Kapitel 1
~Noél~
»Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Flug, Monsieur Dubois.«
Der Angestellte am Abflugschalter klappte den Reisepass wieder zu und schob ihm diesen mit seinen anderen Dokumenten über den Tresen hinweg entgegen. Warum meinten eigentlich so viele Menschen in Europa, sie müssten ihn mit Monsieur anreden? Zwar stammte seine Familie ursprünglich aus Quebec im französischsprachigen Teil Kanadas, doch anhand seines Passes war ersichtlich, dass er US-Amerikaner war.
Noél hatte keine Ahnung, weshalb ihn dieser belanglose Fauxpas des Flughafenmitarbeiters dermaßen störte, er nickte dem Mann lediglich zu, raffte seine Papiere zusammen und schulterte den Rucksack, den er als Handgepäck dabeihatte. Tatsächlich war es sein einziges Gepäckstück, das alles enthielt, was er für die Reise in die USA benötigte. Sollte sein Trip nach Montana länger dauern als geplant, würde er sich notfalls noch ein paar Klamotten zum Wechseln kaufen. Warum also unnötig viel Ballast mit sich herumtragen? In aller Regel kam er sowieso mit viel weniger aus als gewöhnliche Menschen. Sogar sein Rasierzeug hatte er auf dem Stützpunkt zurückgelassen. Er war im Urlaub, nicht im Dienst. Also konnte er den Bart ein paar Tage ungehindert sprießen lassen, bevor er ihn wieder auf eine annehmbare Länge kürzen musste, um die Vorschriften der Navy zu erfüllen.
Die Maschine, für die er ein Ticket gebucht hatte, wartete bereits am Terminal auf ihre Passagiere. Missmutig betrachtete Noél die Boeing 787, die ihn von Frankfurt aus in einem zehnstündigen Flug zunächst nach Denver bringen würde. Im Vergleich zu den Frachtmaschinen der U.S. Army sah der schlanke Jet verflucht winzig aus, hoffentlich waren die Sitze nicht derart eng hintereinander aufgereiht, dass er bei seiner Körpergröße Probleme bekam. In Denver angekommen musste er zudem mehr als drei Stunden auf den Anschlussflug nach Great Falls, Montana, warten. Mit einem noch kleineren Flugzeugtyp, in dem er garantiert Mühe haben würde, seine Beine in der Holzklasse halbwegs unterzubringen.
Verdammt, warum war er nicht auf Miles’ Angebot eingegangen, ihm einen Flug mit einer Militärmaschine zu organisieren? Den Commander hätte dies nicht mehr als einen Anruf gekostet, aber er war zu stolz gewesen, den Vorschlag anzunehmen und damit seine Zugehörigkeit zu den Navy Seals für eine private Reise auszunutzen. Darüber hinaus könnte er sich in den Hintern treten, dass er Bens Brief erst geöffnet hatte, als sie nach der Trauerfeier am Mount Kilmanok in Montana, wo sie seine Asche verstreut hatten, wieder zurück in Deutschland waren. Hätte er den Brief mit Bens letztem Willen, den der Admiral ihm bei der Zeremonie zusammen mit dem Sternenbanner überreicht hatte, sofort gelesen, wäre es ihm erspart geblieben, innerhalb weniger Tage erneut die lange Reise zu unternehmen. Aber nein, er war einfach nicht in der Lage gewesen, den versiegelten, in Bens fein säuberlicher, akkurater Handschrift an ihn adressierten Umschlag unter den Augen der Kameraden zu öffnen. Innerlich war er in den letzten Tagen wie erstarrt gewesen, hatte nur noch auf Autopilot funktioniert.
Ben.
Sein bester Freund, sein Seelengefährte, sein Rückhalt, auf den er sich immer und überall verlassen konnte, war tot.
Er war fort. Für immer.
Die Qual des Verlustes bohrte sich erneut in sein Herz, das seit Tagen unablässig schmerzte, weil es mit diesem Loch nicht fertig wurde, das Ben plötzlich dort hinterlassen hatte.
Die siamesischen Zwillinge hatten ihre Kameraden sie genannt, obwohl Ben ein Grizzly und er ein Kodiakbär war. Weil sie immer im Doppelpack aufgetreten waren. Weil sie perfekt miteinander harmonierten und ein eingespieltes Team waren. Nie musste Ben laut aussprechen, was er dachte, oder ankündigen, wie er im Kampf agieren würde. Noél hatte stets gewusst, was in seinem Freund vorging oder was er als Nächstes tun würde. Sie waren sich sehr nah gewesen, seit sie die Grundausbildung bei den Seals absolviert hatten. Wie Brüder hatten sie jederzeit alles geteilt und auf den anderen achtgegeben.
Noél unterdrückte einen traurigen Seufzer und stieg die schmale Gangway hinauf. Im Inneren der Boeing erwartete ihn eine freundlich lächelnde Flugbegleiterin, die es sich nicht nehmen ließ, ihn höchstpersönlich zu seinem reservierten Platz zu bringen.
»Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten, sobald wir nach dem Start die Flughöhe erreicht haben?«, flötete sie sogar zuvorkommend und zwinkerte ihm zu.
Mit einem Grummeln schob sich Noél an ihr vorbei, verstaute den Rucksack im Handgepäckfach und quetschte sich in die Sitzreihe, um dort den Fensterplatz einzunehmen.
»Nein, danke«, knurrte er ungehalten, als er bemerkte, dass die Saftschubse noch immer am selben Fleck stand und ihn abwartend musterte.
