BIBLIOTHEK »DOG HOUSE«
Natürlich waren in Wirklichkeit keine Hunde da in dieser Hundehütte namens »Dog House«.
Old Raccoon war kaum jemand, der in einer Bibliothek Hunde hielt. Er hatte seine Bibliothek »Dog House« getauft, um sich über Leute lustig zu machen, die damit angaben, dass sie Bibliotheken besuchten, die aber nie auch nur ein einziges Buch aufschlugen. Vielleicht machte er sich aber auch über sich selbst lustig, weil er gut sechzig Jahre seines Lebens eine Bibliothek gehütet hatte, die meistens leer war. Er hatte sogar eine große Tafel über den Eingang gehängt, auf der »The Dog House« stand. Leute, die zum ersten Mal hier waren, schauten verblüfft zu der Tafel hoch und legten fragend den Kopf schräg, oder sie lachten. Im nächsten Augenblick zogen sie erbost die Stirn kraus.
»Moment mal, will er sagen, wir sind Hunde? Verdammt, was soll denn das?«
Was hatte er sich dabei gedacht, als er diese Tafel über den Eingang seiner Bibliothek hängte? Raeseng fand es zynisch, die typische Reaktion eines Intellektuellen, traditionsverhaftet und verkopft und lebenslänglich eingesperrt in unzugängliche Räume, deren Wände mit Büchern gepflastert waren. Vielleicht war es auch einfach nur Old Raccoons Art, der Welt die Zunge zu zeigen. Einer Welt, die einen jungen Bibliothekar, der, trotz seines Hinkens infolge einer Polio-Erkrankung in seiner Kindheit, ein einfaches, glückliches Leben mit seinen Büchern führte, einfach am Kragen gepackt und viele, viele Jahre lang als Mittelsmann für Plotter und Berufskiller eingespannt hatte. Was auch immer der Grund sein mochte, die Tafel bereitete Old Racoon ein schier endloses Vergnügen.
Raeseng fand es kindisch. Wenn es seine Bibliothek gewesen wäre, hätte er die Tafel niemals aufgehängt. Aber so läuft das nicht im Leben, und hätte er sich durch eine merkwürdige Kombination von komplizierten und hinterlistigen Bestimmungen und gut getimter Erpressung (als würde jemand einen andern zu einer so sinnlosen Aktion erpressen) gezwungen gesehen, diese Tafel aufzuhängen, dann hätte er doch wenigstens ein paar echte Hunde angeschafft und dazu Bücher über Hunde aus der ganzen Welt.
Er stellte sich vor, wie ein junger Wissenschaftler ihn mit hochgezogenen Brauen fragte: »Aber Herr Raeseng, was für ein Name ist das für eine Bibliothek? ›Dog House‹? Wollen Sie die hehre Geisteswelt der gesamten Menschheit beleidigen?«
Raeseng sah sich dem jungen Wissenschaftler mit höflichem und würdevollem Lächeln antworten: »Aber natürlich nicht, junger Mann. Ich habe nicht die leiseste Absicht, der hehren Geisteswelt der gesamten Menschheit den Stinkefinger zu zeigen. Wie um alles in der Welt kommen Sie darauf? Vielleicht sollten wir bei Ihrem Vorurteil beginnen, Bücher und Hunde gehörten nicht zusammen.« Dabei würde er auf die Hunde zeigen, die entspannt zwischen den vollen Regalen herumstromerten. »Schauen Sie diese Hunde an. Sind sie nicht prachtvoll? Und gleich hier drüben, von D-11 bis D-43, stehen alle möglichen Bücher zum Thema Hunde. Diese Bibliothek besitzt die größte Sammlung von Hundebüchern auf der ganzen Welt. Wir haben Bücher über Chihuahuas, Collies, Schäferhunde, Greyhounds, Bernhardiner und Retriever. Wir haben Bücher über jede einzelne Hunderasse der Welt. Und nicht nur das, in dieser Bibliothek gibt es auch Bücher über Hundefutter, Hundezucht, Hunderassen, rassenübergreifende Konflikte und vieles mehr. Man könnte sogar sagen, diese Bibliothek ist das spirituelle Herz der Hundewelt. Der Vatikan der Hunde, wenn Sie so wollen.«
Jetzt endlich würde der junge Wissenschaftler nicken. »Ah ja, jetzt verstehe ich! Ihre Arbeit ist sehr beeindruckend!«
»Eine heilige Aufgabe.«
Der Vatikan der Hunde. Wäre das nicht etwas? Je mehr er darüber nachdachte, desto mehr kam es ihm so vor, als würden sowohl die Hunde als auch die Bücher es zu schätzen wissen und sich dadurch erhöht fühlen. Aber Old Raccoon hatte eine so elegante Metapher nicht im Sinn gehabt. Stattdessen war der Begriff »Dog House«, den er gewählt hatte, ein Hinweis auf die Tatsache, dass die Bibliothek (gegründet in den Zwanzigerjahren, als das kaiserliche Japan die Bezeichnung seiner Kolonisierungsstrategie änderte und nicht mehr von militärischer Herrschaft, sondern von der sogenannten kulturellen Herrschaft sprach) jahrzehntelang im Schatten der autoritären Regierung überlebt hatte, dass sie ihre eigene schändliche und obszöne Rolle als Dreh- und Angelpunkt jeder größeren Ermordung in der modernen Geschichte Südkoreas gespielt hatte und dass er Abscheu gegen sich selbst empfand, weil er in dieser schändlichen Vergangenheit eine Rolle gespielt hatte, denn dieses »Dog House« war in manchen Redensarten, die auf der Welt üblich waren, der Ort, wo einer zu büßen hatte, der in Ungnade gefallen war.
Aber Old Raccoon hatte dieses Leben selbst gewählt. Warum also musste er auf armen unschuldigen Hunden herumhacken, obwohl er sich so entschieden hatte? Mal im Ernst, was hatten Hunde jemals falsch gemacht?
Um Punkt zehn Uhr vormittags betrat Raeseng die Bibliothek namens »Dog House«.
Sie war leer wie immer. Die einzige Angestellte, eine schielende Bibliothekarin, begrüßte ihn, aber er hätte nicht zu sagen vermocht, wohin sie blickte.
»Guten Morgen!«
Ihre muntere Stimme hallte wie ein Lerchenruf unter der gewölbten Decke wider. Der schrille Ton ging ihm jedes Mal durch und durch. Er war viel zu fröhlich für ein Gebäude, das während der Kolonialzeit von einem japanischen Baumeister errichtet und im darauffolgenden Jahrhundert dem Verfall überlassen worden war. Er nickte der Bibliothekarin einen knappen Gruß zu und nahm geradewegs Kurs auf das Arbeitszimmer von Old Raccoon.
»Er hat Besuch«, sagte sie und stand auf.
Raeseng blieb stehen. Wer kam denn so früh mit einem Auftrag in die Bibliothek?
»Besuch?«, wiederholte er. »Wer ist es denn?«
»Der große, elegant aussehende Herr. Der wirklich höflich ist.«
Groß, elegant und höflich? Jemand mit diesen Eigenschaften hätte keinen Grund, sich hier herumzudrücken. Verwirrt legte Raeseng den Kopf schräg.
Ihre Stimme klang jetzt ungeduldig, als die Bibliothekarin hinzufügte: »Sie wissen doch, der Mann, der schöne Anzüge trägt und die ganze Zeit wirklich cool und würdevoll zugleich klingt.«
Raeseng schnaubte. Sie meinte Hanja. Die schielende Bibliothekarin fand Hanja höflich und elegant und cool und würdevoll. Und zwar anscheinend dauernd! Wie um alles in der Welt kam sie denn darauf? Andererseits, vielleicht war ja Raeseng derjenige mit den falschen Vorstellungen. Hanja war schließlich reich, er hatte ein nobles Diplom aus Stanford und benahm sich ständig wie ein Gentleman. Raeseng konnte sich zwar nicht mit dem Gedanken anfreunden, dass der Kerl gut aussah, doch dass er groß war, konnte er nicht leugnen. Raeseng nickte und wandte sich wieder Old Raccoons Arbeitszimmer zu.
