ACHILLESFERSE
Raeseng wurde in einer Mülltonne gefunden. Aber wer weiß? Vielleicht war er in dieser Mülltonne geboren worden.
Wenn Old Raccoon, der in den letzten siebenundzwanzig Jahren Raesengs Pflegevater gewesen war, getrunken hatte, zog er Raeseng gern mit seiner Herkunft auf. Dann sagte der Alte Waschbär, oder besser Old Raccoon, wie alle in der Branche ihn nannten: »Du wurdest in einer Mülltonne vor einem Nonnenkloster gefunden. Vielleicht war die Mülltonne auch deine Mutter. Schwer zu sagen. So oder so ist es ziemlich erbärmlich. Aber es hat auch sein Gutes. Eine Mülltonne, die von Nonnen benutzt wird, dürfte weit und breit die sauberste Mülltonne sein.« Raeseng ärgerte sich nicht über Old Raccoons Spott. Er sagte sich, von einer sauberen Mülltonne geboren zu werden sei immer noch besser, als von der Sorte Eltern geboren zu werden, die ihr Baby in den Müll warfen.
Raeseng blieb im Waisenhaus des Klosters, bis er vier war; dann wurde er von Old Raccoon adoptiert und lebte in dessen Bibliothek. Wäre er weiter in dem Waisenhaus aufgewachsen, wo der göttliche Segen wie Frühlingssonnenschein herabströmte und liebevolle Nonnen sich der sorgsamen Aufzucht der Waisenkinder widmeten, hätte Raesengs Leben vielleicht einen ganz anderen Verlauf genommen. So wuchs er in einer Bibliothek auf, in der es von Berufskillern, Auftragsmördern und Kopfgeldjägern nur so wimmelte. Ganz so, wie eine Pflanze dort wächst, wo sie Wurzeln schlägt, entspringen auch alle Tragödien des Lebens an dem Ort, an dem man zum ersten Mal Fuß fasst. Und Raeseng war viel zu jung, als dass er den Ort wieder verlassen hätte, wo er einmal Wurzeln geschlagen hatte.
An seinem neunten Geburtstag hatte Raeseng es sich in Old Raccoons Rattan-Schaukelstuhl bequem gemacht und las Homers Epen . Paris, der idiotische Prinz von Troja, zog eben seine Bogensehne zurück, um einen Pfeil in die Ferse des Achilles zu jagen, des Helden, den Raeseng im Laufe seiner Lektüre ins Herz geschlossen hatte. Wie man weiß, war dies ein äußerst spannender Augenblick, und so bemerkte Raeseng nichts davon, dass Old Raccoon schon seit einer ganzen Weile hinter ihm stand und ihn beim Lesen beobachtete. Old Raccoon sah wütend aus.
»Wer hat dir das Lesen beigebracht?«
Old Raccoon hatte Raeseng nie in die Schule geschickt. Wenn Raeseng fragte: »Wieso gehe ich nicht in die Schule wie die anderen Kinder?«, hatte Old Raccoon erwidert: »Weil du in der Schule nichts über das Leben lernst.« In diesem Punkt hatte Old Raccoon recht. Raeseng war nie zur Schule gegangen, aber in den inzwischen zweiunddreißig Jahren seines Lebens hatte das bei ihm nie zu irgendwelchen Problemen geführt. Probleme? Ha! Was für Probleme hätte er überhaupt haben sollen? Deshalb war Old Raccoon vollkommen perplex, als er sah, wie Raeseng, der nicht einen einzigen Tag in der Schule verbracht hatte, vor seiner Nase ein Buch las. Schlimmer noch, wie sein Gesichtsausdruck bewies, empfand er es als Verrat, dass Raeseng lesen konnte. Raeseng starrte ihn an, ohne etwas zu sagen, und Old Raccoon schaltete die tiefe, dunkle Stimme ein, die er benutzte, um Leute einzuschüchtern.
»Ich habe dich gefragt: Wer. Hat. Dir. Das. Lesen. Beigebracht?«
Seine Stimme klang beängstigend, als werde er die Person schon erwischen, die Raeseng das Lesen beigebracht hatte, und als werde er demjenigen auf der Stelle etwas Furchtbares antun. Mit dünner, zittriger Stimme antwortete Raeseng, niemand habe es ihm beigebracht. Old Raccoon verzog keine Miene; er glaubte ihm kein Wort. Also erklärte Raeseng, er habe aus Bilderbüchern Lesen gelernt. Da schlug ihm Old Raccoon hart ins Gesicht.
