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Mason tigerte in der Küche auf und ab. Nancy saß neben Miss Badcrumble und hielt der alten Flink die Klauenfinger, während die vor Panik beinahe hyperventilierte. Molly und Arthur sahen einander hilflos an. Jack hingegen platzte fast vor Aufregung.

»Ein Drache«, quiekte er. »Ein echter, lebendiger, feuerspeiender Drache!«

»Nein, Jack«, unterbrach Nancy ihn streng. »Wir werden nicht zulassen, dass der Drache wieder Feuer speien kann.«

»Das Freudenfeuer darf nicht entzündet werden.« Mason blieb abrupt stehen und wirbelte auf dem Absatz herum. »Wir müssen das Koboldfest irgendwie verhindern. Eigentlich müssen wir jede Hitzequelle auf der Insel beseitigen. Schon ein Kaminfeuer könnte dem Drachen einen Energieschub geben.«

»Aber wie sollen wir das anstellen?« Arthur warf die Hände in die Luft. »Die Dorfbewohner glauben uns doch kein Wort! Nicht, bevor es zu spät ist!«

Molly dachte verzweifelt nach. »Wir haben auch deine Eltern dazu gebracht, Ravenstorm zu verlassen, Arthur. Es war nur ein erfundener Antiquitätenhändler nötig. Es muss doch einen Weg geben, wie wir alle Menschen von der Insel bekommen.«

»Dann bräuchte es aber eine sehr viel größere Lüge«, meinte Arthur düster und verschränkte die Hände auf der Tischplatte. Plötzlich riss er den Kopf hoch. »Wartet mal! Miss Badcrumble, Sie haben doch schon einmal alle Erwachsenen hier mit einem Zauber belegt und sie vergessen lassen, dass sie Kinder hatten!«

»Echt?« Jacks Augen weiteten sich. »Sie können zaubern, Miss Badcrumble?«

»Ja«, schaltete Molly sich hastig ein. Jack hatte keine Ahnung, dass er wie alle anderen Kinder der Insel versteinert worden war, und Molly war fest entschlossen, dass das auch so bleiben würde. Er wusste zwar jetzt über die Magie Bescheid, aber sie wollte auf keinen Fall, dass er sich an etwas so Schreckliches erinnerte. »Diese fiese Finsterflinkkönigin hat die Kinder hier in Statuen verwandelt. Deswegen hat Miss Badcrumble ihre Eltern verzaubert, damit sie nicht mehr so traurig sind.«

»Boah«, machte Jack und musterte die alte Flink mit neuer Ehrfurcht. »Total cool! Wann war das denn?«

»Also, Miss Badcrumble«, warf Arthur ein, »könnten Sie nicht einfach noch einen Zauber sprechen? Einen, der bewirkt, dass alle Bewohner die Insel verlassen wollen?«

Miss Badcrumble schnäuzte sich in ein Spitzentaschentuch und blinzelte. »Ich … vielleicht.« Ihre Knopfaugen leuchteten auf. »Ja, ich glaube schon!«

»Wirklich?« Nancy drückte ihr die Hand. »Das würde uns eine Menge Zeit verschaffen. Und wahrscheinlich Hunderte Leben retten!«

»Ja. Nun, wenigstens hoffe ich das.« Aufgeregt ließ Miss Badcrumble den Blick zwischen ihnen hin- und herschweifen. »Nur … es ist eine ziemlich große, äh …« Sie fuhr sich mit der Zunge über die Unterlippe auf der Suche nach dem besten Wort. »Täuschung. Ja, riesengroß. Und sie muss glaubhaft sein, versteht ihr? Dafür brauche ich eure Hilfe.«

»Natürlich!«, rief Arthur. »Aber was haben Sie vor?«

»Es ist bloß eine Idee. Aber es könnte funktionieren. Richtig, die Eltern haben ihre Kinder vergessen. Aber sobald die Kleinen wiederaufgetaucht sind, war der Zauber gebrochen. Ich konnte sie nicht länger täuschen, als sie mit eigenen Augen gesehen haben, was wahr ist.«

