11

Vollkommen durchnässt schleppten sie sich zur Eingangstür von Miss Badcrumbles Museum. Sie brachten nicht einmal mehr die Energie auf zu klopfen. Der Regen prasselte noch immer auf den Asphalt und tropfte ihnen von der Traufe ins Gesicht. Ein schwacher Schein drang aus den Fenstern der Häuser, in denen jemand das Licht angelassen hatte, und als Molly einen Blick über die Schulter warf, konnte sie Wasserspeier ausmachen, die auf den Dächern und Schornsteinen und Autos hockten. Einige saßen sogar mitten auf der Straße. Es sah aus, als hätten sich alle Dorfbewohner in groteske Steinstatuen verwandelt.

Drinnen empfing sie die vertraute staubige Behaglichkeit. Miss Badcrumble hatte auf sie gewartet, war jedoch in ihrem Sessel eingedöst und schreckte auf, als sie hereinkamen. Entsetzt lauschte sie Masons und Nancys Bericht über die Ereignisse der Nacht.

»Herrjemine!« Sie schlug sich die dünnen Klauenfinger vor den Mund. »Der Drache baut sich im Schloss ein Nest? O Arthur, mein Lieber, das ist ja schrecklich!«

Molly schaute sich besorgt um. »Wo ist Jack? Schläft er? Ich will nicht, dass er Angst bekommt.«

»Tief und fest auf dem Sofa im Wohnzimmer.« Miss Badcrumble nahm Molly und Arthur in den Arm. »Und ihr beide könnt natürlich auch hierbleiben, heute Nacht und so lange ihr wollt. Ich mache euch gleich ein Lager aus den übrigen Sofakissen.« Erleichtert, irgendetwas zu tun zu haben, trippelte sie davon.

Molly hätte nicht gedacht, dass sie tatsächlich schlafen könnte, doch die Müdigkeit übermannte sie, kaum dass sie sich auf den weichen Kissen zusammengerollt hatte. Ein letzter Gedanke schoss ihr noch durch den Kopf: Was, wenn der Drache ins Dorf kommt? Irgendwann findet er auch das Museum …

Aber nicht einmal diese grässliche Vorstellung konnte verhindern, dass ihr die Augen zufielen.

 

Der Morgen dämmerte viel zu früh, grau und trostlos. Es regnete nicht mehr so stark wie in der Nacht, doch die Tropfen rannen unablässig über die Fensterscheiben, und die Straßen und Gärten waren mit Pfützen übersät.

»Sieht aus, als hättest du mit deiner erfundenen Unwetterwarnung gar nicht so falsch gelegen, Nancy.« Arthur presste die Stirn gegen das Glas, während Miss Badcrumble ein Tablett mit Frühstück auf der Theke des Teeladens abstellte. Mason saß schon an einem Tisch, streckte die vom Fliegen ganz steifen Schultern und starrte ebenfalls aus dem Fenster auf das verlassene Dorf. Nancy schenkte Tee ein und toastete Brot. Jack schien immer noch zu schlafen.

»Ich habe darüber nachgedacht, was Baldrian gesagt hat.« Arthur pulte traurig an seiner Scheibe Toast herum. »Die Königin hat dem Drachen befohlen, alle Menschen von der Insel zu verjagen, oder? Na ja, und es sind nur noch drei von uns übrig: Molly, Jack und ich.« Er lächelte verdrossen. »Also wird er früher oder später kommen, um uns zu holen, richtig?«

Mason nickte. »Ich fürchte, damit haben Sie recht, Master Arthur. Ich rechne mit ihm, sobald der Regen aufhört. Ich wünschte, es wäre anders.«

Molly schauderte und umklammerte ihre Tasse Tee fester. »Dann brauchen wir einen Plan!«

»Warum gehen wir nicht einfach?«, flüsterte Miss Badcrumble, mied dabei jedoch ihre Blicke. »Wenn die Königin die Insel unbedingt für sich will, wird sie vor nichts haltmachen.«

»Miss Badcrumble!« Arthur stieß seinen Stuhl zurück. Seine Augen blitzten. »Wir lassen Harriet auf keinen Fall allein!«

»Ach du liebe Zeit, das hatte ich völlig vergessen!« Miss Badcrumble wurde vor Verlegenheit ganz rot. »Tut mir leid. Herrje, herrjemine!«

»Ich bleibe hier, bis ich meine Schwester wiederhabe, und damit basta!« Arthur funkelte die alte Flink finster an.

