Frau Lemke hatte sich bei ihm eingehakt. Die Straße ließ den Autos nur Platz für eine Spur, dafür gab es vor den Häusern Gärten, eingefasst von verschnörkelten Eisenzäunen. Es war ein ruhiger Teil Berlins, die Aufregung und der Hype um die Stadt in den letzten Jahrzehnten waren nicht bis hierhin vorgedrungen. Frau Lemke deutete auf die verschiedenen Bäume.
»Schau, der ist kurz davor zu blühen, und schau, der auch. Ich kann es kaum erwarten, dass der Frühling kommt«, sagte sie.
Sie überholten eine über ihren Rollator gebeugte Frau, die das Gerät mit kleinen Schritten über den holprigen Pflastersteinweg schob.
»Viel zu viele alte Leute unterwegs hier«, sagte Frau Lemke.
Georg hoffte, dass die Frau bereits außer Hörweite war. Das Alter war ungerecht, dachte er. Jeder nahm an, er würde von den Gebrechen verschont bleiben, als wäre die Unvergänglichkeit ein natürliches Recht, auf dem man beharren konnte. Frau Lemke fühlte sich stark mit Georg an ihrer Seite, das merkte er. Sie wirkte gelöster außerhalb ihrer Wohnung, es tat beiden gut, eine Pause von ihren Erinnerungen zu haben, die geordnet werden mussten. Zehn Minuten bevor der Mittagstisch um 12 Uhr begann, erreichten sie das Restaurant. Lange hatte sich Frau Lemke gesträubt, asiatisch zu essen. Als er sie endlich dazu überredet hatte, wollte sie nur noch zu dem kleinen vietnamesischen Restaurant am Platz vor dem Rathaus. Die Bedienung kam gleich auf sie zu und führte sie zu dem Tisch, an dem sie am liebsten saßen. Sie waren die ersten Gäste.
Georg las Frau Lemke das Menü vor, weil sie ihre Brille vergessen hatte. Dabei musste er die Karte weiter weg und ans Licht halten, und selbst dann fiel es ihm heute schwer, die Buchstaben scharf zu stellen. Er würde über eine Brille nachdenken müssen. Für sich bestellte er das Tofucurry scharf, Frau Lemke nahm das Pad Thai. Sie strich der Bedienung über den Arm.
»Sie wissen, für mich nicht scharf.«
»Wie immer«, sagte die Bedienung.
Ihre Rituale machten ihn traurig. Ihm wurde bewusst, dass alles vorbei sein würde, wenn nicht bald etwas geschähe. Er hatte mit Frau Lemke immer noch nicht darüber gesprochen, was er über Wolfgang herausgefunden hatte. Nie schien der richtige Moment zu sein. Frau Lemke entfaltete die Serviette und legte sie auf ihren Schoß.
»Ich hoffe, in New York gibt es auch Mittagstische«, sagte sie.
Georg hatte Wolfgang letztlich doch geschrieben. Tagelang hatte er über den Wortlaut nachgedacht, umformuliert, verbessert, Gemeinheiten hinzugefügt, sie wieder gestrichen, am Ende alles verworfen. Als er gestern an seinem Bürotag am Schreibtisch saß und die Betriebskostenabrechnungen für das Haus zusammenstellte, googelte er wieder Wolfgang. Stundenlang konnte Georg sich darin verlieren. Sogleich spürte er die Wut in sich aufkommen, und dann ging es sehr schnell. All das, was er in den Tagen davor formuliert hatte, floss aus ihm heraus. Er schrieb Wolfgang, wie sehr seine Mutter litt, die Wohnung auflösen zu müssen, wie verwurzelt sie in dem Haus, ja in der ganzen Nachbarschaft war. Dass Georg sich um sie kümmerte und das auch gern in Zukunft übernehmen würde. Dass er den Streit von damals begraben wollte, um mit ihm gemeinsam zu überlegen, was das Beste für seine Mutter wäre. Georg versuchte, offen zu klingen, Wolfgang nicht auf den Schlips zu treten. Doch er musste ihn auch wissen lassen, dass er Bescheid wusste, dass er ihn durchschaut hatte. Und deshalb setzte er an das Ende der Mail die Frage, ob Wolfgang sich gut in Queens eingelebt hätte.
Er las die Mail mehrmals, klickte schließlich auf »Senden«, bevor er sie löschen konnte. Seitdem wartete er auf eine Antwort.
Die Vorspeise kam, Misosuppe.
»Warum machen die da immer so viel Grünzeugs rein?«, fragte Frau Lemke, wie immer. »Es wird merkwürdig sein, wenn wir hier zum letzten Mal essen werden.«
Noch sechs Wochen, und der Abschied klebte schon an ihnen.
Sie aßen ihre Suppen.
»Was macht Caro?«, fragte sie.