Mit Mühe unterdrückte Raeseng ein Schluchzen und schwor, er habe das Lesen wirklich aus Bilderbüchern gelernt. Und das war die Wahrheit. Nachdem er es geschafft hatte, sich durch die zwanzigtausend Bücher in dem düsteren Labyrinth der Bibliothek des Old Raccoon zu wühlen und die wenigen Bücher zu finden, die das Anschauen lohnten (eine Comic-Darstellung der amerikanischen Sklavenhaltergesellschaft, eine billige Illustrierte für Erwachsene und ein Bilderbuch mit zahlreichen Eselsohren voller Giraffen und Nashörner), hatte er die Funktionsweise des koreanischen Alphabets entziffert, indem er Bilder und Wörter einander zugeordnet hatte. Raeseng zeigte auf den Stapel Bilderbücher in einer Ecke des Arbeitszimmers. Old Raccoon humpelte auf seinem lahmen Bein hin und begutachtete jedes einzelne. Er wirkte entgeistert; offenbar fragte er sich, wie um alles in der Welt diese minderwertigen Bücher den Weg in seine Bibliothek gefunden hatten. Er kam zurückgehinkt und starrte Raeseng durchdringend und immer noch argwöhnisch an und riss ihm das gebundene Exemplar von Homers Epen aus der Hand. Sein Blick wanderte zwischen dem Buch und Raeseng hin und her, es schien wie eine Ewigkeit.
»Das Lesen von Büchern verurteilt dich zu einem Leben voller Angst und Scham. Hast du jetzt immer noch Lust dazu?«
Raeseng starrte ihn ausdruckslos an – ausdrucksloses Starren war alles, wozu er fähig war –, und er hatte keine Ahnung, wovon Old Raccoon da redete. Angst und Scham? Als ob ein Neunjähriger sich unter so einem Leben etwas hätte vorstellen können! Das einzige Leben, das ein Junge, der gerade neun geworden war, sich vorstellen konnte, war wie ein Essen, das jemand anders zubereitet hatte und über das man sich beschwerte. Ein Leben, in dem beliebige Ereignisse einfach passierten, unaufhaltsam wie eine Zwiebelscheibe, die vom Sandwich rutschte. Was Old Raccoon da sagte, klang nicht, als habe er eine Wahl, sondern eher wie eine Drohung oder wie ein Fluch. Es war wie damals, als Gott zu Adam und Eva sagte, wenn ihr diesen Apfel esst, werdet ihr aus dem Paradies geworfen – wollt ihr ihn also immer noch essen? Raeseng hatte Angst. Er wusste nicht, was diese Entscheidung zu bedeuten hatte. Aber Old Raccoon starrte ihn unverwandt an und wartete auf eine Antwort. Sollte er den Apfel essen oder nicht?
Schließlich hob Raeseng steif den Kopf und nahm allen Mut zusammen, er ballte die Fäuste, und sein Gesicht spiegelte seine Entschlossenheit, als er sagte: »Ich will lesen. Gib mir mein Buch zurück.«
Old Raccoon starrte den Jungen an, der die Zähne zusammenbiss und seine Tränen nur mit Mühe zurückhielt, und er gab ihm Homers Epen zurück.
Raesengs Forderung nach dem Buch hatte nichts mit dem tatsächlichen Verlangen zu tun, zu lesen oder Old Raccoon die Stirn zu bieten. Sie ergab sich einfach so, weil er keinen Schimmer hatte, was die Sache mit dem Leben voller Angst und Scham bedeuten sollte.
Als Old Raccoon gegangen war, wischte Raeseng sich die Tränen ab, die erst jetzt zu fließen begannen, und rollte sich in dem Rattan-Schaukelstuhl kugelrund zusammen. Er schaute sich in Old Raccoons Arbeitszimmer um, in dem es früh dunkel wurde, weil die Fenster nach Nordwesten gingen; er betrachtete die Bücher, die sich in einer komplexen und undurchschaubaren Ordnung bis zur Decke türmten, und das Labyrinth der Regale, still markiert vom Staub, und er fragte sich, warum Old Raccoon so aufgebracht darüber war, dass er lesen konnte. Noch jetzt, mit zweiunddreißig Jahren, sah er Old Raccoon vor sich, der den größten Teil seines Lebens mit einem Buch in der Hand in der Ecke der Bibliothek gesessen hatte, und er konnte es nicht begreifen. Für den Neunjährigen war es, als habe ihm einer seiner Freunde, der die Tasche voller Süßigkeiten hatte, sein einziges Bonbon aus dem Mund genommen.