Da kam die Bibliothekarin herbeigelaufen und hielt ihn am Arm fest. »Er hat mir gesagt, ich soll niemanden hereinlassen. Nicht heute.«
Sie betonte die beiden letzten Worte, als komme dieser Tag nur einmal im Leben vor, und sie hielt seinen Arm fest umklammert. Er richtete den Blick vielsagend auf ihre Hand und ließ ihn langsam zu ihrem Gesicht hinaufwandern. Sie ließ ihn los.
»Wer von denen hat Ihnen gesagt, Sie sollen niemanden reinlassen? Old Raccoon oder Hanja?«
Sie zögerte. »Hanja. Aber Herr Raccoon stand direkt daneben, als er es sagte.«
Raeseng starrte die geschlossene Tür an. In Anbetracht seiner frühen Ankunft musste Hanja ziemlich wütend über die Änderungen des Plans sein, die Old Raccoon vorgenommen hatte. Raeseng stellte die Ahornschatulle mit der Asche des alten Mannes und des Hundes auf den runden Tisch vor dem Schreibtisch der Bibliothekarin. Er setzte sich hin und holte eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche. Kaum hatte er sich eine angezündet, schaute die Bibliothekarin ihn stirnrunzelnd an.
Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und fing an zu stricken. Das bedeutete wohl, sie hatte ihre Arbeit für heute erledigt, dachte er.
Die Wolle war rot. Sie war noch nicht so weit gekommen, dass er erkennen konnte, was sie da strickte. Er hatte noch nie gesehen, dass sie ein Buch las. Nicht einmal Zeitungen oder Illustrierte. Sie saß einfach allein an ihrem Schreibtisch in der menschenleeren Bibliothek, in der niemals ein Buch gelesen oder ausgeliehen und natürlich auch nicht zurückgebracht wurde, und vertrieb sich die Zeit mit Stricken oder Kreuzstichstickereien, oder sie lackierte sich die Fingernägel in allen Farben des Regenbogens.
»Was ist das?«, fragte sie und hielt plötzlich mitten in einer Strickreihe inne. »Japanische Süßigkeiten?«
Sie schaute die Schatulle an, die er auf den Tisch gestellt hatte. Der Kasten aus Ahornholz war in ein weißes Tuch gewickelt und sah unverkennbar aus wie eine hölzerne Urne. Raeseng hatte keine Ahnung, wie sie auf die Idee kam, es könnte sich um Süßigkeiten handeln.
»Ja, das sind japanische Süßigkeiten. Aber die sind nicht für Sie. Also Pfoten weg.«
Sie schob die Unterlippe vor, die mit einer dicken Schicht leuchtend roten Lippenstifts bedeckt war. Ein Muttermal dicht über dem Mund schien übel zu nehmen, dass es nicht auf dem Gesicht Marilyn Monroes geboren war. Sie hatte ihre Augen ringsum mit einem dunkelroten Schatten umgeben, und ihre Brauen waren rasiert und durch zwei halbmondförmige Tattoos ersetzt worden. Die Wirkung war, dass sie gleichzeitig merkwürdig und einfältig aussah. Dabei war sie, vom Schielen einmal abgesehen, gar nicht so übel.
Sie strickte weiter und schien zu vergessen, dass Raeseng vor ihr saß. Sie strickte jetzt schneller, aber die Art, wie sie arbeitete, hatte etwas Nachlässiges und Unsicheres an sich. Wahrscheinlich konnte sie die Maschen nicht genau sehen.
»Sie sollten sich operieren lassen«, bemerkte Raeseng.
Sie sah ihn verwirrt an.
»Ich habe gesagt, Sie sollten sich operieren lassen.«
»Was soll ich operieren lassen?«
»Ihre Augen. Damit Sie nicht mehr schielen. Angeblich ist das heute ein ganz einfaches Verfahren. Kostet nicht mal viel.«
Sie sah verblüfft aus, als wollte sie sagen: Hast du nicht genug Probleme, du Idiot? Kümmere dich nicht um meine Angelegenheiten . Vielleicht dachte sie auch: Von mir aus können meine Augen sich nach hinten verdrehen. Was interessiert es mich, was ein Loser wie du darüber denkt?
»Es geht doch niemanden was an, wohin ich gucke«, sagte sie schnippisch. Sie funkelte ihn lange und unverwandt an, und diesmal war es klar, was ihr Blick sagte: Ich warne dich. Solche Unverschämtheiten dulde ich nicht. Du hast mich sehr wütend gemacht . Aber solange ein Auge zur Decke und das andere auf die Bücherstapel links von ihr gerichtet war, wirkte diese Warnung eher komisch als streng. Nicht, dass Raeseng sie nicht ernst genommen hätte. Aber es ist praktisch unmöglich, eine ernsthafte Drohung auszusprechen und dabei gleichzeitig zu Boden und zur Decke zu schauen.
»Es tut mir leid«, sagte er. »Ich hab’s nicht so gemeint.«
Sie antwortete nicht, sondern murmelte nur etwas Unverständliches und strickte weiter. Aber der Ärger stand ihr ins Gesicht geschrieben. Wahrscheinlich hatte sie gesagt, er solle sich verpissen.
Old Raccoon hatte eine Menge Bibliothekarinnen verschlissen. Die Gründe für ihre Entlassung waren meistens ziemlich lachhaft. Er hatte Bibliothekarinnen gefeuert, weil ein Buch im falschen Regal stand, weil eine zwanzig Jahre alte Ausgabe einen winzigen Riss im Schutzumschlag hatte, der seit über einem Monat nicht repariert worden war, oder weil auf einem der über neunhundert Borde zu viel Staub lag. Eine hatte er sogar rausgeworfen, weil sie eine Kaffeetasse auf ein Buch gestellt hatte. Natürlich gab es auch viele, die von sich aus gegangen waren. Eine hatte sich dazu entschlossen, weil nicht genug Arbeit da war, wie sie sagte, und eine andere behauptete, die Bibliothek sei so trostlos, dass sie das Gefühl habe zu ersticken. Die nächste erklärte, so ganz allein in der stets leeren Bibliothek fühle sie sich wie die Hauptdarstellerin in einem Horrorfilm. Und eine Bibliothekarin gab einen rätselhaften Grund für ihre Kündigung an: Seit sie einen Fuß dort hineingesetzt habe, sei sie außerstande gewesen, auch nur einen einzigen Satz zu lesen.
Raeseng war mit den meisten Bibliothekarinnen gut ausgekommen, ganz gleich, wie lange sie durchgehalten hatten. Er betrachtete sie als Freundinnen – und tatsächlich waren sie seine einzigen Freunde, mit denen er über Bücher sprechen konnte. Ihnen konnte er die Gedanken und Gefühle anvertrauen, die Bücher in ihm weckten. Vielleicht empfand er deshalb im Gespräch mit Bibliothekarinnen so etwas wie Verwandtschaft und Seelenfrieden.
Meistens dauerte es nicht lange, bis die Bibliothekarinnen anfingen, sich über die Eigentümlichkeiten der Bibliothek zu wundern. Sie nutzten einen Augenblick, in dem Old Raccoon nicht da war, und erkundigten sich vorsichtig bei Raeseng, was der Zweck der Bibliothek sei und zu welcher Einrichtung sie gehörte. Jeder, der länger als einen Monat an diesem seltsamen Ort mit seinem griesgrämigen Besitzer arbeitete, fing naturgemäß an, sich zu wundern. Immer wenn er gefragt wurde, erklärte Raeseng, es sei eine Bibliothek für hochrangige Regierungsbeamte, zu der nur Mitglieder Zutritt hätten.
