Kapitel 5
+BRON+
Bron unterdrückte einen deftigen Fluch. Verdammte Scheiße! Drei Container? Die Lieferung war offenbar ein Vielfaches größer als angenommen, was bedeutete, dass sich diese Drecksäcke verdammt sicher fühlten.
Verärgert entließ er Freddy aus seinem Griff und trat einen Schritt zurück. Er musste so schnell wie möglich auf das Schiff, daran führte wohl kein Weg vorbei. Die Grennway Mold
war ein nicht allzu großes Containerschiff, das für die Schmuggler den Vorteil hatte, dass es nahezu jeden Hafen ansteuern konnte, auch wenn dieser nicht über die entsprechende Suprastruktur für die Löschung verfügte, also keine Containerbrücken und entsprechende Terminals besaß. Trotzdem war es kein kleiner Kutter, sondern ein ausgewachsener Frachter, der bis zu 4.500 Container aufnehmen konnte.
4.500 Container, die er nun mangels Frachtkennung einzeln überprüfen musste, bevor das Schiff den Hafen verließ. Nur gut, dass ihm dabei seine empfindliche Bärennase helfen würde, obwohl er es eigentlich hatte vermeiden wollen, als Grizzly auf dem Deck herumzuturnen und dabei womöglich erwischt zu werden. Ohne die Waffenlieferung und damit die Beweise für den illegalen Handel aufzuspüren, war es ihm allerdings unmöglich, die Fracht offiziell beschlagnahmen zu können, den ganzen Laden auffliegen zu lassen und sämtliche Hintermänner, auch die ausländischen Abnehmer, enttarnen zu können.
»Verschwinde von hier«, knurrte er Freddy zu, ließ ihn los und sah dem kleinen Mann hinterher, der überstürzt das Weite suchte.
»Was hast du jetzt vor?«, fragte Noél leise. Der Kodiakbär musterte ihn abwartend.
»Komm mit«, stieß Bron hastig hervor und setzte sich in Bewegung. Die Dunkelheit bot ihnen genügend Schutz, solange sie dem Flutlicht auswichen und im Schatten der Container blieben. Hoffentlich kamen sie nahe genug an das Schiff heran, ohne entdeckt zu werden.
»Traust du deinem Informanten zu, dass er dichthält und dich nicht verpfeift?«, fragte Noél, während er neben ihm her joggte. Sein regelmäßiger Atem war in der feuchtkalten Meeresluft als kleine Dampfwölkchen sichtbar.
»Ich traue niemandem«, gab Bron scharf zurück. »Allerdings habe ich Fred gegenüber behauptet, dass es ihm wenig nutzen wird, mich aus dem Weg zu räumen, weil hinter mir eine viel größere Organisation steht, die ihn dann kaltmacht.«
»Lass mich raten – er hat keine Ahnung, für wen du in Wirklichkeit arbeitest«, kombinierte Noél.
Bron schnaubte genervt. »Meinst du, ich hätte die Informationen von ihm bekommen, wenn ich ihm mit der Marke vor der Nase rumgewedelt hätte?«, antwortete er sarkastisch mit einer Gegenfrage. »Nein, Freddy weiß nicht einmal, was in den Containern ist, er hat sie nur übernommen und weitertransportiert. Er hält mich bloß für einen gewöhnlichen Kriminellen, der sich die Fracht unter den Nagel reißen will.«
Noél schüttelte den Kopf, schwieg jedoch. Sie hatten den Teil des Hafenbeckens, wo der Frachter ankerte, in wenigen Minuten erreicht, daher hob Bron eine Hand und stoppte an einer günstigen Stelle, von der aus sie den Kai überblicken konnten, ohne gesehen zu werden. Ein dort geparktes Fahrzeug der Hafenbehörde diente ihnen als Deckung, dennoch hatten sie freie Sicht auf den Frachter, der schon fertig beladen war. Er brauchte gar nicht nach dem Namen des Schiffes Ausschau zu halten, der am Bug angebracht war – die charakteristischen Aufbauten und die schmale Kommandobrücke, die den Frachter mittschiffs wie ein Bogen überspannte, verrieten ihm, dass es sich um die gesuchte Grennway Mold
handelte. An Bord schien alles ruhig zu sein, kein Mensch war zu sehen. Vermutlich war die Besatzung unter Deck, um gemeinsam zu Abend zu essen. Irgendwelche Wachen schienen sie nicht abgestellt zu haben, was bedeutete: Einen günstigeren Zeitpunkt als diesen würden sie nicht erwischen können, um unentdeckt an Bord zu gehen.
»Da ist das Schiff«, raunte er Noél zu und deutete mit dem Kinn auf den Frachter. »Ich muss da rauf und die Container suchen!«
»Jetzt gleich?« Noél runzelte zögerlich die Stirn. »Bereitest du deine Aktionen nie zuerst gründlich vor? Mit satellitenunterstützten Scans? Mit weiteren Einsatzkräften zur Absicherung? Oder mit Wärmebildkameras, um den Standort der Crew bestimmen zu können?«
»Für den Firlefanz hab ich keine Zeit«, knurrte Bron aufgebracht. »Wenn ich mich nicht beeile, laufen sie aus und machen sich mit meinen Beweismitteln vom Acker! Sobald der Kahn auf offener See ist, hab ich keine Befugnis mehr, ihn aufzuhalten oder gar zu durchsuchen!«
Erneut schaute sich Bron um. Momentan waren keine Arbeiter oder Kontrolleure in dem Teil des Hafens unterwegs, aber das könnte in fünf Minuten schon wieder anders sein. Er musste unbedingt unbemerkt auf das Schiff!