Gottverdammt, er wollte einfach nur seine Ruhe haben! Der Anlass seiner Reise war schwer genug, eine plappernde, anhängliche Stewardess wäre jetzt unerträglich. Warum nur waren so viele Frauen von ihm dermaßen angetan, dass er ständig irgendwelche Flirtversuche abwehren musste?
Mitch Foley, der kleine Computer-Nerd, hatte letztens gemeint, es läge wohl am derzeitigen Trend. Große Männer mit breiten Schultern, jeder Menge Muskeln und Vollbart wären zurzeit total angesagt. Die Ladys standen anscheinend auf Männer, die wie ein kanadischer Holzfäller aussahen. Ganz egal, ob sie je im Leben eine Axt in der Hand gehalten hatten oder nicht.
Noél schnaubte frustriert. Für sein Aussehen konnte er schließlich nichts und dass er heute Morgen zu Jeans, T-Shirt und einem rot karierten, weichen Flanellhemd gegriffen hatte, war eher Zufall gewesen. Nun gut, wenn das Flugzeug abgehoben hatte und die Anschnallpflicht aufgehoben war, würde er sich einfach schlafend stellen, damit er nicht ständig angequatscht wurde.
Umständlich schlüpfte er aus seiner Jacke und wollte diese schon zusammenknüllen, um sie als Kopfkissen zu benutzen, als er abrupt innehielt.
Der Brief!
Fast hätte er vergessen, dass er ihn in der Innentasche seines wetterfesten Anoraks verstaut hatte. Vorsichtig nahm er ihn heraus und glättete den Umschlag, der an den Ecken bereits ein wenig gelitten hatte. In diesem Moment schob sich ein Pärchen neben ihn in die Sitzreihe, aber die beiden unterhielten sich zum Glück miteinander, ohne ihn zu beachten.
Gleich darauf rollte das Flugzeug los und begab sich auf verschlungenen Pfaden zur Startbahn. Vorsichtshalber benutzte Noél seine Ohrstöpsel, um sich vor dem Lärm der Triebwerke zu schützen. Diese dröhnten jetzt unerträglich laut, als das Flugzeug beschleunigte, um abzuheben. Sein feiner Geruchssinn ließ sich dagegen weniger gut dämpfen, im Innenraum der Boeing drangen permanent die unterschiedlichsten Gerüche an seine Nase. Angstschweiß, diverse Parfüms und Waschmittel, verbrennendes Kerosin und der metallische Geruch der Luft, die von der Klimaanlage umgewälzt wurde.
Gott, er hasste es, mit so vielen Menschen auf engem Raum eingesperrt zu sein!
Gedanklich schaltete er ab, schloss die Augen und versuchte sich in seiner Vorstellung an jenen Ort zu begeben, an dem er sich wohlfühlte und wo er jederzeit in Sicherheit war. Zu seinem Safe Place , seiner Zuflucht. Jeder seiner Kameraden hatte einen solchen imaginären Ort, den man immer dann aufsuchte, wenn es nötig war. Wenn man Abstand von irgendwelchen dramatischen Erlebnissen brauchte und um sich zu erden, um wieder neue Kraft zu schöpfen.
Wie bei einem geheimen Wunsch angesichts einer Sternschnuppe sprach man niemals mit einer anderen Person über diesen Ort. Er ging niemanden etwas an. In den letzten Jahren hatte Noél in Gedanken immer sein Elternhaus besucht und sich vorgestellt, wie es aussah, wenn es weihnachtlich geschmückt war. Die Lichter am Weihnachtsbaum funkelten, Kerzen brannten, der Eierpunsch stand bereit und seine Mom brachte aus der Küche einen riesigen gebratenen Truthahn zum festlich gedeckten Tisch, an dem sich bereits seine gesamte Familie versammelt hatte. Grandma und Grandpa, sein Dad, seine jüngeren Geschwister Nicolas und Nannette, die wie immer miteinander stritten. Vertraute Familienidylle.
Doch in den letzten Tagen hatte sich dieser Ort ohne sein Zutun schlagartig verändert. Ohne dass er dies beabsichtigt hatte, ohne dass er es steuern konnte. Immer dann, wenn er gedanklich die Tür zu seinem Elternhaus öffnen wollte, verbarg sich dahinter … nichts. Gar nichts. Ein diffuses Dämmerlicht, ein scheinbar endloser, unbelebter Raum, ohne Wände, Türen, Decke oder Boden.
Ein beängstigendes Nichts, das in seiner Brust ein schmerzhaftes Ziehen auslöste. Weil er allein war. Niemand hielt sich mehr an seinem imaginären Safe Place auf, alles war grau, düster und leer.
Nicht einmal Ben war dort.
Noél öffnete widerwillig die Augen und gab es auf, seinen geheimen Ort in Gedanken mit Leben füllen zu wollen. Vielleicht würde ja diese Reise in Bens Vergangenheit dabei helfen, seine Vorstellungskraft wieder in gewohnte Bahnen lenken zu können.
Im Flugzeug war allmählich Ruhe eingekehrt, die Passagiere unterhielten sich leise, wurden von den Flugbegleiterinnen bedient oder hatten Kopfhörer auf, um sich einen Film anzuschauen oder Musik zu hören.
Noch immer hielt er Bens Brief in den Händen und ihm fiel erst jetzt auf, dass er unablässig mit dem Daumen über das feste Papier rieb. Er kannte die Zeilen fast schon auswendig, trotzdem öffnete er den Umschlag, zog die vier eng beschriebenen Bögen heraus und begann erneut zu lesen.