Dann neigten sie den Kopf zur Seite und sagten: »Aber ich habe noch nie einen Regierungsbeamten gesehen, der hier war, um zu lesen oder sich ein Buch auszuleihen.«
»Deshalb ist unser Land ja so vermurkst«, sagte Raeseng darauf und lachte.
Aber die schielende Bibliothekarin hatte nie, nicht ein einziges Mal, Fragen zur Bibliothek gestellt. Bei ihrem Dienstantritt hatte sie nicht gefragt, wo ihr Schreibtisch sei oder was sie zu tun habe. Schlimmer noch (aber auch folgerichtig) war es, dass sie nicht fragte, wo die Toilette sei oder wo der Besen aufbewahrt werde. Es war, als habe sie keine Neugier, kein Interesse an irgendeinem – und auch keinerlei Beschwerden über irgendein – Gebiet außer der Kreuzstichstickerei, der kunstvollen Fingernagelverschönerung und dem Stricken. Wenn Old Raccoon ihr Anweisungen gab, hörte sie ihm zu, während ihre verstörenden Augen hierhin und dorthin schauten, und dann machte sie sich wortlos an die Arbeit.
Bis jetzt hatte sie gut fünf Jahre in der Bibliothek namens »Dog House« überstanden, ohne eine einzige Frage zu stellen. Wahrscheinlich war sie inzwischen länger hier als jede andere Bibliothekarin, die für den mürrischen, unberechenbaren Old Raccoon gearbeitet hatte. Sie verwendete keinen zweiten Gedanken darauf, was für eine Bibliothek das war, die das ganze Jahr über niemand nutzte, oder wer diese Leute mit den niederträchtigen, heimlichtuerischen Blicken waren, die ab und zu herkamen. Sie meldete sich einfach morgens zum Dienst und wedelte den Staub von den Büchern. Die übrige Zeit verbrachte sie damit, fieberhaft zu stricken oder zu sticken. Aber nichts war so überraschend wie ihre nie versagende Fähigkeit, die Bücher so in die Regale zu stellen, dass nicht einmal Old Raccoon, der darin penibler war als sonst irgendjemand, etwas daran auszusetzen fand. Raeseng war unendlich erstaunt und gleichzeitig von Zweifeln erfüllt, wenn er sah, wie perfekt eine Bibliothekarin, die niemals las, Bücher so tadellos in Ordnung halten konnte.
Sie war mit Abstand die merkwürdigste Bibliothekarin, der er je begegnet war. Ab und zu erwähnte er ein Buch, das er gerade las, und sofort antwortete sie mit monotoner Stimme und ohne das Kinn von der Hand zu heben, auf die sie es stützte: »In Reihe C-54 gibt es mehr solcher Bücher. Gehen Sie ruhig und schauen sie sich an.« Natürlich blieb ihm nichts anderes übrig, als geradewegs zur Reihe C-54 zu gehen, gleichzeitig verstört und enttäuscht.
Die Sammlung der Bibliothek bestand aus exakt zwanzigtausend Büchern. Old Raccoon bestellte regelmäßig eine große Zahl neuer Bücher, aber genauso regelmäßig warf er die gleiche Anzahl weg. Er behauptete, das tue er aus Platzmangel, aber man hätte mühelos noch Tausende von Büchern unterbringen können. In Wahrheit warf er sie weg, weil neue Bücher bedeutet hätten, dass neue Regale aufgestellt werden müssten, und Old Raccoon war es zuwider, die vorhandenen Regale zu verschieben, die er vor einer Ewigkeit genau in der Weise arrangiert hatte, wie sie heute noch standen. Soweit Raeseng sich erinnern konnte, war der Regalplan in der Bibliothek »Dog House« noch nie verändert worden, genauso wenig wie Old Raccoons Methodik. Er machte auch keinen Platz für neue Kategorien von Literatur, wie die Zeitläufte sie hervorbrachten. Infolgedessen wanderten Bücher, die sich nicht in eine seiner existierenden Kategorien einordnen ließen, unverzüglich auf den Stapel mit Ausschuss, selbst wenn sie nagelneu waren.
War ihre Zeit gekommen, zog Old Raccoon ein schwarzes Band um die Ausschusstitel. Das war seine spezielle Form, das finale Urteil zu fällen, gleichsam eine Bestattungsprozedur für Bücher, die am Ende ihres Lebens angekommen waren, ganz so, wie alternde Berufskiller auf eine Liste gesetzt und von Cleanern eliminiert wurden, wenn ihre Zeit gekommen war. Über die Lebensdauer eines Buches bestimmte natürlich allein Old Raccoon, und weder Raeseng noch die Bibliothekarinnen konnten sich erklären, warum bestimmte Bücher verworfen wurden.
Die Bücher mit den schwarzen Bändern wurden von der Bibliothekarin eingesammelt und im Hof aufgestapelt, wo sie an einem Sonntagnachmittag verbrannt wurden, dem freien Tag der Bibliothekarin. Old Raccoon hätte sie einem Antiquariatsbuchhändler verkaufen oder sogar ins Altpapier werfen können, aber er bestand darauf, sie zu verbrennen.
Raeseng hatte ein Herz für aufgegebene Bücher. Er konnte nicht genau erklären, warum, aber er fand, sie hatten seine Liebe verdient. Die einzigen Bücher, die er aus dem »Dog House« mit nach Hause nehmen durfte, waren ausgemusterte. An den Sonntagen, an denen die Bücher verbrannt wurden, durchstöberte Raeseng vorher den Stapel neben dem Benzinkanister und griff sich die heraus, die ihm gefielen. Wenn er damit fertig war, lagen die übrig gebliebenen Bücher verstreut im Hof. Weder Old Raccoon noch Raeseng wollten sie haben, und sie boten einen bemitleidenswerten Anblick, bar jeder Hoffnung wie Kriegsgefangene vor einem Erschießungskommando.
»Du musst sie doch nicht verbrennen«, sagte Raeseng jedes Mal. »Du könntest sie stattdessen an eine Antiquariatsbuchhandlung verkaufen.«
Und jedes Mal gab Old Raccoon die gleiche Antwort. »Jedes Buch muss seiner eigenen Bestimmung folgen.«
Mit anderen Worten, die spezielle Bestimmung der Bücher, die dieser lächerlichen, gottverlassenen Einrichtung gehört hatten, die niemand je besuchte, um zu lesen (nicht mal die Bibliothekarin!), war ein Dasein, so gelangweilt und kläglich wie das einer Hofdame, deren unberührte Jungfräulichkeit in leidvoller Sehnsucht dahinwelkte, während die Liebe des Königs sie niemals erreichte, bis sie irgendwann für zu alt befunden und aus dem Palast geworfen wurde.
Raeseng hing beharrlich an seiner Überzeugung, dass es die Bibliothek mindestens so lange geben werde, wie es Menschen gab. Er vertraute nicht auf die Bücher selbst, sondern auf die Regale und das Gebäude, in dem sie standen. Die großen Holzregale hatten das »Dog House« die ganze Zeit getragen, gezimmert aus den gleichen kostbaren Jingang-Kiefern, die beim Bau der Paläste in der Joseon-Dynastie verwendet worden waren. Bücher kamen und gingen, aber diese schweren Regale, liebevoll gezimmert von einem berühmten Möbelschreiner in der Kolonialära und nach neunzig Jahren immer noch makellos, hatten sich nicht verzogen oder nachgegeben.
Die schielende Bibliothekarin strickte jetzt seit einer halben Stunde ohne Unterbrechung. Jedes Mal, wenn Raeseng sich eine neue Zigarette anzündete, hob sie den Kopf und runzelte die Stirn. Aber er ließ sich nicht beirren und rauchte weiter. Es gab ohnehin bei ihr keinen Blumentopf zu gewinnen. Wenn es nach ihr ging, war Hanja distinguiert und cool und Raeseng ein Blindgänger.