Ohne weiter nachzudenken, sprintete Bron los. Ihm war es egal, ob der Navy Seal ihm folgte oder nicht, er schaute sich nicht mehr nach Noél um. Sein Fokus lag allein auf der Grennway Mold
, die nun wie ein gigantischer Walfisch vor ihm aufragte. Die Gangway war bereits eingezogen worden, die einzigen beiden Möglichkeiten, an Deck zu gelangen, bestanden darin, sich entweder an den dicken Tauen entlangzuhangeln, mit denen das Schiff am Pier festgemacht war, oder aber den Ladekran zu erklimmen, dessen Arm noch über das Deck ragte.
Spontan entschied er sich für die letztere Option, änderte die Richtung und hielt direkt auf den Ladekran zu. Eine Leiter führte zwischen den Stahlstreben bis zur Kabine des Kranführers. Behände stieg Bron in die Höhe. Am Ende der Leiter angekommen kletterte er auf das Dach der Kabine und hangelte sich Stück für Stück am waagrechten Ausleger des Krans entlang bis zu dessen Spitze. Das dicke Stahlseil, mit dem die Fracht angehoben wurde, baumelte dort, endete aber etwa zehn Meter über den gestapelten Containern in einem dicken Haken. Okay, als Mensch könnte er sich beide Beine und vielleicht sogar den Hals brechen, wenn er aus dieser Höhe den Absprung wagte. Nicht aber als Bär.
Langsam und vorsichtig ließ sich Bron an dem Stahlseil in die Tiefe gleiten, verharrte dann am Haken und holte tief Luft. Den Stunt, mitten im freien Fall in seine Bärengestalt zu wechseln, hatte er schon oft durchgeführt. Dabei war nicht, sich blitzschnell zu wandeln, das Problem, sondern eher, sich binnen eines Wimpernschlags im anderen Körper zurechtzufinden, sich in der Luft in die optimale Fallrichtung zu drehen und dann den Sturz mit allen vier Beinen gleichzeitig abzufedern. Klar, er könnte sich auch wandeln, bevor er sich in die Tiefe stürzte – aber dann machte es nicht so viel Spaß.
In Gedanken ging er mehrere Male den notwendigen Bewegungsablauf durch. Sein Atem beruhigte sich, als er die Konzentration auf die kurze Zeitspanne lenkte, die die Aktion bei einer durchschnittlichen Fallgeschwindigkeit von 9,81 Metern pro Sekunde andauern würde.
Nochmals vergewisserte er sich, dass sich direkt unter ihm das ebene Dach eines Containers befand. Genau dort musste er trotz der Drehung in der Luft aufkommen, denn wenn er den Rand des Stahlcontainers traf, könnte er sich trotz seiner Bärengestalt etwas brechen.
Bron schloss die Augen und versuchte alle Gedanken aus seinem Kopf zu verdrängen. Er atmete noch einmal tief ein, langsam wieder aus – und ließ sich fallen.
~Noél~
Noél hielt automatisch den Atem an, als Bron den Haken des Ladekrans losließ und in die Tiefe stürzte. Dieser verrückte Grizzly! War er jetzt etwa vollkommen durchgeknallt?
Es gab einen dumpfen Schlag, als Bron außerhalb von Noéls Sichtfeld auf dem Dach eines Containers aufschlug. Danach trat umgehend wieder Stille ein.
Hatte Bron den Sturz überhaupt abfangen können? Das mussten immerhin mehr als zehn Meter gewesen sein!
Noél hangelte sich hastig an dem Tau bis zum Deck des Schiffes hinauf und kletterte über die Reling an Bord. Er hatte den wesentlich leichteren Weg gewählt und stand jetzt lediglich vor der Aufgabe, sich Deckung zu suchen und vom Bug aus unbemerkt in den hinteren Teil des Frachters zu gelangen, um nach Bron schauen zu können.
Vorsichtig schlich er in die Richtung, in der er Bens Bruder vermutete. Unzählige Container ragten vor ihm auf, die ordentlich übereinandergestapelt den größten Teil des Schiffes füllten. Mal waren sie längs, mal quer zur Reling verladen worden, sodass der Laderaum des Schiffes wirkte, als hätte jemand mit den Containern Tetris
gespielt. Zwischen den haushohen Stapeln gab es schmale Gänge, die jedoch keinerlei Deckung boten.
Er hielt inne und horchte. In seiner menschlichen Gestalt waren seine Sinne zwar gedämpft, aber noch immer besser als die eines gewöhnlichen Menschen. Von unterhalb des Decks vernahm er entfernt einige männliche Stimmen, die sich jedoch alle entspannt und unaufgeregt anhörten. Von der Enterung hatte die Besatzung allem Anschein nach nichts mitbekommen. Auch waren keine Wachen aufgestellt, wohl, weil die Container fest verschlossen und versiegelt waren. Auf Diebe oder andere Personen, die nichts auf dem Schiff zu suchen hatten, war man hier offenbar nicht eingestellt.