»Und das war ja auch gut so«, unterbrach Arthur sie ungeduldig. »Die Eltern haben vergessen, dass sie ihre Kinder je vergessen hatten.«

»Ja, genau. Aber das heißt, ich kann die Inselbewohner nur von einer Lüge überzeugen, wenn sie wahr ist.« Miss Badcrumble errötete. »Gewissermaßen, zumindest. Es muss wirklich so aussehen, als wäre es auf der Insel nicht sicher, damit sie es glauben.«

»Na, das ist doch babyleicht«, erklärte Jack. »Wir zeigen ihnen einfach den Drachen!«

Alle lachten, und Nancy zerzauste dem Jungen das Haar, während der verwirrt von einem zum anderen schaute.

»Das wollen wir gerade vermeiden, Jack. Aber mir fällt da etwas anderes ein …«

 

»Ein typischer Sommertag auf Ravenstorm«, rief Arthur Molly zu. »Es ist eiskalt hier oben!«

Sie standen auf dem Turm der Kirche von Crowsnest, und der Wind pfiff ihnen gnadenlos um die Ohren, trotz der halbhohen Mauer, die die Glocken umgab. Es war später Nachmittag, und die Sonne wurde von einer dichten schwarzen Wolkenwand verdeckt. Regentropfen peitschten ihnen ins Gesicht, doch sie grinsten.

»Ausnahmsweise hilft uns das Wetter mal«, erwiderte Molly lachend. »Besser könnte es nicht sein!«

»Sehr überzeugend für das, was wir vorhaben«, stimmte Arthur zu und strich sich das nasse Haar aus der Stirn. »Meinst du, wir hören das Radio überhaupt bei dem Getöse?«

Molly bückte sich und tätschelte das kleine Digitalgerät unter der Plastikhülle zu ihren Füßen. »Ja. Ich habe die Lautstärke voll aufgedreht. Würde mich nicht wundern, wenn es die ganze Insel hört.«

»Das tut sie sowieso!« Arthur hob beide Daumen. »Mason sagt, dass der Lokalfunk hier bei jedem läuft – vor allem an einem solchen Tag. Und der sendet aus Mrs Stillwaters Wohnzimmer!«

»Im Moment spielt sie noch Countrymusik. Ob sie den Anruf wohl schon gekriegt hat? Der Wetterbericht kam vor fünf Minuten.«

»Es wird funktionieren, ganz bestimmt.« Arthur schaute erwartungsvoll zu den Glocken über ihren Köpfen. »Warte auf das Signal!«

Molly spähte durch den Nieselregen und die düsteren Wolken und suchte den Horizont ab. Dabei tippte sie ungeduldig mit den Fingern im Takt zur Musik. Als sie die Klippen erkannte, schlug ihr das Herz bis zum Hals. Was, wenn der Drache genau jetzt aus seinem Versteck gekrochen kam? Aber kaltes Regenwetter mochten Drachen vermutlich nicht besonders. Ravenstorm war heute wirklich auf ihrer Seite.

Sie hatte gerade den Mund geöffnet, um es Arthur zu sagen, als sie seine Miene bemerkte. Ihr Cousin war sehr still geworden. Er kaute auf seiner Unterlippe herum, und sein Gesicht war blass und angespannt.

»Alles okay mit dir?«, fragte Molly.