Mein lieber Noél,
wenn Du diese Zeilen liest, hat es mich wohl vor Dir erwischt. Sorry, mein Freund, ich weiß, wie sehr Dir das zusetzen muss und kann mir gleichzeitig kaum ausmalen, wie es mir an Deiner Stelle gehen würde. Wahrscheinlich kann Dir momentan kein Wort des Trostes helfen. Diesen Schmerz hätte ich Dir gerne erspart, obwohl er zum Leben dazugehört. Nicht nur, weil wir einen gefährlichen Job haben und uns allen bewusst ist, was tagtäglich passieren kann.
Aber was auch immer geschehen ist – hadere nicht damit.
Es gibt Dinge im Leben, die müssen einfach so kommen und können nicht anders verlaufen. Manche nennen das Schicksal, ich nenne es das Buch des Lebens. Es gibt darin Kapitel, die bringen Dich zum Lachen, andere sind traurig und enden mit einem herben Verlust. Aber erst dann, wenn man das Wort ENDE unter die letzte Zeile setzt, weiß man, ob das Buch gut war, ob es eine Komödie oder eine Tragödie ist und ob es sich überhaupt gelohnt hat, es zu schreiben. Seltsamerweise zählen übrigens ausgerechnet Tragödien zu den besten Werken der Weltliteratur. Vielleicht, weil sie zeigen, wie gerade die tragischen Momente unseres Lebens das Beste aus uns herausholen und uns zu dem machen, was wir sind.
In meinem Buch des Lebens hast Du eine tragende Rolle eingenommen, nämlich die des allerbesten Freundes, den man sich nur wünschen kann. Du warst immer für mich da, direkt an meiner Seite. Mein Vertrauter, mein Partner und mein Seelenbär. Bestimmt nimmst Du das ganz anders wahr, aber Du bist es, der stets das Beste in mir zum Vorschein gebracht hat. Erst seit ich Dich kenne, bin ich zu dem Mann geworden, der ich immer sein wollte. Durch Dich und vor allem wegen Dir. Du bist jemand, der immer an das Gute in den Menschen oder Wandlern glaubt und dabei Dinge in jemandem sieht, die anderen komplett entgehen.
Ich weiß, dass Deine Gefühle mir gegenüber anders sind als die, die ich für Dich habe, obwohl wir nie darüber gesprochen haben. Noch während unserer Grundausbildung bei den Seals habe ich bemerkt, wie Du mich ansiehst, wie Du meine Nähe suchst und dass Du Dir nichts sehnlicher wünschst, als dass ich Deine Liebe erwidere. Das habe ich auch immer getan, allerdings auf meine Art – und ich werde Dir immer dankbar sein, dass Du das die ganze Zeit über stillschweigend ertragen und akzeptiert hast.
Nun aber kann und muss ich Dir sagen: Ja, ich liebe Dich auch. Anders als Du denkst, aber mehr als Du glaubst. Und ich hoffe, noch lange Zeit diesen speziellen Platz in Deinem Herzen einnehmen zu können, auch wenn ich nicht mehr bei Dir bin. Jedenfalls so lange, bis Du Deinen wahren Herzensbären triffst, denn erst dann räume ich das Feld und kann Dich ruhigen Gewissens ziehen lassen, bis zu dem Tag, an dem wir uns in den ewigen Jagdgründen unserer Vorfahren wiedersehen.
Bis dahin vergeht hoffentlich noch jede Menge Zeit, die Du allerdings nutzen kannst, um mir einen letzten Wunsch zu erfüllen. Nein, eigentlich sind es sogar zwei Wünsche.
Ich bitte Dich, die Flagge, die Dir bei meiner Beerdigung überreicht wird, zu meiner Schwester Bernadette nach Bear Creek Village, Montana, zu bringen. Die Adresse füge ich hinten an. Natty ist mein kleiner Sonnenschein. Ich habe sie früher scherzhaft Shorty genannt, um sie zu ärgern. Aber erwähne das ihr gegenüber bloß nicht, sie bricht Dir mühelos jeden einzelnen Finger, bis Du es zurücknimmst und schwörst, es niemals wieder zu ihr zu sagen. Ich spreche da aus leidvoller Erfahrung.
Meine Hoffnung ist, dass sie Dir vielleicht verrät, wo sich unser Bruder Bron aufhält, den ich seit einigen Jahren aus den Augen verloren habe. Mir gegenüber hat sie es jedenfalls immer verschwiegen und höchstwahrscheinlich nur vorgegeben, nichts zu wissen.
Bron ist mein Zwilling, die andere Hälfte meines Selbst. Allerdings ist er auch das komplette Gegenteil von mir. Er hat leider nie zugelassen, dass ich mich um ihn kümmere, nachdem wir beide erwachsen geworden waren, vor allem, weil er meine Entscheidung, unserem Land zu dienen und ausgerechnet zur Navy zu gehen, nicht akzeptieren konnte. Seit dem Tag, an dem ich mich verpflichtet habe, hat er kein Wort mehr mit mir gesprochen, aber ich habe immer an ihn gedacht und mehrmals versucht ihn zu finden. Mir ist es allerdings nie gelungen, er hat seine Spuren zu gut verwischt und ist abgetaucht, sobald ich ihm nahe gekommen bin.