Noél pickte sich wahllos einen der Container in seiner Nähe heraus und untersuchte ihn genauer. Das Teil sah ziemlich ramponiert aus, teilweise war die Farbe abgeplatzt. Die Stahllegierung musste auch Eisen beinhalten, manche Stellen hatten Rost angesetzt. Trotzdem schien der Container nicht nur äußerst stabil, sondern auch luftdicht versiegelt zu sein.
Keine guten Voraussetzungen, um unter den Tausenden von Containern die zu finden, die Gewehre oder andere Waffen der U.S. Army enthielten. An der verriegelten zweiflügeligen Tür des Containers war mit weißer Farbe eine Nummer aufgesprüht, außerdem prangte ein Aufkleber daran, auf dem einige Kürzel vermerkt worden waren. Noél erkannte in diesen Buchstabenkombinationen mühelos den Zielhafen der Fracht, an dem der Container ausgeladen werden sollte, einige nachfolgende Ziffern mochten der Unterscheidung dienen. Er fluchte still in sich hinein. Nein, eine Auflistung der Fracht am Container selbst anzubringen, wäre ja auch viel zu einfach. Die Ladepapiere waren zudem garantiert gefälscht worden, um es bei einer Razzia der Hafenpolizei unmöglich zu machen, eine illegale Fracht mittels der Unterlagen zu finden.
Ohne ein Geräusch zu verursachen, ging er weiter und hielt an jeder Ecke der schmalen Gänge an, um sich zunächst zu vergewissern, dass die Luft rein war und sich niemand im nächsten Abschnitt befand.
Er hatte etwa die Hälfte des Weges zum Heck zurückgelegt, als er hinter sich plötzlich eine Bewegung spürte. Alarmiert und kampfbereit fuhr er herum – und sah sich einem ausgewachsenen, aber recht schlanken Grizzlybären gegenüber, der wie aus dem Nichts hinter seinem Rücken aufgetaucht war.
»Bron!«, zischte er leise. »Hast du sie noch alle? Ich hätte dich fast umgenietet!«
Der Bär schnaubte lediglich verächtlich und verdrehte die Augen, dabei trat er ungeduldig von einem Bein aufs andere.
»Hast du schon was gefunden?«, flüsterte Noél hektisch. Ein leises Prickeln hatte in seinem Nacken eingesetzt, das allerdings nichts mit Brons plötzlichem Auftauchen zu tun hatte. Näherte sich ihnen jemand?
Der Bär nickte heftig und deutete mit der Schnauze in die Richtung, in die Noél sowieso unterwegs gewesen war. Okay, in dieser Gestalt hatte Bron mit seiner guten Nase eindeutig einen Vorteil, aber ein seltsames Gefühl mahnte Noél, sich nicht ebenfalls zu wandeln, sondern in der menschlichen Gestalt zu bleiben. Dabei machte er sich wenig Gedanken darüber, dass er unbewaffnet war. Er war im Nahkampf ausgebildet, das hatte ihm im Notfall schon oft den Hintern gerettet.
Mit einem kurzen Wink bedeutete er Bron, dass dieser vorangehen sollte.
+BRON+
Ha, es hatte richtig Spaß gemacht, den Lieutenant zu erschrecken. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte sich Noél tatsächlich angespannt, um notfalls zuschlagen zu können. Gegen einen kleinen, netten Zweikampf hätte Bron durchaus nichts einzuwenden gehabt, aber ihre Situation ließ das in diesem Augenblick nicht zu.
Nochmals sicherte er die Umgebung, doch es war schwer, aus den normalen Geräuschen des Schiffes, des Wassers und dem geschäftigen Treiben im Hafen etwas herauszuhören, was nicht hierhergehörte und auf einen nahenden Gegner hinwies. Auch die feuchtkalte Meeresluft und die steife Brise, die von der offenen See her wehte, erschwerten es ihm trotz seiner empfindlichen Nase, irgendwelche Gerüche wahrzunehmen, die mehr als zehn Meter entfernt ihren Ursprung haben mochten.
Dennoch trabte Bron voran und zeigte Noél den Turm aus fünf Containern, bei dem er den Geruch nach Waffenöl und Sprengstoffen in der Nase gehabt hatte. Das mussten die drei Container sein, die sie gesucht hatten!
Wahrscheinlich waren es die obersten drei, denn erstens waren es zwei blaue und ein roter Container, zweitens konnte er sogar von hier unten aus die Kürzel des Zielhafens gut erkennen, der für die Fracht vorgemerkt war: ReH-LY. Ras el Hilal, Libyen. Das passte wie die Faust aufs Auge. Von dort aus war es leicht, einen Waffentransport über den Landweg in den Iran, Irak oder in andere Krisengebiete durchzuführen.
Noél sah zweifelnd zu den Containern hoch.
»Die können wir von hier unten aus unmöglich näher untersuchen. Aber wenn du dir sicher bist und alle Beweise beisammenhast, wäre es dann jetzt nicht an der Zeit, den NCIS zu informieren und Verstärkung anzufordern?«
Bron nickte heftig – und erstarrte im selben Augenblick, in dem er ein deutliches Geräusch in ihrer direkten Nähe hörte.
Ein metallisches Klicken.
Eines, das bedeutete, dass ein Gewehr entsichert wurde.
