr er mich tatsächlich mit seinem 1995er Honda Accord durch den Drive-In! Am Ende meines kleinen Abenteuers hatte ich nicht nur einen Big Mac im Bauch, sondern auch das gute Gefühl, auch mein letztes Tagesziel erreicht zu haben.
Müde und zufrieden lag ich um zwei Uhr nachts in meinem Bett – und musste unwillkürlich daran denken, wie alles begann. Damals, in den 90er-Jahren hatte ein kleiner dicker Junge im Osdorfer Born einen großen fetten Traum. Das hier ist seine Geschichte.