»Du blöder alter Furz, ich hoffe, du kriegst die Scheißerei!«
Raeseng schickte Old Raccoon eine Verwünschung an den Hals und wischte sich mit dem Handrücken die letzten Tränen aus dem Gesicht. Dann schlug er sein Buch wieder auf. Was hätte er sonst tun sollen? Lesen war jetzt nicht mehr nur ein einfacher Zeitvertreib. Es war von nun an sein hohes und unveräußerliches Recht, ein Recht, das er teuer bezahlt hatte, da es schließlich bedeutete, geschlagen zu werden und zu einem Leben voller Angst und Scham verdammt zu sein. Raeseng vertiefte sich wieder in die Szene in Homers Epen , in der Paris, der idiotische Prinz von Troja, die Bogensehne spannt. Die Szene, in der der Pfeil die Sehne verlässt und auf seinen Helden Achilles zuschwirrt. Die Szene, in der dieser verfluchte Pfeil die Ferse des Achilles durchbohrt.
Raeseng zitterte, als Achilles auf dem Gipfel des Hügels von Hisarlik verblutete. Er war sich so sicher gewesen, dass sein Held den verdammten Pfeil aus der Ferse ziehen und auf der Stelle den eigenen Speer durch das Herz des Paris rammen würde. Aber das Undenkbare war geschehen. Was nur war schiefgegangen? Wie konnte der Sohn eines Gottes sterben? Wie konnte ein Held mit einem unsterblichen Körper, unbezwingbar für jeden Pfeil, undurchdringlich für jeden Speer, von einem Schwachkopf wie Paris vernichtet werden und, schlimmer noch, wie ein Schwachkopf sterben , weil er diese eine verwundbare Stelle, nicht größer als seine Handfläche, nicht geschützt hatte? Raeseng las die Todesszene des Achilles immer und immer wieder, aber er fand kein Wort dazu, dass Achilles wieder zum Leben erwachte.
O nein! Dieser dumme Paris hat Achilles wirklich getötet!
Gedankenverloren saß Raeseng in Old Raccoons Arbeitszimmer, bis es stockfinster geworden war. Er brachte keinen Ton heraus, er konnte sich nicht rühren. Ab und zu knarrte der Schaukelstuhl. Die Bücher verschwanden in der Dunkelheit, und die Seiten raschelten wie trockenes Laub. Raeseng hätte nur die Hand ausstrecken müssen, um den Lichtschalter zu erreichen, aber er kam nicht auf den Gedanken, Licht zu machen. Zitternd saß er im Dunkeln wie ein Kind, das in einer Höhle voller Insekten gefangen war. Das Leben ergab keinen Sinn. Warum machte Achilles sich die Mühe, seinen Körper in eine Rüstung zu hüllen, wenn er nur seine linke Ferse hätte schützen müssen, seine einzige verwundbare Stelle? Dämlicher Idiot – selbst ein Neunjähriger hätte es besser gewusst. Der Gedanke, dass Achilles es versäumt hatte, ausgerechnet seine gefährdete Schwachstelle zu schützen, brachte ihn auf die Palme: Diesen Tod konnte er seinem Helden nicht verzeihen.
Raeseng hockte weinend im Dunkeln. Auf jeder Seite in diesem Meer aus Büchern der Bibliothek, deren Lektüre er entweder nicht erwarten konnte oder irgendwann aus lauter Langeweile in Angriff nehmen würde, fanden sich Helden und schöne, bezaubernde Frauen, unzählige Menschen, die sich mühten, Strapazen und Niederlagen zu überwinden und ihre Ziele zu erreichen, und die alle durch den Pfeil eines Idioten starben, weil sie es versäumt hatten, ihre eine kleine Schwachstelle zu schützen. Raeseng erkannte schockiert, wie tückisch das Leben war. Ganz gleich, wie hoch man aufstieg, wie unverwundbar man war, wie fest man sich an die eigene Größe klammerte – alles konnte durch einen winzigen Fehler im Bruchteil einer Sekunde verschwinden.
Ein überwältigendes Misstrauen gegenüber dem Leben überkam ihn. Jeden Augenblick konnte er in eine der zahllosen Fallen tappen, die auf ihn warteten. Sein zartes Leben konnte eines Tages von einem so schweren Unglück getroffen werden, dass alles auf den Kopf gestellt würde, und ein Grauen erfasste ihn, das er nicht abschütteln konnte, sosehr er auch dagegen ankämpfte. Raeseng war besessen von der seltsamen und ganz ungewohnten Überzeugung, dass alles, was ihm lieb und teuer war, im Handumdrehen zerfallen würde. Er fühlte sich leer, traurig und mutterseelenallein. An diesem Abend saß Raeseng noch lange in Old Raccoons Bibliothek. Die Tränen flossen unaufhörlich, und er weinte sich in Old Raccoons Schaukelstuhl in den Schlaf.