Ich möchte, dass Du ihm eine letzte Botschaft von mir überbringst: Was damals in der Nacht zum 7. April vorgefallen und weshalb er von zu Hause fortgelaufen ist – es war nicht seine Schuld. Eher meine, weil ich ihm damals nicht geglaubt habe, doch dass dies ein Fehler gewesen ist, habe ich leider erst begriffen, als er schon fort war. Ich liebe ihn und habe mir immer vorgestellt, ihn irgendwann aufzuspüren und ihm sagen zu können, wie sehr er mir seitdem an jedem einzelnen Tag gefehlt hat. Nie habe ich gewollt, dass er uns, seine Familie, verlässt und alle Brücken hinter sich abbricht. Trotzdem bin ich unwahrscheinlich stolz auf ihn, dass er das durchgezogen und diesen Schritt getan hat, um sein eigenes Leben zu führen. Ich für meinen Teil hoffe immer noch, dass er seinen Frieden mit allem gemacht und irgendwo auf dieser Welt einen Platz gefunden hat, an dem er einfach nur glücklich ist.
Bitte, Noél, finde ihn und vergewissere Dich an meiner Stelle, dass es ihm gut geht. Er ist, genau wie Du, ein wichtiger Bestandteil meines Lebens, meines Buches, unter das ich nun ENDE schreibe und ein kleines Nachwort, eine Danksagung, anfüge:
Danke, Noél. Für alles. Für Deine Freundschaft und die vielen Jahre, die wir beide hatten. Die schönsten Tage meines Lebens waren übrigens nicht die, an denen wir zusammen gelacht haben, sondern jene, an denen es mir nicht gut ging und Du mich aufgefangen hast, ohne Fragen zu stellen. Viele Leute haben mich angesehen, mich aber nie wirklich wahrgenommen. Von Dir genügte ein einziger Blick – und Du hast mir direkt ins Herz geschaut. Du warst immer der Einzige, der es gespürt hat, wenn meine Seele weinte, obwohl ich versucht habe, mir nichts anmerken zu lassen.
Bleib genau so, wie Du bist, und schaue nach vorn, Noél. Und falls Du zurückblickst, dann hoffe ich, dass Du ein Lächeln auf dem Gesicht hast, während Du an mich denkst.
Semper fi.
Dein Ben.
Die Buchstaben verschwammen vor seinen Augen und er musste tief durchatmen, um dem Schmerz standhalten zu können. Das waren die emotionalsten und bewegendsten Worte, die er je von Ben zu hören bekommen hatte. Eigentlich hatten sie selten über persönliche Dinge gesprochen. Ihre besondere Verbindung bestand für ihn in der Tatsache, dass jeder von ihnen dem anderen ansehen konnte, wenn etwas nicht stimmte, und dann einfach für ihn da war. Ohne nachzufragen, ohne ständig über alles reden zu müssen. Das war weder seine noch Bens Art gewesen.
Noél rieb sich mit dem Handrücken über die feuchten Augen, steckte die Briefbögen wieder in den Umschlag und sah aus dem kleinen Fenster. Unter ihnen waren Berge, Täler und Wälder erkennbar, hier und da überflogen sie eine Stadt. Vermutlich überquerten sie gerade Frankreich, bevor sie den Atlantik erreichen würden.
Er hatte gewusst, dass Ben nicht entgangen war, welche Gefühle er für ihn hegte, und dass diese über eine bloße Freundschaft hinausgingen. Doch falls Ben geglaubt hatte, er habe darunter gelitten, weil seine Liebe zu ihm keine Chance gehabt hatte, dann irrte er sich.
In dem Moment, in dem sich während der Grundausbildung aus einer Schwärmerei für den gut aussehenden, manchmal etwas brummigen, aber überaus gutmütigen Kameraden eine echte Freundschaft entwickelte, war Noél glücklich darüber gewesen. Er hatte es genossen, mit Ben eine Beziehung zu führen, die nichts mit romantischen Gefühlen zu tun hatte, sondern allein auf ihrer Vertrautheit beruhte. Im Prinzip war es eine enge Partnerschaft gewesen, die einer Ehe ziemlich nahegekommen war – nur eben ohne Sex.
Zugegeben, in manchen schwachen Momenten hatte Noél es vermisst, kein körperliches Verhältnis mit seinem besten Freund zu haben. Doch selbst wenn die Sehnsucht danach zu groß geworden war, hatte er eher den Handbetrieb vorgezogen, als sich im nächsten Club einen x-beliebigen Bettgefährten zu suchen.
Nein, er war seit jeher jemand, der ohne Sexpartner gut leben konnte. Warum auch nicht? Irgendwie fühlte er sich in dieser Beziehung mit den wilden Bären verbunden, die ebenfalls Einzelgänger waren. Evolutionsbedingt waren die Bärenwandler vor Hunderten von Jahren dazu übergegangen, im Schutz eines Familienclans zu leben und damit den eigenen Eltern, Großeltern und Geschwistern nahe zu bleiben. Ihn hatte es jedoch schon immer hinaus in die Welt gezogen, da war ihm die Möglichkeit, der Navy beizutreten, gerade recht gekommen.
Noél brummte leise und schloss erneut die Augen. Verdammt, das stetige Dröhnen der Triebwerke, das er dank der Ohrenstöpsel eher in seiner Magengegend spürte, als dass er es hörte, verursachte ihm Kopfschmerzen. Daran war er allerdings gewöhnt, das passierte jedes Mal, wenn er in einem Flieger saß. Sein Instinkt lief immer dann Amok, wenn er sich bewusst wurde, dass er in einer Blechkiste gefangen war, die sich mehrere Kilometer über dem sicheren Erdboden befand. Viele Wandler hatten Probleme mit dem Fliegen und selbst jahrelanges Training half nicht, die unbewusste Reaktion darauf völlig zu unterdrücken.