»Wann ist Hanja gekommen?«, fragte er.
Sie antwortete, ohne aufzublicken. »Um halb zehn.«
»Und wann waren Sie hier?«
»Um acht.«
Das war früh. Die Bibliothek öffnete erst um neun, warum also war sie eine Stunde früher gekommen? Sie hatte nichts zu tun, außer Staub zu wischen. Er verstand sie wirklich nicht. Raeseng warf noch einmal einen Blick hinüber zur Tür von Old Raccoons Arbeitszimmer. Sie war immer noch geschlossen. Wenn Hanja um halb zehn gekommen war, sprachen er und Old Raccoon jetzt seit über einer Stunde miteinander. Worüber, verdammt?
Wenn Hanja mit hochrangigen Regierungsbeamten oder anderen Repräsentanten der Mächte hinter dem Thron zusammentraf, erzählte er ihnen, Old Raccoon sei wie ein Vater für ihn. Manchmal ließ er das Wort wie weg und nannte ihn einfach »seinen Vater«. Die grausige neunzigjährige Geschichte der Bibliothek »Dog House« hüllte Hanja, der in der Killerbranche relativ neu war, in eine Aura von Tradition und Autorität. Die alten Strippenzieher, die zur Paranoia neigten und leicht nervös wurden, vertrauten weiterhin den Methoden Old Raccoons, der dafür sorgte, dass seine Aufträge sauber und ordentlich erledigt wurden. Ab und zu, wenn Raeseng gehört hatte, wie Hanja Old Raccoons Namen einstreute, war er wirklich überzeugt gewesen, dass er vielleicht tatsächlich sein Sohn sei. Ein Ungeheuer wie Hanja konnte schließlich nur von einem anderen Ungeheuer gezeugt worden sein.
Raeseng zündete sich gerade die nächste Zigarette an, als aus dem Arbeitszimmer lautes Geschrei drang. Er und die Bibliothekarin blickten gleichzeitig auf. Das Geschrei ging weiter. Es war Old Raccoons Stimme. Die Bibliothekarin sah Raeseng entgeistert an, und in diesem Augenblick kam Hanja herausgestürmt. Er war rot im Gesicht, unrasiert und nicht einmal gekämmt. Offensichtlich war er unverzüglich zur Bibliothek geeilt, als er gehört hatte, der Plan sei geändert worden. Es war das erste Mal, dass Hanja die Fassung verlor. Im Übrigen hörte Raeseng auch zum ersten Mal, dass Old Raccoon fluchte wie ein betrunkener Matrose. Die Spezialität des Alten war Sarkasmus, nicht Lautstärke. Hanja wollte vorbeistürmen, aber als er Raeseng bemerkte, blieb er unvermittelt stehen. Sein Blick wanderte schockiert von Raesengs Gesicht zu der hölzernen Urne im weißen Tuch.
»Was ist das?«, fragte er aufgebracht.
»Japanische Süßigkeiten.«
Hanja funkelte Raeseng an und biss sich kräftig auf die Lippe, als hätte er am liebsten zugehauen. Aber er beherrschte sich und verzog nur verächtlich den Mund. Er wollte etwas sagen, wandte sich dann aber an die Bibliothekarin mit dem Silberblick.
»Verzeihen Sie, junge Frau, aber würden Sie uns wohl einen Moment allein lassen? Ich habe ein Wort mit diesem Herrn hier zu reden.«
Sie starrte ihn ausdruckslos an. Da legte er den Kopf kaum merklich zur Seite. Ganz plötzlich sprang sie auf und schaltete wieder um auf die schrille Fistelstimme, in die sie immer verfiel, wenn sie höflich war. »Aber ja, selbstverständlich, kein Problem!« Sie warf ihr Strickzeug auf den Tisch. Aber kaum stand sie, geriet sie ins Straucheln. Offensichtlich wusste sie nicht, wohin sie gehen sollte, und warf Hanja ein verlegenes Lächeln hin, bevor sie hinauslief.
Als die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen war, zog Hanja einen Stuhl heran und setzte sich Raeseng gegenüber.
»Was dagegen, mir eine zu geben?« Er deutete auf die Zigarettenpackung auf dem Tisch.
»Ich dachte, du kannst Dinge, die stinken, nicht ausstehen.«
Hanja runzelte die Stirn. Er war offensichtlich nicht in der Stimmung für Geflachse, und er sah abgespannt aus, als habe er nicht eine Sekunde geschlafen.
Raeseng schob ihm Zigarettenschachtel und Feuerzeug hin. Hanja klopfte eine heraus, zündete sie an und nahm einen tiefen Zug, bevor er eine lang gezogene Rauchwolke in die Luft blies.
»Die letzte ist so lange her, dass mir ganz schwindlig wird.«
Er rieb sich die Augen, als sei ihm wirklich nicht gut. Aber vielleicht brannten sie nur vom Rauch, denn sie waren gerötet. Er wollte gerade den nächsten Zug nehmen, als er es sich anders überlegte und die Zigarette im Aschenbecher ausdrückte. Lange Zeit starrte er die hölzerne Urne an.
»Ich habe ausdrücklich um den Leichnam des Generals gebeten, und du bringst mir einen Kasten Asche. Mit Asche kann ich nichts anfangen.« Hanja flüsterte fast.
Raeseng antwortete nicht.
»Wie kannst du eine so einfache Aufgabe versauen?« Seine Stimme klang leise und bewusst sanft. Raeseng vermutete, er wollte ihn aushorchen, um zu verstehen, warum er und Old Raccoon gegen die Anweisungen des Plotters gehandelt hatten.
»Hör zu.« Er fiel Hanja ins Wort, um ihm zu zeigen, dass es keinen Sinn hatte, so auf ihn einzudringen. Dabei würde nichts herauskommen. »Ich bin nur ein Killer, der für ein Tageshonorar arbeitet. Laufburschen wie ich halten sich an die Befehle, die man ihnen gibt. Ich habe keine Ahnung, worum es hier geht.«
»Keine Ahnung …« Hanja klopfte leise mit dem Finger auf den Tisch.
Raeseng langte herüber, angelte Zigaretten und Feuerzeug und zündete sich wieder eine an.
»Wie viele rauchst du pro Tag?«, fragte Hanja.
»Zwei Schachteln.«
»Siehst du nicht fern? Lungenkrebs ist die tödlichste Krebsart, und wenn du rauchst, ist es fünfzehn Mal wahrscheinlicher, dass du Krebs kriegst. Ein starker Raucher wie du kann fest damit rechnen.«
»Ich bezweifle, dass ich in diesem Geschäft lange genug überlebe, um Lungenkrebs zu kriegen.«
Hanja schnaubte. »Du bist ein ulkiger Typ. Das habe ich schon immer gedacht«, sagte er. »Du bist schwer zu durchschauen, aber irgendwie clever. Ich glaube, deshalb mag ich dich.«
Raeseng drückte seine halb gerauchte Zigarette im Aschenbecher aus und zündete sich eine neue an. Hanja plapperte weiter – »Ja, ein richtiges Goldstück, das bist du« –, und Raeseng kämpfte gegen den schier übermächtigen Drang an, ihm die Zähne einzuschlagen.
»Bei dem Job ging es um Milliarden. Ein irre guter Plot, wie ein Tagelöhner wie du ihn sich in seinen kühnsten Träumen nicht vorstellen kann. Und dann hat Old Raccoon ihn verpatzt, noch bevor es richtig losging.«
»Ach, wie schade. Das viele Geld, einfach weg. Es bricht mir das Herz.«
»Ich bin sicher, ich kann es noch retten. Das ist schließlich meine Spezialität. Aber wer entschädigt mich für den Schlag, den meine Ehre und Glaubwürdigkeit abbekommen haben? Der fiese Raccoon? Oder ein kleiner Gorilla wie du?«
Es widerte Raeseng an, dass Worte wie Ehre und Glaubwürdigkeit aus Hanjas Mund kamen.
