Es war Mittwoch, und er kehrte die Treppe. In der Brusttasche seines Blaumanns steckte sein Handy. Seit Tagen wartete er auf Antworten aus Australien und New York. Er bemühte sich, nicht alle fünf Minuten seine Mails zu checken. Deshalb seine Abmachung: Zwei Absätze kehren, erst dann erlaubte er sich einen Blick auf sein Handy. Vor der Wohnungstür der Müllers türmten sich schmutzige, nasse Schuhe und ein Laufrad. Er konnte es nicht fassen. Sie hielten sich einfach nicht an seine Regeln. Hinter der Wohnungstür hörte er Kindergeschrei, und er überlegte, ob er erst einmal in den Hinterhof gehen und dort aufräumen sollte, um sich abzuregen. Aber er hatte genug davon, dass die Leute dachten, sie könnten ihm auf der Nase herum- tanzen.
Er klingelte.
Herr Müller öffnete, an seinem Bein hing ein Kind.
»Oh, hallo, sind wir zu laut?«
»Nein, nein. Es geht um das hier.« Georg deutete auf die Schuhe und das Rad. »Das kann hier nicht bleiben. Steht in der Hausordnung.«
»Sorry, kein Problem. Marie, hilf mal, die Sachen reinzustellen.«
»Danke«, sagte Georg. »Es wäre schön, wenn ich Sie nicht immer daran erinnern müsste.«
Das kleine Mädchen und der Vater räumten die Schuhe weg.
»Wir wissen, es ist nicht erlaubt, wir vergessen es nur immer«, sagte Herr Müller. »Zu viel Trubel.« Er lächelte Georg an.
Er war ein alter, nörgelnder Hausbesitzer geworden, ein Kinderschreck, dachte Georg. Jemand, der er nie hätte sein wollen. Er schämte sich. Aber er wusste auch, wenn er das durchgehen ließ, würden auch die anderen Mieter ihre Schuhe, und wer weiß was sonst noch, vor die Türen stellen. Dann sähe es im Hausflur aus wie in einer Rumpelkammer.
Er kehrte weiter bis nach unten, holte Wischwasser. Bei dem schlechten Wetter war die Treppe besonders verschmutzt. Das Angebot seines Vaters kam ihm wieder in den Sinn. Würde Georg verkaufen, müsste er niemanden mehr zurechtweisen, kein Treppenhaus mehr putzen. Vor allem, wenn es so verdreckt war wie jetzt, machte es keinen Spaß. Nach jedem Absatz musste er das Wasser wechseln. Auf der anderen Seite war er gern der Hausbesitzer, der oben auf seinem Thron im vierten Stock saß und über alle wachte. Georgs Vater hatte bei seinem letzten Anruf vor drei Tagen noch einmal betont, was für ein gutes Angebot er ihm gemacht habe. Und dass er sich schnell entscheiden müsse. Wenn Georg über die Finanzierung der Wasserstrangsanierung nachdachte oder über die zwanzig Jahre alten Gasthermen, die in den Wohnungen hingen und nach und nach ausgetauscht werden mussten, bekam er Angst.
Sein Handy vibrierte.
Eine Nachricht von Kai. Er müsse sich dringend mit ihm treffen, ginge nicht telefonisch. Wann er Zeit habe. Australien und New York schwiegen.
Er würde gern mit Caro sprechen, seine Gedanken sortieren. Das Wasser musste wieder gewechselt werden, es war nicht sein Tag heute.
Im Hinterhof waren die Büsche und Bäume noch kahl, die Spitzen prall gefüllt. In diesem Zustand fiel es ihm schwer, sich vorzustellen, dass es jemals wieder grün werden würde, so grün, dass man den braunen Boden nicht mehr sah, die Äste unter dem Blattwerk verschwanden. Er fegte die Steinplatten, rechte die Wiese, harkte den Boden unter den Büschen. Noch keine Spur von Frau Lemke. Die oberen Fenster waren aber geöffnet, der Vorhang nicht ganz geschlossen, sie musste zu Hause sein. Er konnte nicht umhin, die Mülltonnen zu kontrollieren, sprang in die Altpapiertonne, um die Kartons der Müllerfamilie zu zerkleinern. Er sollte sie darauf ansprechen, dass sie ihre Kartons vor dem Einwerfen zerlegten, eigentlich war das doch selbstverständlich. Die Ignoranz gegenüber den anderen Hausbewohnern ärgerte ihn.
Sein Handy klingelte, eine ausländische Vorwahl. Endlich. Was auch immer jetzt passierte, es war besser, als weiter zu warten. Er ging ran.
»Hier ist Wolfgang.«
Georg setzte sich auf das Altpapier in der Tonne. Er sah Frau Meyer am Fenster. »Gut, dass du anrufst. Wir müssen einiges besprechen.«
»Ich sage es mal ganz direkt: Könntest du bitte meine Mutter in Ruhe lassen?«
Wolfgangs Stimme klang tiefer, als Georg sie in Erinnerung hatte. Er sprach mit einem leichten amerikanischen Akzent, ein Singsang in der Satzmelodie.