Nun gut, da musste er jetzt durch.
Für Ben wäre er sogar bis zum Mond gereist, um seine letzte Bitte zu erfüllen.
***
Der Great Falls International Airport war trotz der großspurigen Bezeichnung eher ein Provinzflughafen, wie Noél auf den ersten Blick feststellte, sobald er die letzte Etappe seiner Reise überstanden hatte und die Gangway hinabstieg. Zumindest im Vergleich zum Frankfurter Flughafen, den er mittlerweile recht gut kannte, weil ihr deutscher Hauptstützpunkt in dessen Nähe lag. Unter Siku Kunuk, ihrem früheren Commander, hatten sie dort einen Einsatz zur Terrorismusbekämpfung gehabt und verhindert, dass die Treibstoffsilos in die Luft gejagt worden waren. Nicht ohne Verluste. Damals war ebenfalls einer der ihren, ein Grizzly, getötet worden. Adam Jenkins, oder Old Bear, wie er von den anderen genannt worden war, gehörte zwar nicht zu den Wild Forces, war aber ein Mitglied des Bruns-Teams gewesen, das sie bei der Operation unterstützt hatte.
Warum musste er ausgerechnet jetzt daran denken? Die Ereignisse in Frankfurt lagen ein paar Monate zurück – und doch schienen sie sich in gewisser Weise wiederholt zu haben.
Ben war ebenfalls im Einsatz gefallen, beim Versuch, einen der Terroristen zu überwältigen, die sie bis zum Mainhattan Tivoli, einem kleinen Freizeitpark am Mainufer, verfolgt hatten. Mitten in der Menschenmenge hatten diese Typen das Feuer eröffnet.
Weitere Einzelheiten wusste er nicht, weil er an diesem Tag nicht wie gewohnt mit Ben zusammen, sondern anderweitig eingesetzt worden war. Miles hatte ihm die schlimme Nachricht überbracht und er musste seinem Commander zugutehalten, dass er zunächst einfühlsam nachgefragt hatte, ob er weitere Details wissen wolle. Nein, die brauchte er nicht zu wissen und wollte es auch jetzt nicht. Am Rande hatte er noch mitbekommen, dass Jordan Currens, der Puma, versucht hatte, Ben zu retten und sich dafür sogar vor aller Augen in seine Tiergestalt verwandelt hatte. Letzteres war etwas, das mit einer lebenslänglichen Gefängnisstrafe geahndet wurde. Ohne Gerichtsverhandlung, ohne Aussicht auf Bewährung oder gar Begnadigung.
Insgeheim tat es Noél leid, dass der mürrische Puma nun für den Rest seines Lebens im Gefängnis hocken musste. Andererseits waren diesem mit Sicherheit die Konsequenzen seines Handelns bewusst gewesen. Seit Urzeiten wurde jedem Wandlerkind die oberste Regel ihrer Gemeinschaft quasi bereits mit der Muttermilch eingetrichtert: Nie-nie-niemals darf man sich vor den Augen eines Menschen wandeln. Das Geheimnis um die Existenz ihrer Art musste unter allen Umständen gewahrt werden, egal, was passierte.
Apropos ihrer Art – hier, im Hinterland von Montana, schien es von Bären- und Wolfswandlern nur so zu wimmeln. Noch während er im Terminal freiwillig sein Gepäck von einem Zollbeamten überprüfen ließ, hatte er nicht nur diesen, sondern nebenbei noch einige andere Passanten und so manchen Flughafenmitarbeiter am Geruch identifizieren und ihrer Herkunft nach einordnen können.
»Einen schönen Aufenthalt in Montana«, wünschte ihm der Zollbeamte, ebenfalls ein Bär. Er gab ihm seinen Rucksack zurück und schaute ihn neugierig an. »Sind Sie auf Heimaturlaub oder machen Sie Ferien in unserer Gegend?«
»Danke. Weder noch«, gab Noél kurz angebunden zurück und hängte sich den Rucksack über die rechte Schulter.
Er brauchte sich nichts vormachen, der Beamte hatte bemerkt, dass er zur selben Gattung gehörte, aber für neugierige Fragen hatte er momentan nichts übrig. Hastig wandte er sich ab, zögerte dann jedoch und drehte sich nochmals zu dem freundlichen Mann um.
»Kann ich hier irgendwo einen Wagen für die Weiterfahrt mieten?«, fragte er höflich.
»Ja, sicher, dort drüben.« Der Beamte deutete zur anderen Seite der großen Halle, wo sich mehrere Shops befanden. »Sagen Sie dem Geschäftsinhaber, dass ich ihn empfohlen habe, dann macht er Ihnen einen günstigeren Preis«, schlug er sogar noch freundlich lächelnd vor.
Erstmals warf Noél einen Blick auf das Namensschild des Zollbeamten. Miller , stand dort in großen Lettern geschrieben.
»Sie sind nicht zufällig verwandt mit den Millers in Bear Creek Village?«, fragte er spontan.
»Nein, jedenfalls nicht direkt. Meine Familie ist seit Generationen hier in Great Falls ansässig, aber über mehrere Ecken sind viele Clans in dieser Gegend miteinander verwandt«, erklärte der Mann offenherzig.
