Am Ende des Flurs schob Frau Lemke ihren Rollator auf und ab, ihr tägliches Training. Im Krankenhaus bevorzugte sie Kleidung in knalligen Farben, heute trug sie eine rote Bluse, ihr Haar war so gut es ging frisiert. Schon seit Tagen sagte sie ihm, dass sie einen Friseurtermin brauche. Sie winkte ihm zu, er spürte etwas im Hals, das Schlucken fiel ihm schwer, als er sich ihr näherte.

»Da bist du ja endlich«, sagte sie. »Ich bin schon fünf Mal auf und ab gelaufen. Lass uns zum Aufzug gehen, dann kannst du mich in den Garten fahren. Es ist so schön draußen.«

Sie setzte sich in den Rollstuhl.

»Das tut gut.«

Den Rollator hasste sie, aber sie ließ sich gern von Georg durch den Krankenhausgarten schieben. Die Logik erschloss sich ihm nicht.

»Frische Luft, endlich«, sagte Frau Lemke, als sie den Garten erreichten. Er schob sie die Wege entlang, vor einzelnen Blumen oder Büschen hielten sie an. Frau Lemke beklagte sich über die anderen alten Leute auf ihrer Station, dass sie immer über Krankheiten reden wollten, während sie nur eine neue Hüfte hatte. Der Kopf schmerzte noch manchmal.

Wie sollte er ihr sagen, dass Wolfgang sie in einem Pflegeheim unterbringen wollte, fragte er sich. Irgendwo in Brandenburg, nicht mehr New York.

»Der Doktor meinte, er hätte einen Rehaplatz für mich organisiert, das könnte jetzt schnell gehen. Ich glaube, ich bin denen hier zu aktiv. Die haben es lieber, wenn die Leute im Bett liegen und fernsehen.«

Georg war froh, dass er sie schob und sie sein Gesicht nicht sehen konnte.

»Lass uns ein wenig auf die Bank setzen«, sagte sie. »Dann können wir besser reden.«

Er suchte einen Platz im Schatten, weil die direkte Sonne zu heiß für sie wäre. Als sie saßen, zeigte er ihr die Fotos von den Kirschbäumen.

»Das erste Jahr, dass ich sie verpasse. Ich hoffe, das ist kein schlechtes Omen.«

Sie lauschten den Vögeln. Eine Biene summte an ihnen vorbei. Alles klang nach Aufbruch, aber so fühlte er sich nicht.

»Was ist los mit dir, Georg?«, fragte sie und legte ihre Hand auf seinen Arm. »Du siehst aus, als ob dich etwas bedrückt.«

Er musste es ihr sagen, alles. Er war sich nicht sicher, wie viel sie auf einmal verkraften konnte.

»Könnten Sie sich vorstellen, in Ihrer Wohnung weiterzuleben, und ich passe sozusagen auf Sie auf?«, fragte er.

»Aber das machen wir doch schon.« Sie rieb seinen

Sie schwiegen.

»Das mit New York verschiebt sich ja«, sagte sie.

Sie hatte die Augen geschlossen. Irgendwann neigte sich ihr Kopf leicht zur Seite, lange tiefe Atemzüge.

Er lehnte sich vor, beobachtete das Gras unter ihm, das Gewimmel der Ameisen. Ein Schmetterling landete auf der Löwenzahnblüte vor ihm, legte die Flügel flach, flog weiter. Georg war jede Leichtigkeit verloren gegangen. Bisher war er immer so mitgeschwommen im Fahrwasser des Lebens anderer, die die Richtung bestimmten. Alles war zu ihm gekommen, und er hatte es irgendwie geschehen lassen. Seine erste große Entscheidung war gewesen, seinen Job aufzugeben, und damit den letzten Rest von Karriereplänen, die vielleicht noch in ihm geschlummert hatten. Und jetzt musste er sich wieder entscheiden, wurde zum Handeln gezwungen, sonst würde Frau Lemke in einem Pflegeheim landen.

Georg beobachtete die Ameisen auf der Wiese vor ihm, die Pakete trugen, die mindestens doppelt so groß waren wie sie selbst. Er warf ihnen kleine Stöckchen in den Weg. Für einen kurzen Moment herrschte Chaos, bis sie sich neu sortiert hatten, die Wege umgeleitet wurden und alles kontrolliert weiterlief.

Sich immer wieder neu ordnen. Frau Lemke zuckte kurz zusammen, schlief weiter. Er polsterte ihren Kopf an der Seite mit seinem Pulli. Irgendwo hatte sie ein Geheimnis um ihren Sohn vergraben, sie kamen nicht voneinander los, aber die Liebe reichte nicht, um alles

Er wollte seine eigene Ordnung schaffen. Er hatte Menschlichkeit gesucht, als er seinen Job aufgegeben hatte, und er steckte mittendrin. Er würde nicht zulassen, dass Frau Lemke in ein Pflegeheim abgeschoben wurde. Sie sollte in ihrer Wohnung bleiben, auch ohne Miete. Er musste Wolfgang so weit bringen, die Vormundschaft wieder abzugeben und sie beide in Ruhe zu lassen. Es war Georgs Aufgabe, sich um die Frau zu kümmern, die ihm so viel gegeben hatte, bei der er so oft Zuflucht gefunden hatte. Frau Lemke erwachte, lächelte ihn an. Er legte seine Hand auf ihre. Ein Schmetterling, vielleicht der von vorhin, setzte sich auf ihr Knie.

»Schau«, sagte sie.

»Frau Lemke, ich habe Wolfgang heute in Ihrer Wohnung getroffen.«

Er spürte, wie sich ihre Hand verkrampfte.

»Oh«, sagte sie. »Ist er in Berlin?«

Er warf viele kleine Stöckchen auf die Ameisenstraße vor ihnen.

»Er sagte, er hat ein Pflegeheim für Sie in Brandenburg ausgesucht.«

Chaos bei den Ameisen, sie liefen übereinander, bildeten einen Knoten, lösten ihn wieder auf, transportierten die Stöckchen ab.

»Ich finde nicht, dass Sie dorthin gehen sollten.«