15
»I ch traue diesem Kaya keinen Zentimeter über den Weg«, sagte Aydin, als sie wieder im Auto saßen.
»Schwer einzuschätzen.«
»Schwer einzuschätzen?« Aydin machte ein Gesicht, als könnte er nicht glauben, was er da hörte. »Der hat doch Dreck am Stecken. Fandest du das nicht merkwürdig?«
»Was?«
»Na, dass er Walter zuerst als naiven und gutmütigen Menschen darstellt, der keinem ein Haar krümmen kann, zum Ende unseres Gespräches aber nicht ausschließt, dass er der Mörder sein könnte.«
»Ist mir nicht entgangen. Ich grübele auch schon die ganze Zeit darüber nach. Möglich, dass ihn die Tatsache, dass die Tatwaffe aus Walters Imbiss stammt, zum Umdenken bewegt hat.«
»Noch ist nicht bewiesen, dass das Messer aus Walters Imbiss ist.«
»Sei nicht naiv, Kollege. Walter hat selbst zugegeben, dass ein Messer fehlt.«
»Trotzdem.« Aydin schaute aus dem Fenster.
Inzwischen waren sie auf der A59 Richtung Porz-Wahn. Noch rollte der Verkehr, sodass Brandt hoffte, dass sie ihr Ziel in ein paar Minuten erreichen würden.
»Ich glaube, er hat Lunte gerochen.«
»Meinst du, er weiß, dass wir mit Walter befreundet sind?«
»Möglich. Anfangs nicht, aber am Ende, als er wissen wollte, ob wir noch andere Verdächtige im Auge haben. Da fand ich seine Reaktion sehr merkwürdig.«
»Ist mir auch nicht entgangen.« Brandt nickte, er hatte einiges an dem Gesprächsverlauf seltsam gefunden. »Vielleicht ist ihm bewusst geworden, dass er einen Fehler begangen hat.«
»Welchen?«
»Er hat uns anvertraut, dass Faruks Sohn mit Janine befreundet war und es mit Devin noch ist.«
»Na ja, im Dorf kennt doch jeder jeden.«
»Mag sein. Aber dass Kaya ausgerechnet am Sonntag, nach der Tatnacht, in Libur aufkreuzt, ist schon verdächtig.«
»Meinst du, Faruks Sohn ist der Mörder?«
»Ich weiß es nicht. Warum sollte er Walter das Messer stehlen, um damit Janine zu töten? Ich kenne ihn nicht, aber zu so einem Plan gehört verdammt viel kriminelle Energie. Warum überhaupt Walter?«
Die Fragen, die Brandt beschäftigen wurden immer mehr, leider konnten die Antworten nicht Schritt halten.
»Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass es wirklich nur Zufall war. Wie es ausschaut, haben die beiden Brüder ein sehr gutes Verhältnis zueinander, möglich, dass sie sich sonntags öfter treffen.«
»Möglich.«
Brandt fuhr von der Autobahn ab. Durch das Seitenfenster sah er, wie ein Flugzeug den Flughafen Köln Bonn, der nur einen Steinwurf entfernt lag, anflog. Am liebsten wäre er jetzt dorthin gefahren, hätte ein Ticket gebucht und wäre irgendwo hingeflogen. Weg von all den Lügen, dem Hass und dem Verbrechen.
Dass er so etwas nicht tun würde, war ihm im selben Augenblick bewusst. Er war niemand, der vor der Verantwortung floh. Sie war ein wichtiger Teil des Lebens. Man konnte sich zwar vorübergehend vor ihr verstecken, aber sie würde einen immer einholen und dann ihren Tribut fordern. Es war daher die beste Lösung, sich ihr sofort zu stellen, so wusste man, woran man war. Und Brandt wäre nicht Brandt, wenn er nicht fest entschlossen gewesen wäre, dass er das Dickicht der Fragen so lange durchkämmen würde, bis er die richtigen Antworten und damit den wahren Mörder gefunden hätte.
Und was, wenn Walter doch der Täter war? , stellte ihm sein Gewissen die unangenehme Frage, die er sich am liebsten nicht beantworten wollte.
Auch das gehört zur Verantwortung, dass man unbequeme Fragen beantwortet.