»Seit wann ist deine blöde Ehre wichtiger als die des Generals?«
»Wozu braucht eine Leiche denn Ehre? Lass sie in Ruhe, und sie verrottet in der Erde, wie es ihr zukommt.«
»An dem Tag, an dem Bear dich einäschert, stelle ich ihm die gleiche Frage. Ich stelle sie dir, bevor du in den Ofen geschoben wirst.«
»Vergiss es nicht. Ich versichere dir, meine Leiche wird dir die gleiche Antwort geben wie ich jetzt. Wir sind Geschäftsleute. Wer erlaubt sich so eine Dummheit, wenn ein paar Milliarden won auf dem Spiel stehen? Hättest du mir einfach den Leichnam übergeben, wie man es dir gesagt hat, hätte ich daraus inzwischen ein Paket schnüren können, das sich zu verkaufen lohnte. Und die Politiker und die Presse könnten dann damit anstellen, was sie wollen. Wär mir egal.«
»Und so was nennt sich einen Freund von Old Raccoon!«, schrie Raeseng. »Ich weiß nicht, wieso er sich mit einem Arschloch wie dir abgibt, wenn alle andern sich abwenden.«
Hanja lachte arrogant. Er genoss es offensichtlich, dass Raeseng sich verplappert und seine wahren Gefühle offenbart hatte. Als sei das die ganze Zeit seine Absicht gewesen und als habe er jetzt bekommen, was er wollte.
»Siehst du? Ich habe doch gesagt, du bist ein ulkiger Typ«, sagte Hanja.
Hanja hatte vorgehabt, die Story in die Neun-Uhr-Nachrichten zu bringen. Er wollte, dass der Mord ganz oben auf jeder Zeitung des Landes gebracht wurde, gleich auf Seite eins. Der Tod eines ehemaligen Generals, der aus Nordkorea stammte! Die Ermordung eines alten Mannes, der damals, in den Tagen der koreanischen CIA, eine Schlüsselrolle gespielt hatte! Und in dessen Leiche ein ungewöhnliches 7.62-mm-Projektil steckte, das nur aus einem russischen AK-47 stammen konnte. Ein verdächtiger Mordanschlag mit einer Schusswaffe, das stank doch zum Himmel!
Am Tag nach der Entdeckung der Leiche hätte die Polizei rings um das Haus des alten Mannes gelbes Absperrband gespannt, und in dem sonst so einsamen Wald hätte es plötzlich gewimmelt von Journalisten und Fernsehreportern, die jede Kleinigkeit übertrieben aufgebläht hätten, und von unbeholfenen Polizisten, die keine Ahnung gehabt hätten, was sie eigentlich tun sollten. Die Fernsehnachrichten hätten gezeigt, wie die Suche nach Hinweisen nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen ablief, indem sie filmten, wie das Spurensicherungsteam Meter für Meter durch den Wald stapfte und jeden Zentimeter Boden geräuschvoll absuchte, angefangen am Fundort der Leiche. Der Bildschirm wäre ausgefüllt worden vom riesenhaften Gesicht eines glatzköpfigen Experten, der sich mit ungemein ernster Miene auf ein Interview vorbereitete. Während er die von der Spurensicherung gefundenen Beweisstücke 1, 2, 3 und 4 – eine Patronenhülse, ein Kaugummipapier, eine leere Kekspackung und menschliche Exkremente – in die Kamera hielt, hätte der Experte mit dem Riesengesicht endlosen Unsinn über die Auswirkungen auf internationale Beziehungen und die Aktionen der nordkoreanischen Streitkräfte von sich gegeben. Am nächsten und auch am übernächsten Tag wären die Nachrichtensendungen voll von Kommentaren über das Kaugummipapier, die leere Kekspackung und die menschlichen Fäkalien gewesen.
Was hatten sie damit auslösen wollen? Heutzutage konnte man einen Platz in einem kleinen Spaceshuttle buchen, sich mit einer Rakete aus der Atmosphäre hinausschießen lassen und fünf endlose Weltraumtouristenminuten lang mit offenem Maul auf die Erde hinunterstarren, bevor man wieder landete. Dachten sie da im Ernst, sie könnten hier das x-te abgenutzte Spionagering-Klischee inszenieren? Nicht, dass irgendjemand hätte sagen können, woher der Plot stammte oder worauf er letzten Endes hinauslief. Niemand kannte je die volle Wahrheit. In der Welt der Plotter vermied es jeder, über mehr Informationen zu verfügen als absolut nötig. Je mehr einer wusste, desto schneller wurde er zur Zielscheibe. Unwissenheit bedeutete Überleben. Und da konnte man nicht nur so tun, nein, man musste tatsächlich nichts wissen. Warum aber sollte sich irgendjemand die Mühe machen zu fragen, wie viel man wusste, wenn er einen einfach umbringen konnte? Deshalb blieb jedermann hinter seinem kleinen Zaun und streckte nicht mal einen Zeh heraus. Knüpfte man genügend von diesen kleinen Umzäunungen zusammen, hatte man ein Areal, das einem Plan entsprach, zusammengeflochten aus unglaublich großen und komplizierten Verbindungen und zahllosen Anteilseignern. Vielleicht hatten sie geplant, einen Damm zu sprengen, und waren aus finanziellen Gründen zu einem Kurswechsel gezwungen gewesen, und das Ende vom Lied war, dass sie stattdessen einen abgewrackten ehemaligen General umgebracht hatten.
Der Plot war jedenfalls gescheitert. Die Leiche, die sie hatten benutzen wollen, war zu Asche verbrannt worden. Wie Hanja angedeutet hatte: Aus einem Haufen Staub macht man keinen Medienzirkus.
Hanja sah auf die Uhr und stand auf. Er hatte gesagt, was er zu sagen hatte. »Zeit, zu gehen. Deinetwegen ist alles im Arsch, und ich bin derjenige, der es in Ordnung bringen darf.«
»Meinetwegen?« Raeseng machte große Augen.
»Du hättest mir sagen müssen, dass der Plot sich geändert hat.« Hanjas Stimme triefte vor Sarkasmus. »Ich weiß nicht, warum du deine Grenzen überschreiten und für ihn den Kopf hinhalten musstest.«
Hanja war viel ruhiger und entspannter als vorhin, als er aus Old Raccoons Arbeitszimmer herausgestürmt war. Als vollendeter Realist wusste er, wie man einen vergangenen Fehler abschüttelte. Vielleicht dachte er schon an die nächste große Nummer.
»Ich glaube, du hast da ein falsches Selbstbild«, sagte er. »Ich gebe dir einen Rat: Überschätze dich nicht. Du bist ein Nichts. Der Punkt, auf dem du stehst, ist alles, was du hast. Sobald du diese Bibliothek verlässt, bist du ein x-beliebiger abgehalfterter Killer vom Fleischmarkt, nicht mehr als eine Spritze, die man einmal benutzt und dann wegwirft. Also sieh dich vor. Und halte dich zurück mit den Zigaretten. Wenn du weiterhin deine Lunge mit zwei Schachteln pro Tag ruinierst, wie willst du dann um dein Leben rennen können, wenn es drauf ankommt?«
Hanja schenkte ihm noch ein arrogantes, widerliches Lächeln und zog sich das Jackett zurecht, bevor er sich zum Gehen wandte. »Ach ja! Habe ich dir meine Karte gegeben?«
Seine Gesten waren übertrieben, als hätte er ein entscheidendes Detail übersehen. Raeseng starrte ihn an und antwortete nicht.