»Und ich bleibe bei Arthur«, sagte Molly. »Und Jack bleibt bei mir.«

Mason seufzte. »Ich hatte auch nicht erwartet, dass einer von euch zur Vernunft kommt.« Der Anflug eines Lächelns umspielte seine Lippen. »Dann stellt sich allerdings weiter die Frage: Was machen wir mit der Königin und ihrem kleinen Haustier?«

Ein plötzliches Klappern und Rasseln erklang, und sie fuhren zusammen. Miss Badcrumble ließ ihre Tasse fallen, und eine Milchpfütze breitete sich auf dem Tischtuch aus. Wie erstarrt fixierten sie die Wände, aus denen das Geräusch zu dringen schien.

»Was ist das?«, quiekte Miss Badcrumble.

»Ist das der Drache?«, fragte Arthur.

Nancy eilte zum Fenster. »Wenn er da draußen ist, müssen wir etwas unternehmen, und zwar schnell

»Mit ein bisschen Glück sind es nur die Finsterflinks, die uns für ihn aufspüren«, meinte Molly mit zitternder Stimme. Alles war besser als ein Besuch des feuerspeienden Ungetüms.

»Es kommt von da drüben!« Mit einem Satz war Mason bei der Spüle. »Was zum –«

Molly beugte sich über die Theke und spähte auf den überschwemmten Boden dahinter. »Sieht aus wie ein Rohrbruch.«

»Na toll. Das hat uns gerade noch gefehlt«, stöhnte Arthur.

Als Mason die Türen des Unterschranks aufzog, schauten sie in die Öffnung eines Kupferrohrs, aus der noch immer Wasser sprudelte. Die Lache auf den Fliesen wurde größer und größer.

Miss Badcrumble hatte mit einer Papierserviette auf dem milchbefleckten Tischtuch herumgetupft. Beim Anblick des Rohrs gab sie mit einem resignierten Seufzen auf.

»Haben Sie eine Zange, Miss Badcrumble?« Mason wurde klitschnass, als er versuchte, das Rohr wieder zusammenzustecken. »Hey!«

Er sprang zurück, und die anderen starrten ihn überrascht an. Dann folgten sie seinem Blick.

Aus dem Rohr purzelte etwas, das aussah wie dürre graugrüne Fische. Doch sobald sie auf dem wasserbedeckten Boden gelandet waren, kamen sie auf die Beine und schwangen Meerglasscherben und durchscheinende Steinsplitter. Knurrend und mit glitzernden grünen Augen rückten sie vor.

Molly hatte nicht allzu viel Angst, als Mason und Nancy sich den Seeflinks spritzend in den Weg stellten. Immerhin waren die Meereswesen winzig. Doch sie stachen mit ihren Miniwaffen auf die Füße der beiden Wasserspeier ein, und die schrien vor Schmerz und Wut. Die Flinks waren so schnell, dass Mason, obschon er mit den Fäusten in alle Richtungen hieb, keinen einzigen zu erwischen schien. Nancy keuchte auf, als eins der Wesen auf ihre Schulter kletterte und heftig an ihren Haaren zog, aber auch sie haschte vergeblich nach ihm.

Molly war so damit beschäftigt, mit offenem Mund das Geschehen zu verfolgen, dass sie gar nicht bemerkte, wie eines der kleinen Geschöpfe zwischen ihren Beinen hindurchschoss und an ihrem Knöchel zerrte. Mit einem Aufschrei kippte sie um und fiel platschend auf den Hintern. Einen Moment lang war ihr schwarz vor Augen, dann sah sie das Ding klar und deutlich: eine Fischflinkfrau mit Flossen und Schwimmhäuten zwischen den spindeldürren Klauenfingern, die ihr einen scharfen Steinsplitter an die Kehle hielt.

Molly quiekte und erstarrte.

Mason und Nancy hörten sofort auf zu kämpfen und wirbelten entsetzt herum, doch die Flink auf Mollys Brust würdigte sie keines Blicks. Sie entblößte die Zähne und drückte die Steinspitze noch tiefer in Mollys Haut.

»Menschenmädchen!« Ihre Stimme hatte einen rauen, gurgelnden Klang. »Warum habt ihr euch mit der Thronräuberin gegen mein Volk verschworen?«

»Wir, ähm …« Molly schluckte.

»Wo ist ihr Drache? Antworte mir!«

Molly blinzelte und versuchte, ganz still zu halten. Mit dieser Seeflink war eindeutig nicht zu spaßen. Ihre wilde seegrasgrüne Lockenmähne rahmte ein spitzes Gesicht ein, das trotz der gräulichen Haut, der geschlitzten Nasenlöcher und des lippenlosen Munds erstaunlich schön war.

