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Doch ihnen blieb keine Zeit, den Verlust der Muschel zu betrauern. Der Drache brüllte erneut, und dieses Mal klang es sehr viel näher. Molly glaubte, seinen heißen Atem im Nacken zu spüren, als sie sich aufrappelte und Arthur mit sich hochzerrte. Sie war kaum losgelaufen, da packte sie etwas und riss sie von den Füßen.

Sie stieß einen schrillen Angstschrei aus, ehe sie begriff, was passiert war. Mason hielt sie im einen und Arthur im anderen Arm, während Nancy neben ihm Lord Trevarren umklammerte. Der Hexenmeister trat mit seinen Samtpantoffeln panisch um sich, bis er nach oben blickte und erkannte, wer seine Retterin war. Dann verschränkte er einfach die Arme in den ausladenden Ärmeln seines Umhangs und genoss entspannt den Flug.

Molly allerdings war nicht nach Entspannung zumute. Sie spähte über die Schulter. Eigentlich hatte sie erwartet, dass der Drache ihnen dicht auf den Fersen bleiben würde, doch der hielt abrupt an, als sie die Grenze des Schlossgeländes überquerten. Mit einem letzten warnenden Brüllen drehte er um.

Molly wurde ganz schwindelig vor Erleichterung. Anscheinend hatten Nancy und Hyazinthe recht: Im Moment war der Drache nur daran interessiert, Schloss Ravenstorm – sein neues Zuhause – zu beschützen.

Mason und Nancy flogen auf direktem Weg zum Dorf, und eine Minute später hatten sie den Garten des kleinen Museums erreicht. Die beiden Wasserspeier setzten gerade ihre Last ab, als Miss Badcrumble die Tür aufriss und sie hastig hineinwinkte.

Bei Lord Trevarrens Anblick machte sie große Augen. »Du liebe Zeit. Das ist ja … Ach du meine Güte.«

Der Hexenmeister verneigte sich kurz. Dann entdeckte er Hyazinthe und ihre Soldaten, die ziemlich gelangweilt im Schneidersitz in der wassergefüllten Auflaufform saßen, und sog überrascht die Luft ein. Hyazinthe schaute auf und lächelte. Sie erhob sich elegant. Lord Trevarren ging auf ein Knie, nahm ihre schwimmhautbesetzte Klauenhand und beugte sich darüber. »Euer Majestät. Es ist lange her.«

»So lange nun auch wieder nicht«, erwiderte Hyazinthe. »Ich wusste, dass Ihr mich nicht enttäuschen würdet, Trevarren. Das mit Eurem Tod tut mir leid.«

»Nicht doch, nicht doch. Zumindest habe ich noch eine körperliche Form.« Er wandte sich zu den Wasserspeiern und umarmte sie herzlich. Molly hörte das Knirschen von Stein auf Stein.

»Mason! Meine liebe Nancy! Wie habe ich euch vermisst.«

»Wir haben Euch auch vermisst, Mylord«, antwortete Mason lächelnd.

»Diese beiden haben mir so viele Jahre treu gedient«, sagte Lord Trevarren.

»Und sie tun es noch«, ergänzte Arthur. »Wer, glauben Sie, hat sich hier die ganze Zeit um alles gekümmert?«

»Wie stehen denn die Dinge im Schloss?« Lord Trevarren blickte stirnrunzelnd zwischen Mason und Nancy hin und her. »Abgesehen von der Sache mit dem Drachen, natürlich.«

»Abgesehen von der Sache mit dem Drachen steht alles zum Besten«, sagte Mason. »Das Schloss ist gut in Schuss. Die neuen Eigentümer sind wirklich wunderbare Leute.« Er zwinkerte Arthur zu. Der grinste.

»Aber Lord Trevarren«, warf Molly ungeduldig ein. »Der Drache ist schon ein kleines Problem.«

»Ja«, antwortete der Hexenmeister langsam. »Ja, das ist er wohl.«

Molly hätte am liebsten mit dem Fuß gestampft, vorzugsweise auf einen von Lord Trevarrens Samtpantoffeln, nur würde sie sich dabei selbst mehr weh tun als ihm. »Warum sollten wir Ihnen die Muschel in die Hand legen? Wir dachten, dafür gäbe es einen guten Grund, aber jetzt ist die Muschel zerbrochen, und Sie können in dieser Form nicht zaubern. Wie sollen wir den Drachen je wieder in den Schlaf versetzen?«

»Aber, aber, mein Kind. Noch ist nichts verloren.« Dabei tätschelte er Molly den Kopf, was ihren Ärger nur verstärkte. »Diese Statue mag meine Kräfte nicht benutzen können, doch sie ist von meinem Geist erfüllt. Somit verfügt sie auch über meinen Verstand und all mein Wissen.«

Arthur musterte ihn skeptisch. »Und wie hilft uns das?«

Mason knuffte ihn in die Seite, aber Lord Trevarren hatte sich schon umgedreht, um auch Arthur den Kopf zu tätscheln. Molly musste sich beherrschen, um beim Gesichtsausdruck ihres Cousins nicht laut loszuprusten. »Ich weiß alles, was ich zu Lebzeiten wusste, mein Junge. Also auch, wie wir den Drachen aufhalten können.«

Arthurs Miene hellte sich auf, und er wechselte einen hoffnungsvollen Blick mit Molly.

»Freilich kann ich euch nur sagen, was zu tun ist. Ausführen müsst ihr es selbst.«

»Oh«, machte Arthur.

»Ich habe vollstes Vertrauen in diese Kinder«, versicherte Mason seinem früheren Arbeitgeber. »Sie haben schon so manches Problem hier auf Ravenstorm bewältigt.«

»Und Königin Hyazinthe hat die Macht, Narzisses Fluch zu brechen.« Lord Trevarren nickte der Seeflink in ihrer Wasserschale feierlich zu.