Eine bullige, hochgewachsene Gestalt tauchte so plötzlich hinter Noél auf, dass er fast den Eindruck hatte, sie wäre aus dem Boden gewachsen. Der Mann trug eine schwarze Kampfuniform und hielt ein Maschinengewehr im Anschlag.
Verdammte Scheiße!
~Noél~
Noél biss die Zähne zusammen und spannte sich kampfbereit an, als er Brons alarmierte Miene entdeckte, doch im nächsten Sekundenbruchteil spürte er bereits den Lauf eines Gewehres in seinem Rücken.
»Die Hände hinter den Kopf«, befahl eine tiefe Stimme zwar auf Englisch, aber mit einem Akzent, den Noél nach den wenigen Worten nicht sofort einordnen konnte. Eventuell arabisch, vielleicht aber auch nordafrikanisch. Sofort leistete er Folge und warf Bron einen warnenden Blick zu, der zunächst wie festgefroren stehen geblieben war, nun aber den Kopf senkte, als würde er angreifen wollen. Hastig deutete er ein Kopfschütteln an, doch Bron hatte die Männer, die sich hinter seinem Rücken von der anderen Seite her näherten, im selben Augenblick bemerkt.
Einer von ihnen trug einen langen Stab in der Hand und Noél gefror fast das Blut in den Adern, als er die Waffe identifizierte. Ein Elektroschocker, ein Viehtreiber, mit dem man früher unter anderem Elefanten unter Kontrolle gebracht hatte. Ein Stromschlag aus dem Teil und Bron würde nicht nur zu Boden gehen, sondern fast gegrillt werden!
An den weit aufgerissenen Augen des Bären erkannte Noél, dass Bron die Gefahr erkannt hatte und ebenfalls zu der Einschätzung kam, dass eine Gegenwehr sinnlos war.
»Zurückverwandeln«, befahl einer der Männer an Bron gewandt.
Sofort merkte Noél auf. Verdammt, die Kerle schienen zu wissen, was es mit dem Grizzly auf sich hatte. Das konnte nur bedeuten, dass sie ebenfalls Wandler waren. Doch obwohl er unauffällig den Atem einsog, konnte Noél am Geruch der Männer nicht erkennen, dass dies der Fall war oder gar, um welche Gattung von Wandlern es sich handeln könnte.
Bron zögerte nach der harschen Aufforderung sichtlich, doch nach einem leichten Stups mit dem Viehtreiber, allerdings ohne dass ein Stromschlag ausgelöst wurde, wandelte er sich wie befohlen. Einen Wimpernschlag später richtete er sich nackt auf und hob ebenfalls die Hände.
»Zu behaupten, wir hätten uns verlaufen, kommt wohl nicht infrage«, sprach Noél nun die Männer auf Arabisch an, das sowohl in Libyen als auch in anderen Staaten des Nahen Ostens die Amtssprache war.
»Halt dein Maul«, fuhr ihn der hinter ihm stehende Mann sofort an, allerdings ebenfalls auf Arabisch. Ein anderer trat vor, machte einen ausreichend großen Bogen um Bron und durchsuchte Noél nach Waffen, was er zähneknirschend über sich ergehen ließ. Der Mann entdeckte sofort sein Handy, das er in der Gesäßtasche verstaut hatte, und gab es an einen der anderen Männer weiter.
»Wirf es über Bord. Okay, der Kerl ist jetzt sauber«, verkündete er anschließend.
In Gedanken beglückwünschte sich Noél, dass er seinen Dienstausweis der Wild Forces in seiner Jacke gelassen hatte, die noch im Auto lag. Eine Ahnung beschlich ihn, dass diese Kerle sonst kurzen Prozess mit ihnen gemacht hätten, wenn sie wüssten, wen genau sie vor sich hatten.
»Was macht ihr hier auf dem Schiff?«, fragte der mit dem Maschinengewehr nun eisig.
»Einen kleinen Abendspaziergang«, antwortete Bron im selben Tonfall. »Irgendwie müssen wir uns dabei verlaufen haben.«
Der Typ, der die Frage gestellt und hier anscheinend das Sagen hatte, schnaubte verächtlich.
»Nun gut. Tatsächlich ist es uns egal, für wen ihr arbeitet und warum ihr hergekommen seid«, erwiderte er gelassen.
Nochmals ließ Noél seinen Blick von einem zum anderen wandern, prägte sich die Gesichter der Männer ein, um sie später identifizieren zu können, und schätzte erneut ihre Lage ein.
Nein, Gegenwehr war vollkommen sinnlos. Allerdings schienen die Typen sie auch nicht erschießen zu wollen, sonst hätten sie das längst getan. Wollten sie die Maschinengewehre hier im Hafenbecken nicht benutzen, weil die Schüsse die Hafenpolizei alarmieren könnten? Oder hatten sie Angst, dass es in der engen Gasse zwischen den Stahlcontainern zu Querschlägern kommen könnte?
Egal, aus welchem Grund er und Bron noch am Leben waren, einer der Männer trat nun vor, knipste mit einem Bolzenschneider das Vorhängeschloss eines Containers durch, öffnete die Verriegelung und zog einen der metallenen Torflügel auf. Noél konnte in der Dunkelheit lediglich erkennen, dass der Container nur zur Hälfte mit Kisten gefüllt war, der vordere Bereich war leer.