»Ich kümmere mich um sie«, sagte Georg. Er fühlte sich sofort unterlegen.
»Du setzt ihr Flausen in den Kopf, von wegen, sie könne weiterhin allein in der großen Wohnung leben. That’s bullshit.«
»Wenn du sie mal besuchen würdest, könntest du sehen, dass es ihr gut geht.«
Georg sprach durch die Zähne, mit Druck, er musste ruhig bleiben, durfte nicht die Nerven verlieren, sagte er sich. Er wollte aus der Tonne steigen, rutschte auf einem Karton aus und konnte gerade noch sein Handy festhalten.
»Da ist so ein Knacken in der Leitung, ich kann dich schlecht verstehen«, sagte Wolfgang.
Georg setzte sich wieder auf das Papier und nahm all seinen Mut zusammen, jetzt war der Moment, es zu sagen.
»Ich weiß, dass du pleite bist, Wolfgang.«
Stille.
»Es stimmt nicht, was du da gelesen hast. Sie wollen immer irgendjemanden fertigmachen, am liebsten reiche Männer. Ich bin mitten in einem Umschichtungsprozess.«
»Warum soll deine Mutter nach New York kommen? Was willst du von ihr?«
»Das geht dich nichts an. Misch dich nicht in unsere Angelegenheiten ein.«
Die amerikanische Melodie in seiner Sprache nahm den Gemeinheiten die Spitze, und doch trafen sie Georg tief. Dann kam, was er befürchtet hatte. Der letzte Satz, mit dem Wolfgang vor Jahrzehnten aus seinem Leben verschwunden war.
»Du bist nicht ihr Sohn.«
Nicht.
Ihr.
Sohn.
Georg hatte nichts zu melden in dieser Familie, die nicht seine war, aber doch die einzige, die er hatte.
»Du hast dich in den letzten Jahrzehnten nicht um sie gekümmert«, sagte Georg. »Aber ich.«
»Ich kann sie seit gestern nicht erreichen. Kannst du mir sagen, was los ist?« Nach einer Pause: »Du kümmerst dich doch um sie.«
Georg drehte sich um, sah, dass Frau Meyer ihn immer noch beobachtete, sah Frau Lemkes Küchenfenster, die offen stehenden oberen Fenster, den verrutschten Vorhang. Und dann rechnete er nach, wann er sie zum letzten Mal gesprochen hatte. Erst brachte er die Tage durcheinander, dann fiel ihm ein, dass es gestern Morgen gewesen sein musste. Am Nachmittag hatte sie das Telefon nicht abgenommen, als er sie fragen wollte, ob er ihr etwas vom Einkaufen mitbringen sollte. Er dachte, sie würde schlafen. Etwas schrie in ihm.
Georg sprang aus dem Container und rannte die Treppe hinauf.
Er klingelte und horchte abwechselnd an der Tür, ob er Frau Lemke den Flur heruntergehen hörte.
Nichts.
Es war seine Schuld. Wieder war er nicht da gewesen, als er gebraucht wurde. Er hätte nach ihr schauen müssen, als er sie gestern nicht erreicht hatte.
Frau Meyer kam aus der Tür.
»Ist etwas passiert?«
»Frau Meyer, würden Sie sich bitte einfach um Ihre Angelegenheiten kümmern? Verdammt noch mal!«
Sie schüttelte den Kopf, ging zurück in ihre Wohnung. Erschien noch einmal an der Tür.
»Ich habe gestern einen dumpfen Knall gehört. Und dann nichts mehr.« Ihre Augenbrauen bewegten sich nicht.
Er wählte Frau Lemkes Nummer. Sie hatten ausgemacht, dass sie das Handy immer bei sich tragen sollte. Aber sie vergaß es ständig, und er hatte sie nicht streng genug ermahnt. Die Mailbox sprang an. »Hier ist Frau Lemke. Wie Sie hören, bin ich nicht zu erreichen.«
Er brauchte den Ersatzschlüssel, rannte hoch in seine Wohnung, schaute im Flur an Linda vorbei, weil sie wieder recht hatte mit ihrem Vorwurf, er würde keine Verantwortung übernehmen. Er spürte sein Herz im Hals klopfen, als er wieder vor Frau Lemkes Tür stand. Noch einmal versuchte er es, klingelte an der Tür, klopfte, rief sie an.
Nichts.
Seine Hand zitterte, als er den Schlüssel zum Schloss führte, er musste sie mit der anderen stabilisieren. Seine Vorstellung spielte Pingpong. Auf der einen Seite die Angst, dass das Schlimmste eingetroffen war, was er sich nur ausmalen konnte. Auf der anderen Seite die Erleichterung, alles eine Verwechslung, ein Missverständnis. Frau Lemke hatte die Zeit vergessen, verschlafen.