Hyazinthe runzelte die Stirn, dann glätteten sich ihre Züge. »Ah, ich verstehe!«

»Wir nicht«, warf Molly ein.

»Was Hexenmeister Trevarren meint, ist, dass ich mir die Krone zurückholen muss, Mädchen.«

»Ja, gute Idee, aber –«

»Nein, im wahrsten Sinne des Wortes.« Hyazinthe strich über die scharfe Klinge ihrer Waffe. »Die Krone ist die Quelle der Magie der Finsterflinkkönigin. Verliert sie sie, ist ihre Herrschaft vorbei, und ihre Flüche sind aufgehoben. Wir müssen Narzisse angreifen, nicht den Drachen. Ihre Macht über die Bestie endet, sobald die Krone nicht mehr auf ihrem Kopf ruht.« Und sie konnte es sich nicht verkneifen hinzuzufügen: »Ihrem eitlen, leeren Kopf.«

»Ihre Macht über den Drachen endet?« Arthur trat einen drängenden Schritt auf Hyazinthe zu. »Und ihre anderen Zauber …«

»Alle«, bestätigte Hyazinthe. »Auch der Fluch, mit dem sie deine kleine Schwester belegt hat.«

Arthur atmete erleichtert aus. »Dann müssen wir es versuchen!«

»Natürlich«, sagte Nancy.

Molly war vor Aufregung ganz kurzatmig. »Hyazinthe … Euer Majestät, wir können Euch helfen, Euch die Krone Eurer Schwester zurückzuholen.«

»Nun, eigentlich ist es meine Krone.« Hyazinthe schürzte die Lippen.

»Genau! Aber wenn, müsst Ihr versprechen, die Menschen in Ruhe zu lassen. Keine Flüche oder Angriffe mehr gegen die Bewohner von Ravenstorm!«

»Das versteht sich von selbst«, meinte Hyazinthe mit einem Wedeln ihrer schwimmhautbesetzten Hand. »Ich wollte seit jeher Frieden mit den Menschen. Und den wird es auch geben, solange ich regiere.« Sie schaute auf ihre Waffe. »Also sehr, sehr lange.«

»Eins nach dem anderen«, sagte Arthur düster. »So leicht lässt die Kö– … äh, Narzisse sich die Krone bestimmt nicht wegnehmen. Sie ist mächtig und gerissen, und sie hat Euch schon einmal besiegt, Euer Majestät.«

»Wir brauchen Verbündete«, pflichtete Mason ihm bei. »So viele wie möglich!«

»Nun«, schaltete Miss Badcrumble sich ein, »Molly und Arthur haben hier eine Menge neuer Freunde gewonnen. Mich, zum Beispiel. Meine Magie ist nicht sonderlich stark, aber was ich habe, gehört euch.«

»Und wir stehen natürlich auch an eurer Seite«, fügte Nancy mit einem liebevollen Blick auf Mason hinzu. »Mit einer Armee Wasserspeier!«

»Es gibt eine Schlacht

Molly wirbelte herum, als Jack mit leuchtenden Augen durch die Tür platzte. Oh, oh, dachte sie. »Jack, du sollst doch nicht lauschen!«

»Wenn es eine Schlacht gibt, braucht ihr Sir Percival!« Jack schwenkte seinen Spielzeugritter, dessen unbewegliches Holzgesicht wirklich sehr entschlossen wirkte. »Und ich will auch mithelfen. Immerhin kann ich zaubern!«

»Tatsächlich?« Lord Trevarren trat vor und musterte den Jungen neugierig. Jack starrte ihn mit offenem Mund an und war einen Moment lang sprachlos.

»Boah!«, machte er schließlich. »Sie sind eine Statue! Das ist sogar noch besser als die Fischmenschen.«

»So ist es, so ist es. Aber hast du da gerade gesagt, du könntest zaubern, mein Junge?«

»Ja!« Jack nickte energisch. »Und Lumino kann es bezeugen!«

Verdutzt wich Lord Trevarren einen Schritt zurück. »Lumino? Das Einhorn Lumino?«

»Genau der!«, warf Arthur ein. »Es gab da vor ein paar Tagen einen Zwischenfall mit ihm und einer Schreischlingerin. Und Jack hat recht, was seine magischen Kräfte angeht. Er ist wirklich ein kleiner Zauberer.«

Lord Trevarren klatschte begeistert in die Hände. »Das sind ja wundervolle Neuigkeiten. Lumino, gesund und munter nach all diesen Jahren! Wo ist er?« Er beugte den Kopf und spähte durch die Tür, als würde er erwarten, dass das Einhorn direkt davorstünde.

»Er lebt im Wald«, erklärte Molly. »Und er ist nicht das einzige magische Wesen, das wir hier getroffen haben. Die Trolle waren am Ende auch ganz nett, oder, Arthur? Ich wette, die würden uns helfen.«

»Trolle?« Lord Trevarren wurde ein wenig blass um die Nase.

»Gute Trolle«, beschwichtigte Arthur ihn. »Wir haben einen aus einer Mondsteintruhe befreit. Also, aus Versehen. Aber er war echt lieb!«

»Hm, vielleicht habt ihr recht.« Nachdenklich betrachtete Mason seine helle Marmorhand. Die hatte der Troll ihm als Wiedergutmachung dafür geschenkt, dass er seine steinerne gefressen hatte. »Auf jeden Fall wären sie nützliche Verbündete.«

»Nun.« Lord Trevarren rückte seine Quastenkappe zurecht, schob die Hände in die Ärmel seines Umhangs und schaute fröhlich in die Runde. »Es gibt nur einen Weg, es herauszufinden. Fragen wir sie!«