»Sprich! Wo ist die Drakonenmuschel?«

»Es tut mir leid, ich … ich …«

»Letzte Chance, Menschenmädchen!« Die Flink nickte ihren Soldaten zu, die Molly prompt umzingelten. Mason, Nancy und Arthur standen hilflos daneben und wagten nicht, auch nur einen Finger zu rühren.

Molly schluckte noch einmal und spürte, wie das Steinschwert sich schmerzhaft in ihren Hals bohrte. »Es tut mir leid«, keuchte sie heiser. »Uns beiden, wirklich! Wir haben uns nichts Böses dabei gedacht. Wir wussten nicht, was die Muschel tut. Und wir hatten keine Ahnung von dem Drachen. Die Königin hat uns reingelegt!«

»Warum sollte ich dir auch nur ein Wort glauben?« Die Seeflink verengte drohend die Augen.

»Sie sagt die Wahrheit!« Miss Badcrumble schien endlich ihre Stimme wiedergefunden zu haben. Hastig trippelte sie zu einer Kommode hinüber und riss die oberste Schublade auf. »Sie wussten es nicht. Niemand von uns wusste es.« Mit der Muschel, die diesen ganzen Ärger verursacht hatte, drängelte sie sich durch den Pulk wütender Fischwesen. »Hier ist sie! Bitte, ich gebe Sie Ihnen zurück, wenn Sie diesen schrecklichen Drachen aus dem Schloss vertreiben.«

Die Seeflink behielt Molly streng im Blick, während sie die Muschel mit einer Hand berührte. »Es ist die Drakonenmuschel!«, verkündete sie schließlich und verringerte den Druck ihrer Waffe auf Mollys Kehle ein wenig. »Wachen, nehmt sie!«

Mit ehrfürchtiger Vorsicht nahmen die Soldaten die Muschel von Miss Badcrumble entgegen. Ihre Anführerin allerdings fixierte Molly weiter mit schief gelegtem Kopf und gerunzelter Stirn. Molly versuchte, so unschuldig wie möglich zu der grimmigen Kreatur aufzuschauen.

Nach ein paar quälend langen Sekunden stieß die Flink zischend den Atem aus und zog ihr Schwert zurück. Dann sprang sie von Mollys Brust ins Wasser und streckte ihr die winzige Klaue hin.

»Es geht schon«, sagte Molly, als sie sich mit wackeligen Knien aufrappelte. »Und es tut mir wirklich leid. Ganz ehrlich!«

Das Fischwesen stützte sich auf seine Waffe. »Nun gut. Mir tut es leid, dass ich dich angegriffen habe, aber so lebt mein Volk seit vielen, vielen Jahren. Ich heiße Hyazinthe.«

Miss Badcrumble schnappte nach Luft, wieselte noch näher und neigte demütig den Kopf. »Euer Majestät! Bitte vergebt mir. Ich habe Euch nicht erkannt.«

Hyazinthe schnaubte. »Das ist kaum verwunderlich.« Sie schenkte der alten Flink ein kurzes Lächeln.

»Moment mal«, schaltete Arthur sich ein. »Was meinen Sie damit, ›Euer Majestät‹?«

»Ich bin die rechtmäßige Königin der Finsterflinks.« Hyazinthe betrachtete ihre Klauenhand mit den Schwimmhäuten. »Narzisse ist nur eine Thronräuberin.«

Hyazinthes Soldaten nickten und murmelten zornige Worte der Zustimmung. Molly und Arthur wechselten einen erschrockenen Blick. »Eine Thronräuberin?«, fragte Molly verständnislos.

»Das ist eine lange Geschichte, und wir haben jetzt keine Zeit zu verlieren. Bringt mich und meine Krieger zum Hexenmeister Trevarren. Ich muss dringend mit ihm sprechen.«

»Ähm …« Arthur verzog das Gesicht. »Ich glaube, wir haben auch einiges zu erklären.«

»Euer Majestät, wenn Ihr erlaubt.« Eifrig füllte Miss Badcrumble eine große Auflaufform mit Wasser aus dem undichten Rohr. »Das werdet Ihr brauchen, für den Weg.«

»Natürlich.« Hoheitsvoll stieg Hyazinthe in die flache Schale. »Sehr aufmerksam von dir, Flinkschwester.«

Miss Badcrumble wurde rot vor Freude und verneigte sich erneut.