Arthur zuckte mit den Schultern. »Es geht mir gut. Ehrlich!« Er zögerte. »Ich mache mir bloß Sorgen um Harriet.«

»Immerhin kümmert sich die Königin gut um sie.«

»Aber meine Schwester ist trotzdem ein fieser kleiner Flink, Molly. Und ich habe Angst, dass wir sie vielleicht nie wiederbekommen!« Mutlos starrte Arthur in Richtung Kliff und blinzelte heftig. »Ich hätte wissen müssen, dass die Königin uns reinlegt. Wir sind ihr voll auf den Leim gegangen. Sie hatte nie vor, uns Harriet zu geben, und sie wollte auch diese Muschel nicht haben. Das war alles nur Theater, damit wir den Drachen für sie aufwecken!«

Molly nahm ihren Cousin fest in den Arm. »Nicht verzweifeln, Arthur. Wir holen Harriet zurück, verlass dich drauf!«

Arthur schloss die Augen, dann riss er sie plötzlich wieder auf und fixierte das Radio. »Die Musik hat aufgehört!«

Sie kauerten sich vor das Gerät. Mrs Stillwaters Stimme drang aus den Lautsprechern.

»Wir unterbrechen dieses Lied für eine Eilmeldung der Küstenwache und des Wetterdienstes …«

Molly und Arthur wechselten einen aufgeregten Blick. »Es geht los!«

»Ich wiederhole: eine Eilmeldung der Küstenwache, gerade frisch reingekommen hier auf Ravenstorm FM Mrs Stillwater konnte die nervöse Erregung kaum unterdrücken.

Es folgte eine kurze Pause, bevor die knisternde Aufnahme einer anderen Frauenstimme abgespielt wurde.

»Dies ist eine Unwetterwarnung für die Insel Ravenstorm. Innerhalb der nächsten Stunden sind orkanartige Sturmböen und starker Regen zu erwarten. Es kann zu gefährlichen Überschwemmungen kommen. Alle Bewohner werden aufgefordert, sich unverzüglich zu den Evakuierungsbooten an den drei Sammelpunkten zu begeben. Ich wiederhole: Alle Bewohner werden aufgefordert, die Insel zu verlassen, bis sich die Lage beruhigt. Bitte nehmen Sie nur das Nötigste mit und begeben sich sofort zu den Evakuierungsbooten.«

»Sie klingt echt überzeugend, oder?«, sagte Molly bewundernd.

»Nancy ist die Beste«, bestätigte Arthur und brachte sogar ein kleines Lächeln zustande. »Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich jetzt selbst zu den Booten rennen.«

»Und dank Miss Badcrumbles Zauber glauben die Dorfbewohner ihr aufs Wort«, fügte Molly fröhlich hinzu.

»Oh, was für ein Pech!« Mrs Stillwaters klare, knisterfreie Stimme war zurück auf Sendung. »Ich fürchte, dann muss das Koboldfest wohl verschoben werden. Für alle, die gerade erst eingeschaltet haben: Das war eine Unwetterwarnung des Wetterdienstes über die Crowsnest Küstenwache. Bitte begeben Sie sich unverzüglich zu den Evakuierungsbooten an einem der drei Sammelpunkte. Wir von Ravenstorm FM verabschieden uns für den Moment – wir sind so schnell wie möglich wieder für Sie da. Passen Sie auf sich auf!«

Ein Klicken ertönte, dann übertrug der Sender Nancys gefälschte Unwetterwarnung in Dauerschleife.

»Okay«, sagte Molly grinsend. »Legen wir los!«

Sie und Arthur setzten die Gehörschützer auf, die Mason ihnen gegeben hatte, und packten die beiden dicken Glockenseile. Mit einem markerschütternden Dröhnen ließ das Geläut den ersten Schlag erklingen. Molly zuckte zusammen. Der gesamte Turm schien zu wackeln, doch sie zogen weiter und weiter, bis das Getöse selbst für ihre geschützten Ohren betäubend war. Unmelodisch, aber wirkungsvoll schallten die Glocken durch Crowsnest. Innerhalb weniger Minuten sah Molly die ersten Leute aus ihren Häusern hasten, Kinder und Haustiere und kleine Reisekoffer im Schlepptau. Türen wurden zugesperrt, Garagentore verriegelt, und das anfängliche Rinnsal fliehender Dorfbewohner schwoll zu einem reißenden Strom an, der in Richtung Seegrasgasse und Hafen floss.