Stille, als er die Tür öffnete und einen Herzschlag lang wartete, bevor er die Wohnung betrat. Eine Fliege surrte an seinem Ohr, sie machte einen Bogen und flog dicht an seinen Augen vorbei. Er schlug nach ihr.
»Frau Lemke?«, fragte er leise, dann lauter: »Frau Lemke?«
Im Flur brannte das kleine Licht auf der Kommode, alle Türen standen offen, Kartons im Flur. Manche geschlossen und beschriftet, manche geöffnet. Er rannte in die Küche. Seine Schuld. Wieder.
Ruthchen schlief auf dem Sofa.
Vor ihr auf dem Boden, neben der umgestürzten Leiter, lag Frau Lemke, in ihrer elfenbeinfarbenen Bluse. Die Augen geschlossen, ihre Beine verdreht. Sein Reflex sagte ihm, wegrennen, sich verstecken. Sein Verstand sagte ihm, nachdenken, bei ihr bleiben, helfen. Er beugte sich zu ihr hinunter, legte seine Hand auf ihren Bauch, sein Ohr an ihren Mund. Sie atmete. Sie war warm.
»Frau Lemke, bitte.«
Er verscheuchte die Fliege, die sich auf Frau Lemkes Wange niedergelassen hatte.
»Es gibt hier nichts für dich zu holen, verschwinde!«, schrie er.
Er rief einen Krankenwagen.
Frau Lemke hielt die Augen geschlossen, wurde unruhig, wollte ihm etwas sagen, so schien ihm.
»Schschsch. Hilfe ist unterwegs. Alles wird gut.«
Er befeuchtete ein Geschirrhandtuch, betupfte ihre trockenen Lippen.
»Es tut mir so leid.«
Er hielt ihre Hand, weinte. Sekunden dehnten sich zu Stunden. Auf dem Tisch stand das Frühstücksgeschirr, eine Tasse, ein Teller, die Butter ranzig und gelb angelaufen.
Er sagte ihr, dass sie ihn nicht allein lassen dürfe. Dass er sie gewarnt habe, auf die Leiter zu steigen. Dass es ihm leidtue, dass er nicht reagiert habe, als er sie nicht erreicht hatte gestern Nachmittag. Wo sie doch ausgemacht hatten, dass er sofort nach ihr schaue, wenn sie sich nicht melde. So war ihr Deal. Wegen ihm habe sie die ganze Nacht so daliegen müssen, verdreht, bei Bewusstsein oder nicht.
Er hatte das Gefühl, sie hörte ihm zu, dass sie ihn verstand, dass er sie hierbehielt, zurückhielt.
Als es an der Tür klingelte, sagte er ihr, dass er sie kurz loslassen müsse, um den Ärzten zu öffnen, dass sie genauso bleiben und auf ihn warten solle.
Die Rettungsärzte stürmten herein, brachten eine routinierte Panik in die Küche, legten Zugänge in Frau Lemkes adrige Arme, hielten Beutel mit Flüssigkeiten in die Höhe. Bald hing Frau Lemke an mehreren Schläuchen, eine Atemmaske saß auf ihrem Gesicht. Sie hoben Frau Lemke auf eine Trage und schnallten sie fest.
Die Fliege surrte an Georgs Ohr. Sie landete auf Ruthchens Schnauze, strich sich mit den Hinterbeinen über die Flügel.
»Kann ich mitkommen ins Krankenhaus?«, fragte Georg.
»Dann können wir den Papierkram im Wagen machen«, sagte der Notarzt.
Frau Lemke wurde über den Flur geschoben, die Rollen der Trage ratterten auf den Dielen. Bam, bam, bam. Georg holte Ruthchens Decke aus dem Schlafzimmer, wickelte die Katze ein, steckte sie in eine von Frau Lemkes Einkaufstaschen. Die Fliege zog an ihm vorbei, er schlug nach ihr, sie drehte einen weiten Kreis unter der Küchendecke. Georg bewegte sich nicht, nur seine Augen folgten der Fliege, die schließlich mitten auf dem Sofa landete, dort, wo Ruthchen sonst schlief. Er holte aus und hatte sie auf einmal in der Hand, spürte ihre Flügel gegen seine Haut stoßen, die surrende Todesangst in seiner Faust. Er hatte noch nie eine Fliege gefangen. Er drückte die Hand fest zusammen, so fest, bis das Surren verstummte, das Gewusel aufhörte, bis es feucht wurde auf seiner Handinnenfläche.
Er hatte den Tod besiegt.
In der Spüle wusch er die Fliege ab, sah sie im Abfluss verschwinden, schrubbte den Fliegenkörpermatsch von seiner Hand, rannte hinaus aus der Wohnung, in der sich alles verändert hatte in den letzten Wochen, die nie mehr das sein würde, was sie für ihn gewesen war.
Er sprang mit Ruthchen in der Einkaufstasche in den Krankenwagen.