Frau Lemke hatte erzählt, dass die Bäume auch während der Bombenangriffe geblüht hatten, und später, als es in der Stadt mehr Bombenkrater als Häuser gegeben hatte. Die Bäume störten sich nicht an dem Wahnsinn um sie herum. Deshalb war es Georgs und Frau Lemkes Tradition geworden, durch die Parkanlage zu spazieren, sobald sich die ersten Kirschblüten öffneten, am liebsten auf der Mitte der Straße durch das Spalier der Bäume hindurch. Auch als Zeichen: Egal, was passierte, auch sie kam jedes Jahr zurück. Nur nicht in diesem Jahr, dachte Georg.

Als er Frau Lemkes Wohnungstür aufschloss, wunderte er sich. Er hätte schwören können, dass er die Tür abgeschlossen hatte, denn er war in diesen Dingen gewissenhaft. Unzählige Male war er schon die vier Etagen zu seiner Wohnung hochgelaufen, wenn er sich nicht sicher gewesen war, ob er abgeschlossen hatte oder nicht. Bei anderen war er noch gewissenhafter. Er überlegte, ob er zu abgelenkt gewesen war, gestern, als er für Frau Lemke Blusen aus der Wohnung geholt hatte. Nach und nach leerte sich ihr Kleiderschrank, der sich über vier Meter an der Wand erstreckte. Er schrieb sich ihre Anweisungen immer auf, in welcher Schublade oder in welchem Fach er was finden würde.

Er müsse in drei Tagen Bescheid wissen, ob Georg das Haus verkaufe oder nicht, hatte der Vater gesagt. Und obwohl für Georg die Entscheidung feststand, erbat er sich Bedenkzeit bis Ende der Woche. Einfach weil er in dem Augenblick keine Lust gehabt hatte, seine Beweggründe zu erklären.

Trotzdem erschien es ihm seltsam, dass er die Tür nicht abgeschlossen haben sollte, und er hatte das Gefühl, dass jemand in der Wohnung war. Er wartete an der Tür, blickte sich um, suchte nach Zeichen, aber alles schien ihm, wie er es hinterlassen hatte. Licht fiel durch die offen stehenden Zimmertüren in den Flur. Er ging in das Schlafzimmer, öffnete, wie ihm aufgetragen worden war, die dritte Schranktür von links, ohne sich in dem Raum umzuschauen, denn in Frau Lemkes Schlafzimmer zu sein fühlte sich für ihn immer noch an, als dringe er in ihre Privatsphäre ein. Das Bett war gemacht, faltenfrei, das musste ihr Morgenritual sein, gleich nach dem Aufstehen. Seines war immer zerknüllt. Die blaue Baumwollhose, die vierte von oben, er zählte ab, es gab insgesamt drei blaue Hosen übereinander, und er beschloss, alle drei mitzunehmen. Nicht weil er an ihrer Genauigkeit zweifelte, sondern falls sich eine Hose als unbequem erwies, wie es in den letzten Tagen oft der Fall gewesen war. Er steckte die Hosen in seinen Rucksack, hörte Schritte auf den knarzenden Dielen. Er

Wieder Schritte über den Flur, sie stoppten vor dem Schlafzimmer. Er hörte schweres Atmen, es klang nach einem Mann. Georg drückte sich in den Schrank, schloss die Augen, als könnte er sich so unsichtbar machen. Sein Herzschlag pochte in seinen Ohren, er lauschte dem lauten Atmen in der Tür. Die Person näherte sich.

»Georg.«

Die Abfälligkeit, mit der sein Name ausgesprochen wurde, kannte er.

Er öffnete die Augen.

Vor ihm stand ein Mann mit der Figur eines Fasses, so war Georgs erster Eindruck: breit in der Mitte, oben und unten schmaler. Der Mann trug einen Anzug mit Krawatte, auf jeden Fall nicht von der Stange. Die Krawatte eng anliegend, der Hals drängte aus dem Kragen. Die Kopfform erinnerte ihn an ein Ei, seitlich umrundet von einem grauen Haarkranz. In dem aufgedunsenen Gesicht erkannte er die schmalen Lippen, die wie eine Linie im Gesicht lagen, die spitze Nase und die eng zusammenstehenden Augen, die so dunkel schienen, dass der Übergang zwischen Pupille und Iris kaum auszumachen war.

Wolfgangs stechender Blick war auf ihn gerichtet, aber Georg empfand ihn nicht als bedrohlich. Nicht mit den hängenden Wangen, nicht mit der Jämmerlichkeit, die Wolfgang ausstrahlte.