»Hast du verstanden, worüber sich Arinc und Kayas Bruder gestritten haben?«
»Leider nicht ganz. Ich habe ein paar Wortfetzen aufgeschnappt. Es ging um irgendwelche Probleme mit anderen arabischen Clans und dass die Türken und die Kurden ihre Feindschaft überwinden müssten, sonst würden die Araber bald ganz Köln unter ihrer Kontrolle haben.«
»Also nichts über unsere aktuellen Ermittlungen?«
»Soweit ich es verstanden habe, nicht.«
»Okay. Ich fand es nur seltsam, dass Kaya es plötzlich so eilig hatte, uns loszuwerden, nachdem er das Gespräch mit Arinc beendet hatte.«
»Ich glaube, der war so angespannt, weil er glaubt, dass wir ein persönliches Interesse daran haben, dass Walter nicht der Täter ist, und weil er befürchtet, dass er seinen Neffen mit seiner Aussage in den Fokus unserer Ermittlungen gerückt hat.«
Brandt nickte nur, sie hatten ihr Ziel, die Kneipe, in der Janine gefeiert hatte, erreicht. Er parkte den Wagen und sie stiegen aus.
Ein paar ältere Herren saßen am Tresen, als sie die Kneipe betraten.
»Dach«, grüßte sie ein Mann. Es war der Kneipenbesitzer, der hinter dem Tresen selbst bediente. Sie hatten ihn bereits in den Filmen der Überwachungskameras gesehen. Er war klein, Brandt schätzte ihn auf knapp einen Meter siebzig, und rundlich. Sicherlich war er ein Genussmensch, der gerne aß oder Kölsch trank. Vermutlich sogar beides.
»Guten Tag, Herr Karg. Wir sind von der Kölner Kriminalpolizei«, begann Brandt das Gespräch.
»Dach, Männer. So früh habe ich euch nicht erwartet. Ich brauch noch fünfzehn Minuten, dann können wir uns unterhalten«, antwortete Karg. Er schien bester Laune zu sein, von seinem Wesen her erinnerte er Brandt an Rech.
»Wir warten.«
»Zwei Kölsch?«, fragte der Wirt und bevor sie etwas erwidern konnten, zapfte er bereits zwei Kölsch in den typischen schlanken Gläsern, dann stellte er sie vor den beiden Beamten auf den Tresen.
»Paul, ich nehme auch noch eins«, ließ sich der Mann, der neben Brandt saß, vernehmen.
»Nehmen Sie meins«, sagte Brandt und reichte dem verdutzten Mann sein Kölsch.
»Sind Sie einer von denen, die glauben, Alkohol wäre schlecht?«, erkundigte sich der andere misstrauisch.
»Ich trinke nicht während des Dienstes.«
»Das ist aber sehr unhöflich, wenn Paul eine Runde spendiert«, blieb der Mann unbeeindruckt. »Ist selten genug der Fall. Wenigstens Sie stoßen doch mit mir an, oder?« Der Mann hob das Kölsch, dabei wanderte sein Blick zu Aydin.
»Ich will nicht unhöflich sein«, schmunzelte der und stieß mit dem Mann an, danach setzte er das Glas an den Mund und nahm einen kräftigen Schluck. Brandt schüttelte den Kopf. Es sah Aydin ähnlich, dass er die Gelegenheit sofort nutzte, um ein Glas Kölsch zu trinken. Bis heute hatte Brandt nicht verstanden, was die Kölner und vor allem Aydin an diesem Spülwasser so lecker fanden. Für ihn ging nichts über ein gutes Pils oder ein Glas Wein.
Karg war derweil in ein Hinterzimmer verschwunden.
»Schreckliche Sache«, sagte der Mann, mit dem Aydin angestoßen hatte.
»Was meinen Sie?«, fragte Aydin. Brandt nahm an, dass der Mann sich nur aufspielen wollte. Er wirkte deutlich beschwipst, vermutlich war das ein Dauerzustand. Jedenfalls erweckte er nicht den Eindruck, als wäre das heute eine Ausnahme.