Noél nickte verstehend und verabschiedete sich, um den Mietwagenverleih aufzusuchen. Erstaunt stellte er fest, dass der Geschäftsinhaber ein Grizzly war, der ebenfalls Miller hieß. War das in Montana nun eher eine allgemeine Bezeichnung für Bärenwandler oder doch bloß ein Allerweltsname? Jedenfalls schien er in dieser Gegend gehäuft aufzutreten.
Auf die Empfehlung des Inhabers hin entschied er sich für einen geländegängigen Grant Cherokee, der obendrein seiner Körpergröße angemessen war. Obwohl ein solcher SUV der gehobenen Mittelklasse normalerweise nicht gerade billig zu mieten war, wurde er ihm dieser tatsächlich zu einem moderaten, vernünftigen Preis angeboten.
Eine halbe Stunde später bog Noél auf den Highway 200 ein, auf dem er ein gutes Stück auf seiner Fahrt ins über zweihundert Kilometer entfernt liegende Bear Creek Village zurücklegen würde.
Die Gegend, die er durchquerte, gefiel ihm auf Anhieb. Hohe Berge, dichte, endlos erscheinende Wälder und glasklare Gebirgsflüsse, in denen man bestimmt gut Fische fangen konnte. Der Traum eines jeden Bären.
Weiter nördlich, aber nicht allzu weit entfernt, lagen das Reservat der Schwarzfuß-Indianer und der bekannte Glacier Nationalpark , dennoch war die Region nur spärlich besiedelt.
Bear Creek Village entpuppte sich schlicht als eine Ansammlung gepflegt wirkender Mobile Homes, die außerhalb der Kleinstadt Bigfork, nahe des Flathead Lake, eine eigene, kleine Gemeinde bildeten. Das Navi führte ihn nun seitlich des Highways einen unbefestigten, sandigen Weg entlang, an dessen Seite eine Reihe von etwa dreißig Briefkästen aufgestellt waren.
Vor der Hausnummer 23, einem weiß und hellblau gestrichenen Häuschen, hielt er an und atmete tief durch. Jetzt kam der für ihn emotional schwierigste Teil seiner Reise.
Umständlich zog er die hölzerne Schatulle, in der er das gefaltete Sternenbanner aufbewahrte, aus seinem Rucksack und stieg aus. Die Nachmittagssonne stand noch hoch am Himmel, die Umgebung roch intensiv nach dem Tannenwald, der die kleine Siedlung umgab – und sehr deutlich nach Bären.
Interessiert hob Noél die Nase in die Luft und witterte. In seiner menschlichen Gestalt konnte er zwar nicht jeden Geruch in seine Bestandteile zerlegen und dessen Herkunft feststellen, dennoch war er sich sicher, dass neben Bens Schwester noch jede Menge anderer Bären hier wohnten.
Das niedrige Tor des Zäunchens, das den reichlich verwilderten Vorgarten des Hauses von der Durchfahrtsstraße abgrenzte, quietschte durchdringend, als er es öffnete. Auf dem gepflasterten Weg bis zur Haustür musste er Slalom zwischen achtlos liegen gelassen Kinderfahrrädern, Fußbällen und einer Wasserpistole laufen und wollte gerade klopfen, als von innen geöffnet wurde.
Ein kleiner Junge von etwa fünf oder sechs Jahren schaute zu ihm hoch und musterte ihn abwartend. Direkt hinter ihm versteckte sich ein Mädchen, das nur unwesentlich jünger sein musste und schüchtern auf dem Daumen herumkaute, sodass er dort, wo seine Schneidezähne sein sollten, eine recht große Lücke entdecken konnte. Das mussten Beaumont und Bernice sein, Bens Neffe und seine Nichte. Sein Freund hatte ihm vor einigen Jahren Fotos von den beiden gezeigt, aber damals waren sie noch Babys gewesen.
»Hallo«, begrüßte er die Kinder und ging instinktiv in die Hocke, um nicht allzu bedrohlich auf sie zu wirken. »Ist eure Mom zu Hause?«
»Beau? Wer ist da?«, erklang jedoch im selben Moment eine Frauenstimme aus dem Haus.
»Ein Bär, Mommy«, brüllte der Kleine umgehend zurück.
Mit einem Schmunzeln erhob sich Noél wieder und sah Bens Schwester entgegen, die mit hochrotem Gesicht auf ihn zueilte und ihre Hände an einem Küchentuch abtrocknete. Ihr langes, braunes Haar war zu einem nachlässig geschlungen Knoten zusammengefasst, aus dem sich bereits mehrere Strähnen gelöst hatten. Sie trug ein verwaschenes, viel zu großes T-Shirt, das irgendwann einmal schwarz gewesen sein mochte, und eine Jeans, die knapp über ihren Knöcheln endete.
»Ja, bitte?«, fragte sie distanziert und schob sich gleichzeitig zwischen ihn und die Kinder.
Achtsam trat Noél einen halben Schritt zurück, um seine guten Absichten zu demonstrieren. Mit wachsamen Bärenmüttern musste man jederzeit äußerst respektvoll umgehen und Vorsicht walten lassen.
»Guten Tag, Ma’am«, begann er höflich, »ich bin Noél Dubois und ich …«
Weiter kam er nicht. Mit einem merkwürdigen Laut, der wie eine Mischung zwischen einem Quietschen und einem Schluchzen klang, warf sich Bens Schwester an seine Brust, umschlang ihn mit den Armen und drückte ihn so fest, dass ihm fast die Luft wegblieb.