»Dort hinein«, befahl der Mann mit dem Maschinengewehr auf Arabisch. »Wir werden später entscheiden, was wir mit euch machen.« Er grinste niederträchtig. »Allerdings kann es auch sein, dass diese verrostete Containertür das Letzte ist, was ihr zu sehen bekommt.«
Noél tauschte einen schnellen Blick mit Bron und sah ihm genau an, was dieser gerade dachte. Was war nun besser: langsam zu ersticken oder kaltblütig erschossen zu werden?
+BRON+
Seine Gedanken rasten und überschlugen sich. Sich wieder zu verwandeln und anzugreifen kam nicht infrage, aber in dieses dunkle, luftdicht abgeriegelte Stahlgehäuse eingesperrt zu werden, wäre ebenfalls ihr Tod. Sie würden gnadenlos darin ersticken! Bron schluckte und zögerte, der eindeutigen Aufforderung nachzukommen, doch Noél setzte sich bereits in Bewegung und ging auf den Container zu. Seine Schritte wirkten allerdings seltsam schleppend und am Eingang stolperte Noél über die winzige Schwelle am Boden. Er wäre wohl gestürzt, wenn er sich nicht mit einer Hand am ungeöffneten Torflügel abgefangen und sich daran festgehalten hätte.
»Los, vorwärts«, knurrte der Mann mit dem Elektroschocker hinter Bron und versetzte ihm einen Stoß zwischen die Rippen.
Bron biss die Zähne zusammen. Verdammt, er hatte keine andere Wahl, als Noél zu folgen, der bereits den Container betreten hatte und sich mit erhobenen Händen zu ihm umdrehte. Das Gesicht des Lieutenants zeigte keinerlei Regung und es war das Letzte, was Bron sah, bis die Tür hinter ihnen verschlossen und vernehmlich von außen verriegelt wurde.
Schlagartig hüllte Dunkelheit sie ein, schob sich wie ein schwarzer Vorhang vor seine Augen. Entsetzt keuchte Bron und ging in die Knie. Allein die Vorstellung, wie schnell sich der Sauerstoff in der Luft verbrauchen würde und dass sie beide in wenigen Stunden dem Tod geweiht wären, versetzte ihn in Panik. Echte Angst wallte in ihm auf, legte sich als beklemmender Druck auf seinen Brustkorb und drohte ihn zu zerquetschen. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, der Pulsschlag dröhnte in seinen Ohren. Scheiße, er bekam keine Luft mehr! Ein hektisches Keuchen entwich ihm, trotzdem hatte er beim Einatmen das Gefühl, keinen Sauerstoff in die Lungen zu bekommen.
»Atme tief durch. Ganz ruhig. Es wird alles gut«, ertönte Noéls Stimme vor ihm.
Bron spürte, wie der Navy Seal nach ihm tastete und ihm die Hand auf die Schulter legte. Gleich darauf zog er sie jedoch wieder zurück und er merkte, dass Noél vor ihm auf die Knie gegangen war. Einen kurzen Moment später legte er etwas um Brons Schultern, das sich weich und warm anfühlte. Er schluckte und befühlte den Stoff. Es musste Noéls Hemd sein, das er ausgezogen und ihm umgehängt hatte.
»Danke«, krächzte er, schlüpfte umständlich in die Ärmel und wickelte sich in dem viel zu großen Flanellhemd ein. Es duftete nach Noél, aber er widerstand der Versuchung, seine Nase in dem Stoff zu vergraben und tief einzuatmen. Seine bloßen Füße wurden langsam kalt, der Stahlboden des Containers strahlte eine eisige Kälte ab.
Es klapperte leise, danach drückte Noél ihm etwas in die Hand, das Bron sogleich als Hose identifizierte.
»Zieh die an. Ich habe noch mein T-Shirt und eine Boxershorts an, das reicht mir aus«, hörte er Noél brummen.
Irgendetwas sagte Bron, dass er sich jegliche Diskussionen oder eine Ablehnung dieser selbstlosen Geste sparen konnte, und so zog er auch die Jeans des Kodiakbären über. Zum Glück war ein Gürtel daran, er versank quasi in der weiten Hose.
»Willst du lieber meine Schuhe oder die Socken haben?«, fragte Noél nun.
»Ich nehm die Socken.« In der absoluten Dunkelheit war es seltsamerweise schwierig, die Klamotten entgegenzunehmen und sich anzuziehen, aber er atmete auf, als er die kalten Füße wenigstens in vorgewärmte Socken stecken konnte.
»Wandeln ist wohl die letzte Option«, mutmaßte Bron und richtete sich vorsichtig auf. Selbst in ihrer Bärengestalt wäre es unmöglich, den massiven Stahlriegel aufzubrechen, mit dem die Tür gesichert war.
Er hörte, wie Noél etwa einen Meter entfernt gegen eine Kiste stieß und leise fluchte, sich dann aber daran zu schaffen machte.