»Das verstehe ich nicht.« Molly schüttelte den Kopf. »Wie könnt Ihr die Königin der Finsterflinks sein? Ich dachte, das wäre … ähm, die andere!«

»Die andere«, sagte Hyazinthe verächtlich, »ist meine Schwester Narzisse, diese heimtückische Schlange! Sie war voller Hass auf die Menschen, die auf die Insel Ravenstorm gekommen sind. Stundenlang hat sie mit mir darüber gestritten, bis ihr die Ohren geraucht haben, im wahrsten Sinne des Wortes. Das war vielleicht ein Anblick!« Ihre Mundwinkel zuckten bei der Erinnerung.

»Was ist passiert? Ich meine, wenn Ihr die Königin wart …«, sagte Arthur.

»Sie hat einen verräterischen Putsch angezettelt und mir meinen Thron geraubt!«, stieß Hyazinthe zwischen den spitzen Zähnen hervor. »Ich wollte friedlich mit den Menschen zusammenleben, aber Narzisse? Ich glaube, sie hat noch nie mit irgendjemandem friedlich zusammengelebt, vor allem nicht mit mir. Sie wollte einen blutigen Krieg gegen Trevarren und die Menschen führen, also hat sie mir meine Krone gestohlen und einen Großteil meiner Magie. Und den Drachen verzaubert, damit er Trevarren in seinem Turm angreift.«

»Ah.« Mason nickte. »Natürlich! Deshalb ist er direkt nach Schloss Ravenstorm geflogen. Er hat seinen letzten Befehl befolgt.«

»Und mit etwas Glück fällt Narzisse erst in einer Weile auf, was sie getan hat«, fügte Nancy schmunzelnd hinzu.

»Was sie getan hat?«, wiederholte Molly verwirrt.

»Wenn sie dem Drachen befohlen hat, zum Schloss zu fliegen, und nicht, alle Menschen von der Insel zu verjagen, dann wird er nicht ins Dorf kommen, bis sie ihren Zauber ändert«, erklärte Nancy. »Narzisses Unachtsamkeit verschafft uns eine Atempause!«

»In der Tat. Und wir werden jede Minute davon brauchen.« Hyazinthe ließ nachdenklich den Blick über ihre Soldaten wandern.

»Aber was ist mit Euch?«, fragte Arthur. »Wie seid Ihr im Meer gelandet?«

»Es hätte schlimmer kommen können.« Hyazinthe zuckte anmutig mit den Achseln und zog ihren Seegrasumhang zurecht. »Narzisse hat mich und meine treuen Gefolgsleute verflucht, nie wieder einen Fuß auf diese Insel zu setzen. Doch Trevarren wusste, dass man mit mir vernünftig reden kann, also haben wir eine Abmachung getroffen. Wenn wir ihm helfen würden, den Drachen niederzuzwingen, würde er uns in Meereswesen verwandeln. So könnten wir vor der Küste unserer Heimat leben, in Sichtweite. Nah genug, um sie zu berühren …« Sie seufzte traurig, dann straffte sie die Schultern. »Deshalb müssen wir immer im Wasser sein, versteht ihr? Nun, die Schlacht war lang und erbittert. Narzisse hatte den Drachen auf ihrer Seite und ihre erstarkte Magie. Aber ich hatte meine neuen Wasserkräfte und Trevarren seine Hexenkunst. So gingen wir als Sieger hervor, zumindest gegen den Drachen. Trevarren hat ihn in einen tiefen Schlaf versetzt und den Zauber mit der Drakonenmuschel besiegelt. Und mein Volk und ich bewachen die Bestie seit jenem Tag.« Sie bedachte Molly und Arthur mit einem vernichtenden Blick und knurrte: »Bis gestern.«

»’tschuldigung«, murmelte Molly kleinlaut.

»Was geschehen ist, ist geschehen«, erwiderte Hyazinthe mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Nun müssen wir den Schaden beheben. Ich werde die Muschel wieder in die Hand des Hexenmeisters legen. Das hat er mir aufgetragen, sollte der Drache jemals erwachen.« Sie schaute sie erwartungsvoll an. »Also, wo ist er?«

»Ich glaube nicht, dass … Ich meine, er …«, stotterte Molly, und Mason drückte ihr beruhigend die Schulter.

Hyazinthe zog die Augenbrauen zusammen. »Sprich, Menschenmädchen! Wo ist Trevarren? Bringt mich zu ihm, und zwar unverzüglich!«

»Das können wir nicht«, sagte Arthur. »Er ist seit über dreihundert Jahren tot.«