»Ähm …«, brachte er angesichts dieser Begrüßung überrascht hervor und tätschelte der Frau hilflos den Rücken.
Täuschte er sich oder weinte sie? Es sah ganz danach aus. Jedenfalls zuckten ihre Schultern unkontrolliert und sein Hemd, in das sie ihr Gesicht vergraben hatte, wurde feucht. Verdammt, den Umgang mit weinenden Frauen war er nicht gewohnt und es verunsicherte ihn mehr als eine Barfußwanderung durch ein Minenfeld.
Einige Sekunden vergingen, bis sich Bens Schwester wieder von ihm löste, mit dem Handrücken ihre Tränen wegwischte und zu ihm aufsah.
»Sorry«, murmelte sie mit brüchiger Stimme, bevor sie ein Lächeln aufsetzte und sich zu ihren Kindern umdrehte. »Beau, Berni, das ist Noél. Onkel Bens bester Freund.«
»Hi«, grüßten ihn die beiden Kleinen wie aus einem Mund, wandten sich dann aber sofort wieder an ihre Mutter.
»Mommy, können wir draußen spielen?«, fragte Beau.
»Aber nur bis zum Dunkelwerden«, gab diese milde lächelnd zurück.
Sie hatte es kaum ausgesprochen, da flitzten die Kinder an ihnen vorbei, schnappten sich ihre Fahrräder und schoben diese gesittet zum Gartentor hinaus, um dann aufzuspringen und wie der Wind die Straße entlang davonzuradeln.
»Bitte, komm rein«, bat Bens Schwester nun und trat einen Schritt zur Seite, ließ ihn hinein und schloss die Haustür hinter ihnen.
Gleich darauf überholte sie ihn jedoch, stürmte voraus und pflückte in Windeseile einige Klamotten, Bücher und Teddybären von einer wuchtigen Ledercouch, die viel zu groß für das übersichtliche Wohnzimmer war.
Dem Wohnbereich mit Couch und Fernseher schlossen sich ein runder Esstisch und eine Küchenzeile an, wo er Bens Schwester augenscheinlich beim Abwasch unterbrochen hatte. Mehrere Teller, Schüsseln und ein Topf warteten auf dem Ablaufbrett der Spüle noch darauf, abgetrocknet zu werden. Alles wirkte hell, freundlich und sauber, aber durch die vielen Spielsachen, die nahezu jeden freien Quadratmeter bedeckten, auch ziemlich chaotisch und unaufgeräumt.
»Nimm Platz«, sagte sie nun und strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr zurück. »Möchtest du etwas trinken? Einen Kaffee? Tee? Cola?«
»Eine Cola wäre nett«, räumte Noél ein und setzte sich auf die Kante der Ledercouch. Wie erwartet gab das durchgesessene Teil nach und er wäre sicherlich in den Polstern versunken, wenn er sich richtig darauf niedergelassen hätte.
Bens Schwester holte zwei kleine Flaschen Cola aus dem Kühlschrank, öffnete bei beiden den Kronkorkenverschluss und drückte ihm eine davon in die Hand, bevor sie sich ans andere Ende der Couch setzte.
»Danke.« Noél trank gierig ein paar Schlucke und merkte erst jetzt, wie durstig er nach der langen Fahrt war. Unwillkürlich seufzte er erleichtert auf, doch dann besann er sich. Er hatte einen Auftrag zu erledigen.
Zögernd betrachtete er die schmucklose Schatulle, die er noch immer in der linken Hand hielt, gab sich dann jedoch einen Ruck und reichte sie der jungen Frau.
»Das ist … das soll ich Ihnen bringen, Ma’am«, erklärte er leise.
»Bitte, nenn mich Bernadette«, erwiderte sie. »Oder auch Natty. So hat Ben mich immer gerufen. Er hatte mir so viel von dir erzählt, dass ich fast glaube, dich zu kennen.«
Sie lächelte, doch ein trauriger Ausdruck lag in ihren dunklen, noch immer tränenfeuchten Augen. Mit einem tiefen Atemzug nahm sie das hölzerne Kästchen entgegen, klappte den Deckel hoch und strich mit den Fingerspitzen über den Stoff der Flagge. Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich und eine einzelne Träne rann ihr über die Wange, die sie jedoch gleich wieder fortwischte.
»Danke.« Sie atmete tief durch, den Blick noch immer auf das Sternenbanner geheftet. »Es ist fast, als würde mit dieser Flagge ein Teil von ihm heimkehren. Sie hat ihm immer viel bedeutet.«
Noél nickte lediglich, weil ihm keine passende Erwiderung einfiel, doch Bernadette klappte den Deckel des Kästchens wieder zu und stellte es auf den niedrigen Couchtisch.
»Obwohl dieser Ort hier schon seit langer Zeit nicht mehr sein Zuhause gewesen ist«, fügte sie dann an. »Die Navy war sein Ein und Alles.«
»Ich weiß.« Noél lächelte, dennoch baute sich in seinem Inneren ein qualvoller Druck auf. Über Ben zu reden fiel ihm noch immer schwer. Wie schmerzhaft musste es dann erst für seine Schwester sein?
»Ihr habt euch sicherlich sehr nahegestanden«, entwischte es ihm, bevor er es zurückhalten konnte, doch Bernadette nickte sofort.