Miss Badcrumbles Zauber hat funktioniert! Molly zerrte am Glockenstrang, bis ihre Arme schmerzten und ihre Knochen vibrierten. Das war der letzte Teil des Plans. Die alten Warnglocken oben im Kirchturm!, hatte die Flink ausgerufen. Die werden den Zauber besiegeln. Sorgt dafür, dass sie direkt nach Nancys Unwetterwarnung läuten. Du meine Güte! Ich fühle mich so ungezogen!

Molly musste grinsen, als sie daran zurückdachte. Mittlerweile zitterten ihre Muskeln vor Anstrengung, aber bis auf ein paar Nachzügler waren die Straßen unter ihnen ohnehin leer. Ganz am Ende der Seegrasgasse konnte Molly Sergeant Garland erkennen, die in einer grellgelben Warnschutzjacke und mit Melody an der Hand die Dorfbewohner zu den Booten dirigierte. Als alle verteilt waren, nahm sie ihre Tochter auf den Arm und schaute sich ein letztes Mal prüfend um, bevor sie den anderen folgte.

Molly ließ das Glockenseil los, sank gegen die niedrige Wand und lockerte zufrieden die Arme.

Arthur lehnte sich neben sie, und als der Nachhall der Glocken allmählich verklang, setzten sie die Gehörschützer ab.

»Alles leergefegt!« Arthur spähte hinunter auf das verlassene Dorf.

»Miss Badcrumble hatte recht!« Molly schüttelte ungläubig den Kopf. »Anscheinend ist wirklich keiner auf die Idee gekommen, die Unwetterwarnung auf der Internetseite des Wetterdienstes zu überprüfen.«

»Wenn sie es schafft, dass die Dorfbewohner ihre eigenen Kinder vergessen, dann ist so was wie das Internet doch ein Klacks.« Arthur klatschte in die Hände. »Da hat sich jemand ein Riesenglas warme Milch verdient!«

»Aber ich hab schon ein schlechtes Gewissen, dass wir alle so in Panik versetzt haben«, sagte Molly reumütig. »Hoffentlich wird die Überfahrt zum Festland nicht allzu rau.«

»Besser als von einem Drachen gefressen zu werden«, bemerkte Arthur trocken.

»Mhmm. Deswegen wollte ich ja auch, dass Jack mitfährt.« Besorgt legte Molly die Stirn in Falten. »Aber Miss Badcrumble meint, das würde den Zauber brechen, weil er vom Drachen weiß. Und das würde sich auf jeden in seinem Boot übertragen.«

»Daran können wir nun mal nichts ändern«, tröstete Arthur sie. »Wir passen gut auf ihn auf, Molly. Dem kleinen Zauberer passiert schon nichts, wie immer.«

Ein Kopf tauchte auf der Kirchturmtreppe auf: Nancy. Der böige Wind wehte ihr das kupferrote Haar ins Gesicht. »Hallo! Gute Arbeit, ihr zwei.«

»Sind alle weg?«, fragte Molly. »Deine Unwetterwarnung klang richtig echt!«

»Jep, keiner mehr da.« Nancy nickte. »Der erste Teil unseres Plans hat wunderbar funktioniert. Kommt mit runter und wärmt euch auf.«

»Endlich!« Arthur rieb sich die Arme. »Jetzt müssen wir uns nur noch diesen Drachen vom Hals schaffen. Das sollte ja ein Kinderspiel werden, oder? Und dann können wir uns darauf konzentrieren, meine Schwester zu retten!«

Molly erwiderte das schiefe Lächeln ihres Cousins, aber ihr Herz fühlte sich an wie ein Eisklotz, und das lag nicht nur am kalten Wind.

Wie zum Teufel bringt man einen Drachen dazu, friedlich zu verschwinden?