»Nein, in Bärengestalt ist unser Stoffwechsel höher und wir würden mehr Sauerstoff verbrauchen«, gab er zurück. »Oder kannst du den Trick mit dem Winterschlaf?«
»Nein.« Bron seufzte. »Ein Jammer, dass uns diese Fähigkeit irgendwann in der Evolution abhandengekommen sein muss.«
»Ich kenne nur einen Bären, der das heute noch hinbekommt«, plauderte Noél entspannt weiter. »Siku Kunuk, unseren früheren Commander. Aber der ist auch zur Hälfte Polarbär, vielleicht kann er deshalb im Winter seinen Stoffwechsel noch herunterfahren. Theoretisch könnte der dann rund um die Uhr schlafen, wenn sein Mann Devon ihn nicht auf Trab halten würde.«
Bron brummte lediglich. War ja interessant, was Noél da erzählte, aber er hatte irgendwie das Gefühl, dass der ihn nur ablenken wollte. Nun gut, es schien zu funktionieren. Seine Panikattacke war von selbst abgeklungen, mittlerweile konnte er wieder freier durchatmen.
»Sollten wir nicht lieber die Klappe halten, um Sauerstoff zu sparen?«, fragte Bron dennoch.
Noél antwortete nicht, dafür ertönte ein deutliches Knarzen und ein anderes Geräusch, das Bron vermuten ließ, dass dieser den Deckel einer Kiste hatte aufstemmen können. Es raschelte, gleich darauf brummte Noél enttäuscht, um dann jedoch leise aufzulachen.
»Die Kisten hier sind voller Schaumstoffbälle!«, rief er aus und schnaubte belustigt. »Na, super. Nichts, womit wir uns im Notfall verteidigen könnten, aber wenn uns langweilig wird, können wir immerhin noch eine Runde spielen.«
Etwas Weiches traf Bron unerwartet am Kopf und er zuckte heftig zusammen. Hatte der Navy Seal ihm eben trotz der Dunkelheit so einen Ball an die Birne geknallt? Das unterdrückte Kichern des Kodiak ließ kaum einen anderen Schluss zu.
Bron setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen, um an Noéls Seite zu kommen, ohne sich an den Kisten zu stoßen.
»Was hast du vor?«, fragte er, weil er hörte, wie sich Noél an der nächsten Kiste zu schaffen machte und diese weiter nach links rückte.
»Wir schichten die Kisten am Eingang auf, um wenigstens so etwas wie einen kleinen Schutzwall zu haben. Außerdem können wir uns aus den Bällen ein gemütliches Nest bauen, damit wir uns beim Warten nicht die Eier abfrieren«, brummte Noél.
Augenblicklich merkte Bron auf.
»Warten? Auf was denn? Dass die Typen wiederkommen und uns endgültig erledigen?«, stieß er frustriert hervor.
Himmel, er könnte sich in den Arsch beißen, dass er niemanden vom NCIS informiert hatte, bevor er die Waffenlieferung auf dem Schiff lokalisieren konnte! Doch dazu war es zu früh gewesen, mehr als einen Verdacht und Freddys vage Aussage hatte er nicht vorzuweisen gehabt. Wenn seine Leute die Grennway Mold
mit einem Durchsuchungsbeschluss geentert und unter die Lupe genommen hätten, ohne die Waffen zu finden, wären diese kriminellen Arschlöcher gewarnt worden und alles wäre umsonst gewesen!
»Nein«, antwortete Noél trocken. »Wir warten auf die Navy Seals. Ich hoffe, die sind rechtzeitig hier, bevor der Kahn ausläuft. Falls wir doch ablegen, ehe sie eintreffen, ist das aber auch kein Problem. Für solche Einsätze wie die Kaperung und Sicherung eines Schiffes auf hoher See sind wir ebenfalls ausgebildet worden.«
Bron schnaubte überrascht. »Und das sagst du mir erst jetzt? Wann hast du die Seals denn informiert?«
»Eben gerade.« Noéls Stimme klang, als würde er breit grinsen. »Ich habe einen Peilsender außen am Container angebracht, bevor ich ihn betreten habe. Eines dieser kleinen Konfettiteilchen. Es aktiviert sich von selbst, sobald man es irgendwo anheftet, und sendet ein Notsignal über Lionsheart Alpha, einen privaten Satelliten, direkt nach Deutschland zu den Wild Forces. Als du heute Morgen geschlafen hast, hab ich meinen Admiral über die Sachlage und deine Vermutungen informiert, dass auch hochrangige Mitglieder der Navy in die illegalen Waffenlieferungen verwickelt sein könnten. Meine Truppe wird also ausschließlich eine absolut vertrauenswürdige Einheit der hier stationierten Seals schicken, sofern sie selbst nicht schnell genug hier sein kann.«
»Dann können wir nur hoffen, dass niemand das Signal abfängt und sie uns schnell entsorgen, bevor die Kavallerie hier eintrifft«, bemerkte Bron kritisch.
»Jetzt sei nicht immer so ein Pessimist und hilf mir wenigstens mal!«, motzte Noél ungehalten.
Bron verkniff sich eine Beleidigung, die ihm als Retourkutsche auf der Zunge lag, und tastete sich zu Noél vor. Gemeinsam stapelten sie so viele Kisten wie möglich vor dem Eingang, um wenigstens ein bisschen Deckung zu haben. Die letzten acht Kisten schoben sie anschließend hinter diesem Wall so zusammen, dass in deren Mitte Platz frei blieb, füllten ihn mit unzähligen kleinen Schaumstoffbällen und krabbelten in den so ausgepolsterten Bereich hinein.
Bron lachte unterdrückt, als er sich inmitten der Bälle niederließ und sie so unter seinem Körper arrangierte, dass er nicht auf dem eiskalten, blanken Boden des Containers saß.