»Meine Brüder sind vier Jahre älter als ich. Seit ich denken kann, haben die beiden auf mich aufgepasst. Zumindest, bis es sie hinaus in die Welt gezogen hat.« Sie lachte freudlos auf und machte eine Geste, die den Raum umfasste. »Bear Creek Village wurde von unserem Vater erbaut, ich verwalte noch heute die Häuser. Nachdem sowohl Ben als auch Bron nichts mit ihrem Erbe zu tun haben wollten, blieb es an mir hängen. Unsere Eltern starben während meines letzten Jahrs auf der Highschool. Mein Vater bei einem Unfall, meine Mutter an gebrochenem Herzen.«
»Du kümmerst dich hier ganz allein um alles? Was ist mit …«, setzte Noél an, bremste sich jedoch rechtzeitig. Es stand ihm nicht zu, nach Bernadettes Familienverhältnissen zu fragen.
»Mit dem Vater meiner Kinder?« Sie winkte lässig ab. »Er war an der Zeugung beteiligt, aber das ist auch schon alles.«
Ihre Worte klangen gleichgültig, dennoch hatte Noél den Eindruck, als würde mehr dahinterstecken. Trauerte sie vielleicht um ihre verlorene Liebe, an die ihre Kinder sie tagtäglich erinnerten? Natürlich behielt er diesen Gedanken für sich und deutete auf die Schatulle mit der Flagge, auch, um das Thema zu wechseln.
»Ben hat mir einen Brief hinterlassen, indem er mich nicht nur gebeten hat, dir die Flagge zu bringen, sondern auch Bron aufzusuchen. Weißt du, wo ich ihn finden kann?«
»Bron?« Bernadette merkte sichtlich überrascht auf, schüttelte dann jedoch vehement den Kopf. »Nein, ich habe keine Ahnung, wo mein Bruder steckt.«
Noél betrachtete sie nachdenklich. Das klang für ihn zwar ziemlich überzeugend, aber auch ein wenig zu hastig. Zu schnell. Wie … einstudiert.
Bedächtig zog er aus der Innentasche seiner Jacke Bens Brief hervor und reichte ihn ihr.
»Bitte, lies ihn.« Er stand auf und drehte Bernadette den Rücken zu, damit sie seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen konnte.
Unter Garantie konnte er nicht verhindern, dass ihm seine Gefühle anzusehen waren. Der Brief war zwar an ihn gerichtet und enthielt sehr viel Persönliches, aber er ahnte, dass Bernadette von dem Wunsch, Bron zu finden, durch die Worte ihres Bruders erfahren musste.
Er hörte an dem Rascheln hinter seinem Rücken, dass sie seiner Bitte nachkam und die Briefbögen aus dem Kuvert holte, doch er drehte sich noch immer nicht zu ihr um. An der Wohnzimmerwand hingen ein paar gerahmte Bilder und er trat näher, um sie zu betrachten. Das größte war ein typisches Familienbild, eine professionelle Aufnahme, wie sie hierzulande oft von Fotografen gemacht wurden, und zeigte die ganze Familie, als die Kinder noch klein waren. Auf dem Bild mussten Ben und Bron etwa acht Jahre alt gewesen sein. Sein Freund hatte recht gehabt, sie glichen sich als eineiige Zwillinge wirklich aufs Haar.
»Ist das Ben?«, fragte er leise und deutete auf einen der Jungen.
»Ja, ist er. Woran erkennst du ihn?«, fragte Bernadette erstaunt. »Selbst unser Dad hatte manchmal Schwierigkeiten, die beiden auseinanderzuhalten.«
»Ach … war bloß eine Vermutung«, wich Noél automatisch aus.
Er hatte Ben an seinen Augen erkannt. Und auch an seiner Haltung, seiner Mimik. Diesen ernsten, aber besonnenen Gesichtsausdruck kannte er von seinem Freund, dagegen wirkte Bron auf dem Foto ganz anders. Sein Lächeln sah jedenfalls reichlich aufgesetzt aus, als wäre er genervt.
Auch auf anderen Schnappschüssen konnte er Ben mühelos identifizieren. Seit der Geburt von Bernadettes Zwillingen war er zudem der einzige Mann auf den Fotos, die sie zusammen mit den Kindern zeigten.
Er hörte, wie Bernadette unterdrückt lachte, obwohl es gleichzeitig so klang, als würde sie krampfhaft versuchen, nicht erneut loszuheulen.
»Ich habe ihm damals tatsächlich den kleinen Finger gebrochen, als er mich mal wieder Shorty gerufen hatte. Natürlich nur aus Versehen.« Sie seufzte, las den Brief zu Ende und steckte ihn dann wieder zurück in den Umschlag. »Ich bin froh, dass er in dir einen so guten Freund bei der Navy hatte.«
Noél nickte lediglich und sah sie prüfend an. »Kannst du mir nun bitte verraten, wo ich Bron finde?«
Sie erwiderte unerschrocken seinen Blick, dann verzog sie den Mund zu einem bitterernsten Lächeln.
»Das könnte ich zwar – aber ich würde dir dennoch davon abraten, ihn aufzusuchen.«
»Warum?«, hakte Noél vorsichtig nach.
Bernadette seufzte abgrundtief. »Weil du dabei draufgehen würdest.«
Noél konnte ein überraschtes Schnauben nicht vermeiden. Das konnte unmöglich ihr Ernst sein. Schließlich war er ein ausgebildeter Seal.
Was also sollte Bron ihm anhaben können?