Der Weg aus der Stadt führte über verstopfte Auto- bahnen, kreisende Abzweigungen, bis die Häuser auf einmal kleiner wurden, die Straßen breiter. Kurz hinter der Stadtgrenze war Land, dehnte sich der Himmel ungestört aus. Georg schaute in die Weite, die ihn immer verblüffte, wenn er aus der Stadt herausfuhr. Er nahm sich jedes Mal vor, dies öfter zu tun, wusste aber zugleich, dass er es vergessen würde, sobald er zurück zu Hause war.
Die Sonne brannte durch die Windschutzscheibe, Georg war heiß, und er hatte das Gefühl, in Caros Auto hinge immer noch der Geruch des toten Löwen. Anton saß hinten auf der Ladefläche, präpariert und gekämmt, fast schöner als zu Lebzeiten. Sie hatten ihn mit Seilen fixiert, er war viel leichter als vorher, Caro hatte seinen Körper aus einer Styropormasse geformt. Sie trug ihre Sonnenbrille und ihren Blaumann, der an ihr modisch wirkte. Georg spürte seinen Kopf, er hatte gestern zu viel Champagner getrunken und dann bei Caro noch mehr Alkohol, als sie Belas schriftliche Abiturprüfungen gefeiert hatten. Er mochte Caros Wohnung, sie war ordentlich und strukturiert wie ihre Werkstatt, sogar die Tiere, die auf den Regalen und Kommoden saßen, eine Amsel auf der Ablage über der Spüle, störten ihn nicht. Wenn er Bela und Caro zusammen erlebte, wünschte er sich, er wäre als Teenager so locker und aufgeschlossen gewesen wie Bela. In seinem Alter hatte Georg eine Verpflichtung gespürt, Karriere machen zu müssen, aber er kam nicht darauf, was es sein könnte, wusste nur, was es alles nicht war. Zum Beispiel Jura, wie es seinem Vater vorgeschwebt hatte.
Auch Caro war angespannt, beim Schalten drückten sich die Sehnen auf ihrem Arm durch. Sie hatte ihm erzählt, wie wichtig ihr der Wettbewerb war. Der Preis, den sie schon vor zehn Jahren für ihr letztes Projekt verdient hätte. Sie war überzeugt, dass sie nur nicht gewonnen hatte, weil sie eine Frau war in diesem von Männern dominierten Beruf, die alles unter sich ausmachten. Georg beobachtete sie, sie fuhr konzentriert, auf ihrer Unterlippe kauend. Er war sich nicht sicher, ob sie wegen der Meisterschaft nervös war oder wegen der Entführung, die sie planten.
»Ich weiß übrigens, dass da mal was zwischen dir und Madeleine gelaufen ist«, sagte sie.
Darauf war er nicht vorbereitet.
»Ich habe es gleich gemerkt, als sie in die Küche kam. Du wurdest unruhig.« Sie machte eine Pause. »Und dann natürlich die Sache vor dem Badezimmer.«
Er spielte mit dem Reißverschluss seiner Jacke, konnte Caro nicht anschauen.
»Es war vor dir und bevor Kai und Madeleine zusammengekommen sind. Und nur eine Nacht.«
»Ich will das gar nicht wissen. Mir geht es um Kai. Es wäre schrecklich für ihn, wenn er es irgendwann herausfinden würde.«
Die Sonne blendete, durchleuchtete ihn.
»Madeleine und ich haben ausgemacht, dass es unter uns bleibt.«
»Und das Kind ist nicht von dir?«
»Ja.«
»Na, dann.« Nach einer Pause: »Ich will nur nicht, dass du denkst, ich würde so etwas nicht mitbekommen.«
»Okay.«
Er versuchte sich zu beruhigen, wäre am liebsten aus dem Auto gestiegen und ziellos über einen der Äcker gelaufen, die sich links und rechts von ihnen ins Unendliche erstreckten.
Sie fuhren von der Autobahn, das Navi führte sie auf Nebenstraßen und noch kleinere Landstraßen. Schließlich sahen sie das Meer und waren beide aufgeregt, überlegten, ob sie kurz anhalten sollten, um mit nackten Füßen im Sand zu laufen. Doch sie fuhren weiter, Frau Lemke hatte Georg schon zweimal angerufen.