»Erinnert mich an das Bällebad, das mein Dad für uns Kinder immer am Independence Day aufgestellt hat«, gab er zu und lachte leise. »Ben und ich haben darin Verstecken gespielt oder uns Ringkämpfe geliefert.«
»Bei uns gab es so etwas nur in dem Möbelhaus, wo meine Eltern gerne eingekauft haben«, erwiderte Noél. »Ich habe mich dann immer zwischen den Bällen versteckt und gehofft, sie würden vergessen, mich wieder abzuholen.« Noél streckte sich neben ihm aus und seufzte.
Eine Weile schwiegen sie. Plötzlich bewegte sich Noél und Bron merkte, wie er sich ihm zuwandte. Sie lagen auf dem begrenzten Raum so eng nebeneinander, dass Bron nicht nur Noéls Körperwärme, sondern nun sogar seinen Atem auf dem Gesicht spüren konnte. Der Kodiakbär redete jedoch nicht, sondern schien seinen eigenen Gedanken nachzuhängen.
»Wie hoch schätzt du die Wahrscheinlichkeit ein, dass sie uns rechtzeitig finden?«, fragte Bron und durchbrach damit die bedrückende Stille.
»Hm.« Noél brummte lediglich und schien zu zögern. Es entstand jedenfalls eine merkliche Pause, bevor er antwortete. »Unsere Chance dürfte bei etwa vierzig Prozent liegen. Wenn ich die Kubikmeter des freien Raums hier im Container richtig berechnet habe und unseren gemeinsamen Verbrauch an Atemluft von etwa 800 Litern pro Stunde auch nur annähernd korrekt einschätze, bleiben uns vielleicht drei Stunden, bevor der Sauerstoff knapp wird. Eher weniger. Jetzt kommt es darauf an, wie schnell auf das Notsignal reagiert werden kann – und ob der Satellit überhaupt in einer günstigen Position ist, um es störungsfrei zu übermitteln.«
Augenblicklich fuhr Bron in die Höhe.
»Nur drei Stunden?«, krächzte er fassungslos. Himmel, er hatte mindestens mit der doppelten Zeit gerechnet! Sämtliche Unwägbarkeiten, die vorhanden waren, eine Rolle spielen könnten und in allen möglichen Horrorszenarien mündeten, schossen ihm durch den Kopf. Was wäre, wenn diese Typen zurückkamen und sie einfach abknallten? Oder ließen diese Arschlöcher sie doch lieber qualvoll ersticken, weil sie sich die Finger nicht an ihnen schmutzig machen wollten? Und täuschte er sich oder wurde die Luft bereits wesentlich dünner?
»Hey, bleib ganz ruhig«, raunte Noél ihm zu, der seine aufkommende Panik gespürt haben musste. »Atme tief ein und fahr deinen Puls runter.«
»Wie kannst du bei alldem nur so ruhig bleiben!«, polterte Bron entsetzt los und versuchte sich aufzurichten. »Wir werden hier drin sterben!«
»Bron!« Noéls Stimme hatte plötzlich einen scharfen Unterton, aber sie brachte ihn zur Besinnung. Mitten in der Bewegung hielt er inne und versuchte krampfhaft, seinen Atem unter Kontrolle zu bringen.
»Gib mir deine Hände«, forderte Noél plötzlich streng.
Ohne nachzudenken, kam Bron der Anweisung nach, die eher wie ein Befehl geklungen hatte, und ließ sich zurücksinken. Die tiefschwarze, erdrückende Dunkelheit lastete schwer auf ihm, doch er tastete nach Noél und verkrallte seine Finger in dessen T-Shirt.
»Ruhig atmen«, beschwor Noél ihn nochmals und umfasste seine verkrampften Finger.
Bron rang noch immer hektisch nach Luft. Verdammt, wie sollte er das machen? Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn, er kniff die Augen fest zusammen und presste sein Gesicht an Noéls Schulter.
»Atme durch die Nase ein und durch den Mund wieder aus. Tief ein und wieder aus«, flüsterte Noél, rutschte ein wenig zu ihm herum und presste Brons Hände auf seinen Brustkorb.
Er spürte, wie sich Noéls Brust unter den tiefen Atemzügen hob und wieder senkte. Automatisch passte er sich dem ruhigeren Rhythmus an.
»Versuch, den Kopf freizubekommen«, mahnte Noél leise. »Versetz dich gedanklich an einen Ort, an dem du dich wohlfühlst. Vielleicht an einen Strand oder in deine Wohnung. Stell dir den Ort bildlich vor, füll den Raum mit Details. Mit einer Hängematte zwischen zwei Palmen oder deiner Lieblingscouch, auf der du es bequem hast, ganz egal. Sei ruhig und entspannt. Du kannst dort entweder allein oder mit jemandem zusammen sein, Hauptsache ist, dass du dich sicher fühlst.«
Bron spürte, wie sich sein Atem beruhigte, obwohl er Probleme hatte, sich einen solchen sicheren Ort vorzustellen. In den letzten zehn Jahren war er viel gereist, war sowohl in den Staaten als auch im Ausland dienstlich unterwegs gewesen, ohne sich irgendwo besonders wohl oder gar in Sicherheit zu fühlen.