Hanja nahm eine Karte aus seinem vergoldeten Etui und legte sie vor Raeseng auf den Tisch. »Die wirst du brauchen. Die Bibliothek bleibt nicht mehr ewig geöffnet. Und du solltest anfangen, an deine Zukunft zu denken, und vielleicht lernst du, höflicher zu reden. Es macht keinen guten Eindruck, wenn du ältere Leute duzt. Das sage ich dir um deiner selbst willen.« Er zwinkerte.
»Ich duze, wen ich will. Dich auch.« Raeseng warf Hanjas Visitenkarte in den Aschenbecher und drückte seine Zigarette darauf aus.
Hanja betrachtete ihn einen Moment lang kopfschüttelnd, nahm dann noch eine Karte aus seinem Etui und schob sie in die Tasche von Raesengs Jackett. Dann tätschelte er Raeseng die Wange. »Werd endlich erwachsen. Was glaubst du, Schlaumeier, wie lange du dir das noch leisten kannst, den Klugscheißer zu spielen?«
Hanja marschierte pfeifend hinaus.
Als die Tür zufiel, hörte Raeseng, wie Hanja vergnügt zu der Bibliothekarin sagte: »Mann, es ist aber ziemlich frisch hier draußen! Tut mir leid, dass Sie warten mussten. Das Gespräch zog sich endlos in die Länge.« Er hörte, wie sie antwortete. »Oh, so kalt ist es aber nicht.« Sie klang aufgeregt.
Raeseng nahm sich eine neue Zigarette, aber er starrte sie nur an, ohne sie anzuzünden. In einem Punkt hatte Hanja recht. Man hätte ihn gar nicht erst beauftragen sollen, den General auszuschalten. Die Plotter benutzten keine hoch qualifizierten Killer wie ihn, wenn es nur darum ging, Aufsehen in den Nachrichten zu erregen. Solche Jobs waren etwas für abgehalfterte Killer, die keiner mehr beschäftigte, oder für entbehrliche Figuren, frisch aus der militärischen Ausbildung entlassen, feucht hinter den Ohren und ohne jeden Schimmer davon, wie die Dinge liefen.
Wenn eine Ermordung ans Licht kam, suchte die Polizei immer als Erstes nach dem Schützen. Letzten Endes wollten sie doch nur wissen: »Wer hat abgedrückt?« Wenn sie den fanden, der abgedrückt hatte, bildeten sie sich ein, alles sei geklärt. Tatsächlich war das aber vielleicht sogar die unwichtigste Frage. Wichtig war niemals der Schütze, sondern die Person hinter dem Schützen. Aber in der langen Geschichte der Mordkomplotte war diese Person im Schatten noch niemals enthüllt worden.
Die Menschen glauben, Oswald habe Kennedy ermordet. Aber wie hätte ein stümperhafter Idiot das schaffen sollen? Während Polizei und Presse fleißig dabei waren, Oswald den Strick zu drehen, verzogen sich die Attentatsplaner und die Strippenzieher, die Kennedys Tod inszeniert hatten, langsam und unauffällig in alle Himmelsrichtungen und verschwanden in ihren hübschen, sicheren Häusern. Dort ließen sie sich in den Sessel sinken, schlürften Champagner und schauten die Nachrichten an. Ein paar Tage später wurde der Clown Oswald plangemäß von einem anderen drittklassigen Killer eliminiert, die Polizei schloss den Fall ab, und von ihren Gesichtern war abzulesen: »Tja, was können wir jetzt noch tun? Die Schlüsselfigur ist tot.« Das Leben ist eine einzige große Komödie. Die Polizei braucht nur den Schützen zu finden, und die Plotter mussten ihn nur eliminieren.
Die Polizei spürt den Schützen auf, verhört ihn, foltert ihn. Der Einfaltspinsel, der stumpf abgedrückt hat, ist ein gefundenes Fressen für die Medien, und zwar schneller, als seine Kugel ihr Ziel gefunden hat. Jeder, der ihn kennt, zeigt sich überrascht davon, dass er zu einer so furchtbaren Tat fähig war. Die Medien graben alles über ihn aus, was sie finden können, sie stöbern jeden auf, der auch nur entfernt mit ihm verwandt sein könnte (obwohl sie es alle überhaupt nicht sind), verpixeln sein Gesicht aus Datenschutzgründen und machen aus dem Einfaltspinsel eine Legende. Das Komischste daran ist, dass der Idiot, der tatsächlich abgedrückt hat, im Grunde keine Ahnung hat, was wirklich passiert ist. Er selbst weiß nicht einmal, was er getan hat. Denn warum um alles in der Welt sollten die Plotter einem abgehalfterten oder entbehrlichen Typen solche Informationen anvertrauen? Die Anweisungen der Plotter an den Killer lauten immer und überall gleich: »Wer hat dir gesagt, du sollst denken? Halt den Mund und drück ab.«
Raeseng zündete seine Zigarette an. Ihm wurde plötzlich klar, dass er jetzt durchaus selbst eine Leiche sein könnte, wenn er den alten Mann nicht eingeäschert hätte. Wie würde Bears Gesicht wohl aussehen, wenn er Raesengs Leiche in die Flammen zu schieben hätte? Würde dieser große Teddybär von einem Mann hysterisch weinen, nur um dann zu glucksen und sich immer wieder zu verbeugen, wenn Hanja ihm das Bargeld überreichte, während seine Tränen auf mysteriöse Weise versiegten, während er sein Geld zweimal zählte? Raeseng inhalierte gerade erneut, als die Bibliothekarin hereinkam, fröstelnd vor Kälte. Sie legte sich die Strickjacke, die sie auf ihrer Stuhllehne gelassen hatte, über die Schultern, kauerte sich unter ihren Schreibtisch und rieb sich die Hände über der Heizung, die sie dort stehen hatte. Sie blieb lange da unten, bevor sie wieder hochkam und sich auf ihren Stuhl setzte.
»Verdammt noch mal, jetzt hören Sie doch schon mit der verdammten Raucherei auf!«, schrie sie, und ihr Gesicht war rot vor Abscheu.
Raeseng drückte seine Zigarette aus und schaute hinüber zum Arbeitszimmer. Die Tür war noch geschlossen. Ob er hineingehen sollte? Oder sollte er warten, bis Old Raccoon sich beruhigt hatte? Er wusste es nicht.
»Was werden Sie tun, wenn der Laden hier geschlossen wird?«, fragte er die Bibliothekarin.
»Die Bibliothek wird geschlossen?« Sie war erschrocken.
»Nein, ich habe nur gefragt, was ist, wenn sie geschlossen wird?«
Sie zögerte und sagte dann: »Ich suche mir einen netten Mann und heirate.«
»Einen netten Mann. Hm …« Raeseng bewegte ihre Worte im Kopf hin und her und fragte: »Wie wär’s mit mir?«
Sie starrte ihn an, als habe er den Verstand verloren. »Was ist los mit Ihnen? Hat Ihnen jemand in den Kopf geschossen, als ich weg war?«
Ihre Stimme hallte von der Gewölbedecke wider, so hatte sie ihn angefahren.
Raeseng lachte. Er nahm die Urne von Tisch und ging auf das Arbeitszimmer zu.
Als er die Tür öffnete, las Old Raccoon laut, wie er es immer tat, aus einer Enzyklopädie. Er war mit dem Brockhaus fertig und hatte sich die Encyclopedia Britannica zum zweiten Mal vorgenommen. Zu Raesengs Überraschung wirkte er völlig ungerührt. Er saß wie immer mit demselben Buch im selben Sessel und las mit derselben lauten Stimme. Was hatte es für einen Sinn, dieselben Bücher immer und immer wieder zu lesen? Seine Lesegewohnheiten machten für Raeseng keinen Sinn. Old Raccoon las weiter, bis Raeseng die Tür des Arbeitszimmers geschlossen und die Urne auf den Couchtisch gestellt hatte. Es war nicht beabsichtigt, aber die Urne landete mit lautem Poltern auf der Glasplatte. Jetzt endlich blickte Old Raccoon von seinem Buch auf und starrte die Urne an.