Ihr Ziel war ein Betonklotz am Strand, dem die DDR-Plattenbauweise trotz Renovierung anzusehen war. Sie parkten, schworen sich ein, dass sie cool bleiben, dass sie das durchziehen würden. Dann folgten sie der Beschreibung, die Frau Lemke ihnen gegeben hatte. Sie gingen grüßend an der Rezeption vorbei, die Frau blickte noch nicht einmal auf. Georgs Herz klopfte, er guckte sich um, erwartete hinter jeder Ecke, Wolfgang zu sehen. Doch er sah nur Leute mit weißen Haaren und beiger Kleidung. Georg verstand, was Frau Lemke meinte. Im Aufzug drückten sie ihre Hände, auch Caro war aufgeregt, merkte er, ihre Hand war feucht. In der vierten Etage stiegen sie aus. Sie grüßten die Reinigungskraft im Gang, als lebten sie dort, auch wenn sie nicht danach ausschauten. Endlich standen sie vor Zimmer 463. Frau Lemke öffnete ihnen.
»Ich habe euch kommen gehört«, sagte sie.
Sie lief an Krücken, sehr langsam, sie hatte ihm am Telefon erzählt, dass sich ihr Zustand verschlechtert hatte. Auf dem gemachten Bett wartete ihre gepackte Tasche.
»Wolfgang willigt nicht ein, dass ich gehe. Er sagt, ich muss die Reha beenden, sonst nimmt mich das Pflegeheim nicht.«
»Haben Sie ihm gesagt, dass Sie dort nicht hinwollen, dass Sie in Ihrer Wohnung bleiben wollen?«, fragte Caro.
Frau Lemke setzte sich auf das Bett. Sie wirkte zerstreut, als wäre sie gar nicht richtig da.
»Er hört mir nicht zu.«
»Wenn wir jetzt hier rausgehen, wird die Polizei nach uns suchen«, sagte Georg.
»Ich werde ihnen sagen, dass ich aus freien Stücken gegangen bin, es ist mein Wille.«
Caro stand am Fenster, rieb ihren Nacken, wie sie es tat, wenn sie nachdachte. Er spürte, dass ihr die Sache nicht gefiel, sie war ein Mensch der klaren Worte. Sie drehte sich zu ihnen.
»Wir müssen mit Wolfgang reden. Aber erst einmal müssen wir zu meinem Wettbewerb nach Rostock.«
Caro verließ als Erste das Zimmer und trug Frau Lemkes Reisetasche. Georg und Frau Lemke folgten ihr nach einer Viertelstunde. Sie lief langsam mit ihren Krücken, rollte den Fuß kaum ab und schonte so ihre Hüfte. Sie verneinte, als er fragte, ob sie Schmerzen habe. Niemand hielt sie auf, Frau Lemke grüßte hier und da einen Pfleger, winkte der Frau an der Rezeption zu, sagte: »Mein Sohn.«
Georg lächelte.
»Freiheit«, sagte Frau Lemke, als sie aus dem Gebäude traten.
Sie blieb stehen, schnaufte durch, er wusste nicht, wie er ihr helfen konnte.
»Schaffen Sie es? Oder soll ich nach einem Rollstuhl schauen?«
»Weiter.«
Auf dem Kiesweg zum Parkplatz zu laufen, war beschwerlicher für sie. Aber sie gewann Auftrieb, als sie Caro erblickte, die telefonierend vor dem Auto auf und ab lief. Sie kam ihnen entgegen, stützte Frau Lemke auf der einen Seite, er stützte die andere und nahm die Krücken. Schritt für Schritt brachten sie Frau Lemke zum Wagen, setzten sie auf die Rückbank und reichten ihr Wasser.
»Schnell weg hier«, sagte Frau Lemke.
Stille im Auto, als sie anfuhren. Erst als das Gebäude im Rückspiegel verschwunden war, lachten sie, erst ein Giggeln von der Rückbank und dann schallend laut alle drei.
»Das ist so aufregend«, sagte Frau Lemke. »Ihr entführt mich mit einem Löwen auf der Ladefläche. Ich habe mich schon lange nicht mehr so lebendig gefühlt!«
Sie fuhren die schmale Straße am Strand entlang, fädelten sich auf die Autobahn Richtung Rostock ein. Georg überlegte, ob es sich wirklich um eine Entführung handelte, wenn es auf Wunsch der Entführten geschah, auch wenn ihr die Vormundschaft und damit ihr eigener Wille aberkannt worden war. Wolfgang würde ihnen die Polizei auf den Hals hetzen, sobald er mitbekam, dass Frau Lemke die Reha verlassen hatte.
Georg drehte sich zu Frau Lemke, sie war eingeschlafen. Er sah das junge Mädchen von den Fotos in ihrem Gesicht. Er kurbelte das Fenster herunter, nur einen Spalt, damit es nicht bei Frau Lemke zog, er aber etwas Fahrtwind abbekam.