Noéls ruhige Atemzüge und die Wärme seines Körpers lullten ihn ein, gaben ihm einen gewissen Grad an Stabilität und vor allem die Gewissheit zurück, nicht allein in dieser ausweglos erscheinenden Situation zu sein.
»Das bekomme ich gerade nicht gebacken. Hast du denn so einen sicheren Ort?«, nuschelte er in Noéls T-Shirt hinein.
~Noél~
Die Frage überraschte Noél und er zögerte, ob er ausgerechnet Bens Bruder gegenüber ehrlich sein sollte. Denn gerade als er selbst seine Aufmerksamkeit tief in sein Innerstes hinein lenkte, um seinen eigenen Safe Place
zu suchen, lichtete sich der Nebel, der ihn in den letzten Tagen davon abgehalten hatte, ihn zu finden.
»Ich sehe vor mir, wie ich die Tür zu unserem Zimmer öffne, das ich mir mit Ben geteilt habe«, begann Noél wahrheitsgemäß. »Das Türblatt ist weiß lackiert und es quietscht leise, aber keiner von uns beiden hat sich je die Zeit genommen, die Scharniere nachzustellen und zu ölen. Ben sitzt auf seinem Schreibtischstuhl am PC, er nutzte seine Freizeit gerne dazu, sich im Internet über die weltweite Politik und Wirtschaftslage auf dem Laufenden zu halten. Er dreht sich zu mir um und grinst, weil ich vollkommen verschwitzt, dreckig und außer Atem hier auftauche. Ich war gerade im Wald, der direkt hinter dem Stützpunkt beginnt, hatte mich gewandelt und bin ein paar Kilometer gelaufen.«
Noél stockte und fühlte in sich hinein. Die Erinnerung an ihr gemeinsames Zimmer war so lebendig, dass er glaubte, noch den typischen Geruch wahrnehmen zu können. Eine Mischung aus frisch bezogener Bettwäsche, Bens Duschgel und der Tasse Pfefferminztee, die neben ihm auf dem Schreibtisch stand. Pfefferminze hatte der Grizzly immer geliebt, ob als Bonbon, Kaugummi oder als Tee. Noél schluckte trocken. Die Trauer war noch immer ein Teil von ihm, sie begleitete ihn und machte ihm das Herz schwer, ohne aber wehmütig zu werden. Sie hatten eine tolle Zeit zusammen gehabt, die nun vorüber war – aber an seinem ganz persönlichen sicheren Ort war Ben noch immer für ihn da. Weil er ihn in seinem Inneren für immer bei sich tragen und lebendig halten würde.
Er spürte, wie Bron ruhiger atmete und seine verkrampften Hände lockerer wurden, ohne dass er sie zurückzog.
»Wie war mein Bruder eigentlich so in den letzten Jahren?«, fragte dieser leise.
Noél brummte nachdenklich. »Eher wortkarg und zurückhaltend, außerdem ein verdammt guter Soldat. Wir haben nie viel miteinander geredet, aber schon bald gemerkt, dass wir das auch nicht mussten. Wir haben gespürt, wie der andere drauf war. Wenn ich vor einem Einsatz oder einer schwierigen Übung nervös war, genügte es, dass Ben seine Hand auf meine Schulter gelegt hat und mir dadurch versicherte, dass er an meiner Seite war. Ich konnte mich immer auf ihn verlassen. Er hat mir wahrscheinlich ebenso oft den Arsch gerettet wie ich ihm.« Noél verstummte und dachte einige Sekunden lang nach. »Mehr war nicht nötig, mehr brauchte ich nicht. Er war mein Rückhalt, mein … mein Seelenbär, wie er es nannte.«
Ein merkwürdiger Laut entwich Bron, den Noél nicht einschätzen konnte.
»Er war dir also mehr ein Bruder, als er es mir gegenüber jemals sein konnte«, kommentierte Bron dann jedoch mit gefasster, klarer Stimme.
»Hm, ich glaube, er hat es immer bedauert, dass ihr im Streit auseinandergegangen seid«, räumte Noél ein. »Und ich bin mir sicher, dass er das ändern wollte.«
»Tja. Zu spät ist zu spät«, sinnierte Bron mit einem zynischen Unterton in der Stimme. »Diese Einsicht hätte er mindestens fünfzehn Jahre früher haben müssen, um noch irgendetwas zwischen uns beiden zu retten.«
»Hättest du ihm denn überhaupt zugehört, wenn er vor deiner Tür gestanden und dich um Verzeihung gebeten hätte?«, fragte Noél geradeheraus.
Er spürte, wie Bron zögerte, dann jedoch den Kopf schüttelte.
»Nein, das hätte ich wahrscheinlich nicht«, gab er dann unumwunden zu.
»Ihr seid beide zwei unglaubliche Sturköpfe«, stellte Noél fest. »Aber jetzt nimm wenigstens die Entschuldigung an, die er dir hinterlassen hat.«
Bron antwortete nicht, aber es kam Noél vor, als würde er seinen eigenen Gedanken nachhängen. Er unterdrückte einen tiefen Seufzer und versuchte so gut wie möglich zu entspannen. Seinem Zeitgefühl nach waren sie bislang etwas mehr als dreißig Minuten in diesem Container eingesperrt – und es blieb ihnen nichts anderes übrig, als weiter abzuwarten und auf Rettung zu hoffen.