»Warum warst du einen Tag länger weg?«
Er klang nicht wütend oder vorwurfsvoll, nur neugierig.
»Der General hat mich zum Abendessen eingeladen.«
Er hatte mit Nachfragen gerechnet, aber Old Raccoon nickte. Er legte seine Lesebrille auf den Schreibtisch, stand auf und kam zum Tisch herüber. Er schlug das weiße Tuch zurück, betrachtete die Schatulle und streichelte einen Moment lang liebevoll mit der flachen Hand über das Holz, bevor er den Deckel öffnete. Die Asche des alten Mannes und die Santas war säuberlich in weißes Papier eingeschlagen. Old Raccoon faltete das Papier auf und befühlte die Asche.
»Bear hat sie wirklich fein gemahlen«, stellte er erfreut fest. Er faltete das Papier sorgfältig, schloss den Deckel und hüllte die Schatulle wieder in das weiße Tuch. Er stellte sie auf seinen Schreibtisch.
»Halte dich die nächsten paar Tage bedeckt«, sagte er. »Tu gar nichts.« Damit war Raeseng entlassen.
»Hanja sah ziemlich wütend aus.«
Old Raccoon lachte kurz auf. »Wieso sollte er wütend sein? Er hat bekommen, was er wollte.«
Raeseng legte fragend den Kopf schräg. »Aber er hat davon geredet, dass wir einen Plot im Wert von mehreren Milliarden won vermurkst hätten …«
»Glaubst du wirklich, er würde uns etwas so Großes anvertrauen? Er ist entzückt, weil er jetzt einen Grund hat, herumzulaufen und den alten Knackern von der Regierung zu erzählen, die Bibliothek hätte Mist gebaut. Ha! Ich schwöre, er ist wirklich zu clever.«
Old Raccoon wirkte überaus erheitert. Aber was um alles in der Welt gab es hier zu lachen?
»Wird die Bibliothek geschlossen?«, fragte Raeseng.
Old Raccoon sah ihn verwirrt an.
»Hanja hat versucht, mir Angst zu machen. Er hat behauptet, die Bibliothek werde geschlossen.«
Old Raccoon dachte einen Moment lang darüber nach. Ein seltsames Lächeln trat auf sein Gesicht. »Wenn sie geschlossen wird, dann wird sie geschlossen«, sagte er ungerührt. »Wovor soll man da Angst haben? Ist ja nicht so, als wäre die Bibliothek je etwas Besonderes gewesen.«
Aber wie konnte das sein? Wie konnte er die Bibliothek schließen, die er in den letzten sechzig Jahren persönlich geleitet hatte? Dabei klang seine Stimme so ruhig und gelassen, als habe er sich schon vor langer, langer Zeit auf diesen Augenblick vorbereitet. Vielleicht schwang deshalb diese Entschlossenheit mit.
Alle sagten, Old Raccoon sei in der Bibliothek geboren worden und habe sein ganzes Leben dort verbracht. Das war keine Metapher. Er war wirklich hier geboren. Er war der Sohn des Handwerkers, der in einer Kate neben der Bibliothek gewohnt und das Dach und die Strom- und Wasserinstallationen in Ordnung gehalten hatte. Eine Polio-Erkrankung hatte ihm ein dauerhaftes Hinken eingebracht, und Old Raccoon hatte schon mit sechs Jahren angefangen, als Hausmeister in der Bibliothek zu arbeiten. Mit fünfzehn war er Bibliothekar, und im zarten Alter von einundzwanzig Jahren dann der Bibliotheksleiter geworden. Es war nicht klar, wie es Old Raccoon, der nicht nur gehbehindert war, sondern nicht einmal die Grundschule abgeschlossen hatte, gelungen war, die Beamten aus dem Feld zu schlagen, die an der Kaiserlichen Universität Keijo in Seoul oder sogar im Ausland, in Japan, studiert hatten, und tatsächlich der erste Bibliotheksleiter und später Direktor der Bibliothek geworden war. Vielleicht war die Bibliothek doch zu still und zu langweilig, um intelligente Leute zu verlocken, ihr ganzes Leben in ihren Dienst zu stellen. Vielleicht aber war es auch schlicht zu gefährlich.
Old Raccoon betrachtete die Urne aufmerksam. Nach einer Weile erst schien er Raesengs gewahr zu werden, der ihn anschaute, und er wandte sich wieder der Enzyklopädie zu, aber es war klar, dass er in Wirklichkeit nicht las, er hatte nämlich vergessen, seine Lesebrille wieder aufzusetzen. Wie Old Raccoon so blind auf die Seite starrte, sah er plötzlich viel älter aus.
»Ich gehe dann mal«, sagte Raeseng.
Old Raccoon hob den Kopf und nickte.
Als Raeseng aus dem Arbeitszimmer kam, war die Bibliothekarin nicht mehr da. Vermutlich machte sie Mittagspause. Er setzte sich auf ihren Stuhl. Auf der einen Seite ihres Schreibtischs lagen ihre Stricknadeln und ein Knäuel rote Wolle. Hinter einer Trennwand verbargen sich eine Sammlung von ungefähr zehn nach Farben sortierten Fläschchen Nagellack, ein zierlicher Mini-Schminkplatz und ein Beutel für Make-up, wie ihn eine professionelle Maskenbildnerin zu Dreharbeiten mitgenommen hätte, gleich neben einer Plastikschubladenbox mit Büromaterial. Auf jeder Schublade klebte ein Etikett: Büroklammern, Tacker, Schablonenmesser, Scheren, Lineal. Raeseng zog die Schublade mit der Aufschrift »Büroklammern« auf, und richtig: Sie enthielt Büroklammern. Ringsum auf dem Schreibtisch der Frau standen Stofftiere: Micky Maus, Winnie Pu, ein Panda, eine japanische Winkekatze und vieles mehr. Sie sahen aus, als seien sie immer schon da gewesen und als hockten sie genau da, wo sie hingehörten. Raeseng stupste Winnie Pu an, der ein rotes T-Shirt und keine Unterhose trug. Sein Bauch wölbte sich vor, und er grinste wie ein Idiot.
Die Bibliothek nahm keine neuen Bücher mehr auf. Vor zwei Jahren hatte Old Raccoon aufgehört, welche zu kaufen, und er hatte sogar die regelmäßigen Bestellungen eingestellt. Streng genommen brauchte die Bibliothek keine Bibliothekarin mehr, sondern nur noch eine Sekretärin oder einen Hausmeister. Jemanden, der ans Telefon ging, den Müll hinausbrachte und gelegentlich Staub wischte.
Raeseng stand auf und wanderte langsam durch die Reihen, immer unter den wachsamen Blicken der alten Bücher, die seit Jahrzehnten nicht aufgeschlagen worden und so trocken waren, dass ein einzelnes Streichholz sie wie Dynamit hätte hochgehen lassen. Er strich mit den Fingerspitzen über ihre Rücken und hatte das Gefühl, in eine Gasse zurückgekehrt zu sein, durch die er als Kind gehüpft war.