»Ich weiß nicht. Ihr Löwe im Zoo ist krank.«
»Ich habe gesehen, wie sie neulich morgens das Haus verlassen hat.« Frau Lemke zwinkerte ihm zu.
Nachdem Caro gegangen war, hatte er die Schale mit den Ringen in den Restmüll geworfen. Linda erdrückte ihn.
SCHATTEN LÖSUNG LACHEN
Die Magnetstreifen auf dem Kühlschrank starrten ihn an.
AUFWACHEN, es war Zeit für ihn.
Er wollte nicht mehr rätseln, welche Botschaft Linda ihm zum Abschied hinterlassen hatte. Er hatte die Magnete abgenommen und zu den Ringen geworfen. All die Jahre mit Linda, über zwanzig Jahre, hatte er sich leben lassen, war ihr unbeteiligt hinterhergelaufen. Er durchstreifte die Wohnung auf der Suche nach Spuren seines Lebens und fand überall nur Linda. Der Flur eine Galerie, oder eine Anklage, überall Linda mit ihrem Schmerz. Es würde nicht viel übrig bleiben, wenn er ihre Sachen wegräumte. Er verstand, wie schwer es Frau Lemke in den letzten Wochen gefallen war, die Menschen aus ihrem Leben gehen zu lassen. Auch er lebte mit seinen Andenken. Die Jugendstilkommoden seines Opas, die er nach dessen Tod übernommen hatte. Die Ikea-Einbauküche, auf die Linda und er sich geeinigt hatten. Ein emotionsgeladener Kauf war das gewesen, denn schon das Wort »Einbauküche« empfanden sie als Provokation. »Auf gar keinen Fall«, »Damit kann ich nicht leben« und »Niemals« warfen sie sich an den Kopf, bevor ein Küchenplaner eine Lösung mit ihnen erarbeitete.
Die Einrichtung war ein Kompromiss, niemals das, was er wollte, aber immer das, worauf sie sich einigen konnten. Mit der Zeit mehr, was Linda wollte, denn er war es leid, alles zu diskutieren. Er hatte sie machen lassen, bei dem einen oder anderen Möbelstück jedoch betont, dass es nicht sein Geschmack war. Sie bevorzugte es nüchtern, grau, klare Linien. Er liebte gelebte Möbel, mit sichtbaren Spuren, dass sie Menschen begleitet hatten. Möbel mit Macken und Wunden.
Weil Lindas Atelier überquoll und sie nur selten Gemälde verkaufte, schleppte sie über die Jahre immer mehr Bilder in die Wohnung und zeigte ihm, was sie ihm nicht mehr sagte, weil sie mit zunehmenden Jahrestagen weniger miteinander sprachen, über die wichtigen Dinge, die sie bewegten. Nur die Küche und das Schlafzimmer blieben frei von ihren Bildern, darauf hatte er bestanden.
Seitdem Caro an jenem Morgen seine Wohnung verlassen hatte, spürte Georg zum ersten Mal den Drang, sich zu befreien. Alles, was Linda gehörte, musste raus.
Er schrieb ihr, um sie zu fragen, wohin er ihre Sachen bringen sollte, und dass er sie entsorgen müsste, wenn sie ihm nicht innerhalb einer Woche antwortete. Die Drohung empfand er als zu stark, sendete die Mail dennoch ab, denn er brauchte eine Reaktion.
Dann holte er die Ringe und die Magnetstreifen aus dem Müll. Vielleicht wollte Linda sie zurückhaben.
Als ihnen der Hauptgang serviert wurde, füllte sich das Restaurant. Am Eingang warteten mehrere, überwiegend ältere Gäste auf einen Platz.
Frau Lemke lehnte sich zu Georg vor.
»Schau dir die Alten an, sie sitzen den ganzen Tag zu Hause rum und schaffen es nicht, rechtzeitig zum Mittagstisch zu erscheinen«, flüsterte sie.
Wenn es um ihre Generation ging, konnte Frau Lemke richtig böse sein. Er verstand nicht, warum sie so ungnädig war.
Die Bedienung kam an ihren Tisch, fragte, ob alles in Ordnung sei. Frau Lemke streichelte ihren Arm.
»Alles bestens, ich werde das Essen vermissen.«
»Gehen Sie weg?«
»Ich ziehe nach New York zu meinem Sohn.«
Die Bedienung lachte. »Da gibt es viel besseres Essen als hier!«
»Ich weiß es nicht.« Frau Lemke senkte den Kopf.
Wenn Wolfgang sich nur auf seinen Vorschlag einließe, dachte Georg.
»Ich bin froh, dass du jetzt Caro hast«, sagte Frau Lemke. »Es würde mir schwerfallen, wenn ich dich allein zurücklassen müsste.«
Caro.
Er hatte keine Ahnung, was mit ihr war.
Beim Abschied hatte sie gesagt, sie würde sich melden. Das hatte er so verstanden, dass er sie nicht anrufen sollte. Seitdem hatten sie nichts voneinander gehört.