»Was suchst du in dem Schrank?«, fragte Wolfgang. »Geld?«

Vor ihm hatten sie sich die ganze Zeit gefürchtet, dachte Georg.

»Deine Mutter hat mich gebeten, ihr Hosen zu bringen.«

»Hängst du immer noch an ihrem Rockzipfel? Fucking hell.«

Wolfgang hatte über die Jahre dieses fiese Lächeln behalten, bei dem er nur einen Mundwinkel nach oben zog. Er näherte sich, Georg konnte sein Parfum riechen. Er mochte es nicht, zu stark, zu maskulin.

»Nur zu deiner Information, Georg. Ich habe die Vormundschaft übernommen. Nächste Woche wird der Müll hier abgeholt, und dann ist Schluss.«

»Sie will nicht nach New York.«

»Es wäre nett, wenn du auf die Kündigungsfrist verzichten würdest. Nachdem dein Opa ihr das Haus abgeschwatzt hat, wäre es das Mindeste, was du tun könntest.«

Erst jetzt sah Georg das Bild in Wolfgangs Hand. Dasselbe Foto hatte er bei ihrer letzten Begegnung vor über dreißig Jahren auf den Boden geworfen. Georg

»Ich weiß nicht, warum sie in all den Jahren in so einer Bruchbude gelebt hat«, sagte Wolfgang.

Das Bild in der Hand des jungen Wolfgang, sein schlanker Körper. Er erinnerte sich an einen brüllenden Wolfgang. Georg kam dazu, weil jemand den Türöffner gedrückt hatte. Wagte sich erst nicht in die Küche. Spitze Schreie von Frau Lemke, dann stürzte er hinein, sah, wie Wolfgang ihr eine Ohrfeige gab und das Bild zu Boden warf. Frau Lemke kauerte auf dem Steinboden, zwischen Glassplittern, die Arme schützend über den Kopf gelegt. Georg hatte sich zwischen sie und ihren Sohn gestellt.

Wolfgang schrie: »Du Hure!«

Georg mit seinen vierzehn Jahren wusste, was das bedeutete, und war entsetzt, dass jemand so mit Frau Lemke sprach. Dann stürmte Wolfgang hinaus, streifte ihn, kehrte um und boxte ihm in den Magen. Georg erinnerte sich an den Schmerz, als sich sein Körper auf einen Punkt in seinem Magen zusammengezogen hatte.

»Du bist nicht ihr Sohn«, hatte Wolfgang gesagt und war hinausgerannt.

Georg hatte Frau Lemke einen Eisbeutel für ihr geschwollenes Auge gebracht und war in den nächsten Tagen für sie einkaufen gegangen. Sie hatten nie wieder über den Vorfall gesprochen. Aber er blieb bei ihnen, wie eine Narbe, die irgendwann Teil von einem ist.

»Ich nehme sie übrigens nicht mit nach New York«,

»Was soll sie denn da?«

Georg schaute auf das Bild in Wolfgangs Hand. Die schmalen Lippen des Schwagers, nur ein Strich im Gesicht, die spitze Nase, die eng zusammenstehenden Augen. Georg schaute in Wolfgangs Gesicht. Der warf das Bild auf das Bett.

»Was ich mit meiner Mutter mache, geht dich nichts an«, sagte er. »Außerdem hätte ich gerne den Schlüssel. Noch haben wir die Wohnung gemietet. Du musst dich vorher anmelden, wenn du hier reinwillst.«

Wolfgang schritt auf ihn zu, bis sich ihre Bäuche berührten. Seine Leibesfülle hielt ihn etwas auf Distanz, Wolfgangs Spucke landete beim Sprechen dennoch in Georgs Gesicht.

»Du hast hier nichts verloren.«

Wolfgangs Augen blitzten. Aber Georg hatte keine Angst, er war wütend. Was bildete sich der Typ ein, hier alles bestimmen zu wollen. Georgs Hand umschloss den Schlüsselbund in seiner Hosentasche, er spürte, wie sich das Metall in seine Haut drückte. Er hielt Wolfgangs Blick stand, er würde ihm nicht ausweichen.

Georg schlug die Schlüssel so fest in Wolfgangs Hand, dass er dessen Arm nach unten drückte. Dann lief er über die sich beschwerenden Dielen, zum letzten Mal, wie es ihm schien.

Erst als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, fiel ihm ein, dass Ruthchen noch auf dem Sofa in Frau Lemkes Wohnung schlief.