Er blieb stehen und zog ein Buch heraus. Der Ursprung von allem . Er betrachtete die Vorder- und Rückseite des Einbands und blätterte dann in den Seiten. Er versuchte nicht, wirklich zu lesen, auch wenn er es früher getan hätte; er interessierte sich nicht für das Buch und hoffte auch nicht, etwas darin zu finden. Er blätterte aus reiner Gewohnheit darin. Der erste Satz lautete: »Das erste Gemüse, das jemals von Menschen gegessen wurde, war die Zwiebel.« Nicht tiefsinnig und auch nicht didaktisch. Ein Satz, der einfach bedeutete, was er sagte. In dem Buch waren noch andere Sätze aufgereiht: Der Erfinder des Schaukelstuhls war Benjamin Franklin . Und: Das erste Werkzeug, das je benutzt wurde, war der Hammer . Raeseng gluckste und sagte leise: »Old Raccoon würde dieses Buch lieben.«
Er schob das Buch wieder ins Regal und sah sich in der Bibliothek um. Die alten Holzregale glühten förmlich im Sonnenlicht, das durch die Lamellenfenster im oberen Stock hereinfiel. Eine Bibliothek im Niedergang. Ihre guten Tage hatte sie lange hinter sich. Vielleicht war es so, wie Hanja gesagt hatte, und es wurde Zeit, sie zu schließen. Alles darin war viel zu alt, um mit den Veränderungen zurechtzukommen, die der Markt für Killer erlebt hatte. Die Tage jugendlichen Überschwangs waren vorüber. Die Tage, da man schwierige, gefährliche Aufträge ohne ein Wort der Klage akzeptierte und makellos ausführte. Die Tage, da Unternehmer aus allen Himmelsrichtungen zu Old Raccoon gekommen waren, wo die hoch bezahlten Aufträge nie versiegten und er ihnen die Taschen mit Geld vollstopfte. Die Tage, da sogar Regierungsbeamte vor Old Raccoon auf der Hut sein mussten und der gesamte Fleischmarkt wie am Schnürchen lief, alles auf ein Wort von ihm hin. Diese Tage waren wirklich und wahrhaftig vorbei. So, wie sie keine neuen Bücher mehr bekam, landeten auch die großen Aufträge nicht mehr in der Bibliothek.
Von Anfang an hätte Old Raccoon sich auf den Tag vorbereiten sollen, an dem er ein abgehalfterter Gestriger wäre. Er hätte eine Partnerschaft mit einer mächtigen Firma eingehen sollen oder, wenn das nicht nach seinem Geschmack war, ein Abkommen mit Hanja schließen und ihm seine Klientenliste überlassen sollen. Wenn die Pläne für seinen Ruhestand sich nicht darauf beschränkten, eines Abends von einer Bande Drecksäcke in irgendeiner dunklen Seitengasse abgestochen und gleichsam zum tragischen Finale als Leiche aus der Gosse geangelt zu werden, dann hätte er wenigstens ein bisschen Geld beiseitelegen oder sich ein Safe House einrichten sollen, wie es andere in Gegenden wie der Schweiz oder Alaska getan hatten. Stattdessen saß Old Raccoon in seiner verfallenden Bibliothek und las Enzyklopädien. Alles, was er noch hatte, waren diese alten Bücher, die so alt waren, dass selbst ein Antiquar die Nase gerümpft hätte.
Jetzt war Old Raccoons Leben ein Faktor in einer Gleichung, die Hanjas Arithmetik gehorchte. Er hatte nur deshalb so lange überlebt, weil Hanja dachte, er könne noch ein paar Tropfen Blut aus ihm herauspressen. Sobald Old Raccoon in Hanjas Berechnungen als Null auftauchte, wäre er tot. Raeseng schob ein Buch zurück, das aus dem Regal hervorragte, und fragte sich, an welcher Stelle er selbst wohl in Hanjas Gleichungen stehen mochte.
»Wenn die Bibliothek geschlossen wird, ist dann auch mein Leben zu Ende?« Er zog eine Braue hoch und lachte. Langsam stieg er hinauf in den ersten Stock und warf einen Blick in die Ecke an der Westseite. Die kleinen Möbel, Tisch und Stuhl, standen noch an Ort und Stelle, wo er als Kind gelesen hatte. Da er nicht zur Schule gegangen war, war das »Dog House« seine einzige Schule und – mangels irgendwelcher Freunde – auch sein einziger Spielplatz gewesen. Den größten Teil seiner Kindheit hatte er damit verbracht, zwischen den Regalen zu spielen oder an dem kleinen Tisch zu lesen.
Wenn Raeseng zurückblickte, hatte seine Kindheit eigentlich nur aus Langeweile und Stumpfsinn bestanden. Er hatte nicht eine Krume von der Zuneigung empfangen, mit der andere Kinder von Erwachsenen regelrecht überschüttet wurden. Seine Kindheitserinnerungen bestanden fast nur aus dem Labyrinth der Regale, aus Büchern und Staub und aus Old Raccoon, der tagein, tagaus mit unbeteiligtem Gesicht dasaß und las. Die Bibliothekarinnen, um deren Freundschaft er sich so eifrig bemüht hatte, verschwanden bald woanders hin, und die Killer, die vorbeikamen, die Tracker, die ihre Opfer verfolgten, und auch die verschlagenen Händler, die Informationen zu verticken hatten – sie alle waren gleichbleibend mürrisch und sprachen nie auch nur ein Wort mit ihm. Manche von ihnen lebten noch, andere waren längst tot, und ein paar waren so schweigsam und bar jeder Regung, dass er ihnen nicht anzusehen vermochte, ob sie lebten oder längst tot waren.
Old Raccoon hatte zu Raesengs Lesegewohnheiten nichts weiter gesagt, nachdem er ihn an seinem neunten Geburtstag ins Gesicht geschlagen hatte. Er sagte ihm nicht, was er lesen, und nicht, was er nicht lesen sollte. Er interessierte sich für Raeseng so wenig wie für sein eigenes Leben. Die Bibliothek blieb einsam und leer. Und irgendwo in dieser leeren Bibliothek war Raesengs Kindheit archiviert, für die niemand sich interessiert hatte, zusammen mit den Büchern, die sich nicht unterschieden von Kakteen im Regal oder einem schmückenden Steinfries.
Raeseng las aus reiner Langeweile. Er las nicht, weil er Bücher mochte, er las, weil er musste, denn sonst wären Langeweile und Einsamkeit zu groß geworden. Nachdem er mit neun Jahren das Alphabet entschlüsselt hatte, war er in der Bibliothek geblieben, bis er siebzehn war. Wenn man in einer Bibliothek aufwuchs, blieb einem nichts anderes übrig, als zu lesen. Mit siebzehn erledigte er seinen ersten Auftragsmord, und mit dem Honorar konnte er eine eigene kleine Wohnung beziehen. Die nächsten Einkünfte, die er als Killer verdiente, gab er für einen elektrischen Reiskocher, Reisschalen, einen Tisch und Besteck aus. Mit seinem neuen Kocher kochte er sich seinen Reis zum ersten Mal selbst.
Durch das Fenster im ersten Stock, durch das die Sonne hereinstrahlte, spähte er hinunter. Die Bibliothekarin war noch nicht aus der Mittagspause zurück, und Old Raccoons Tür war immer noch geschlossen. Raesengs Blick wanderte an den Bücherregalen entlang nacheinander nach Osten, Norden, Süden und Westen. Die Reihen der schlafenden Bücher waren still und stumm wie das Meer im Abendnebel. Plötzlich war es kaum zu glauben, dass dieser stille Ort in den letzten neunzig Jahren das Herz einer Mördergrube beherbergt haben sollte. Es war ein erstaunlicher Gedanke, dass all diese Todesfälle, diese Ermordungen und unaufgeklärten Vermisstenfälle, die vorgeblichen Unfälle und Inhaftierungen und Entführungen, hier in diesem Gebäude beschlossen und geplant worden waren. Wer hatte entschieden, dass solche abscheulichen Taten von hier aus gesteuert werden sollten? Was für ein Wahnsinn. Eher hätte es eingeleuchtet, sein Lager im Büro der Nationalen Gewerkschaft der Chemischen Reinigungsmitarbeiter aufzuschlagen oder beim Organisationskomitee zur Wiederbelebung der Hühnerzucht. Warum in einer Bibliothek? Bibliotheken waren stille Räume voller Bücher. Wem hatten sie jemals ein Haar gekrümmt?