»Na, das mit dem jungen Ding. Und das bei uns in Libur. Schrecklich.«
»Kannten Sie Janine Otto?«, fragte Aydin weiter.
»Wer kannte sie nicht? Libur ist gleich nebenan. Sie und meine Frau arbeiten ehrenamtlich beim DRK, in der Flüchtlingsbetreuung.«
Jetzt hatte der Mann auch Brandts Aufmerksamkeit, vielleicht hatte er ihn falsch eingeschätzt.
»Wie heißen Sie?«, erkundigte er sich.
»Roland Titze. Hocherfreut.« Titze reichte den beiden Beamten die Hand.
»Waren Sie an dem Abend vor der Tatnacht hier?«
»Ich war hier, aber nur kurz.«
»Dann haben Sie auch Frau Otto gesehen?«
»Ja, wir haben uns flüchtig unterhalten. Ihre beste Freundin, die jetzt in München studiert, war hier, die beiden schienen sehr viel Spaß zu haben. Dass sie kurz danach ermordet wurde, hat meine Frau und mich zutiefst schockiert. Sie war doch so beliebt und freundlich. Wer tut so etwas Schreckliches?«
»Genau das wollen wir herausfinden. Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen?« Dass sie das kurze Gespräch zwischen ihm und Janine nicht in den Kameraaufzeichnungen gesehen hatten, konnte nur bedeuten, dass er in einer Ecke gesessen hatte, wo der Aufnahmewinkel der Kameras nicht hinreichte. Die Kneipe war wirklich auffallend verwinkelt, es gab viele dunkle Ecken, wo keine Kamera filmte.
»Leider nicht. Es war sehr voll. Glauben Sie, dass einer der Gäste der Mörder ist?«
»Das wissen wir nicht. Wir stecken noch mitten in den Ermittlungen.«
»Warum machen Sie keinen Speicheltest? Wenn der Mörder unter den Gästen war, finden Sie ihn doch darüber.«
»So einfach ist das nicht«, antwortete Brandt und bat Aydin, dem Mann die Fotos zu zeigen, die sie mitgenommen hatten.
»Kennen Sie einen der Männer?«
Titze schaute sich die Fotos genau an, so schien es zumindest. »Diesen Mann habe ich hier noch nie gesehen. Jedenfalls nicht, dass ich mich erinnern könnte.«
»Und die anderen beiden?«
»Ich bin mir nicht sicher, aber sie könnten aus dem Flüchtlingsheim sein.«
»Wie sicher sind Sie denn?«
»Nicht sehr, irgendwie kommen sie mir bekannt vor. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, aber diese jungen Männer sehen doch alle ähnlich aus. Warum fragen Sie nicht die Heimleiterin?«
»Das werden wir tun. Danke«, antwortete Brandt und nahm die Fotos wieder an sich. Noch wusste er nicht, wie er diese Information einschätzen sollte. Das Flüchtlingsheim war nicht weit entfernt, daher war es nicht verwunderlich, dass auch Bewohner des Heimes in der Kneipe feierten. In diesem Fall jedoch konnte jedes noch so unverdächtige Detail den wahren Täter entlarven, weshalb Brandt auch diesem Hinweis nachgehen würde.
Damit hätten wir eine weitere offene Frage , dachte Brandt.
Er schaltete sein Handy ein, um ein Foto von Walter zu öffnen. Es war ein Standbild aus der Kameraaufzeichnung, das Fischer ihnen gemailt hatte. Sie hatten es bis jetzt nicht ausgedruckt, weil Brandt nicht sicher war, ob sie es dem Wirt zeigen sollten. Es dem Zeugen vorzulegen, konnte allerdings nicht schaden.
»Kennen Sie diesen Mann?«
»Ja, er war Samstagabend mit einer anderen Person hier in der Kneipe. Aber ich kenne ihn nicht persönlich. Was ist mit ihm?«
»Nichts. Wir wollten nur wissen, ob Sie ihn kennen. Vielleicht ist Ihnen etwas aufgefallen?«
»Leider nicht. Er fällt ja schon ins Auge mit seiner Statur und den vielen Tattoos. Er war gut dabei. Glauben Sie, er könnte Janine auf dem Gewissen haben?«
»Nein«, platzte Aydin heraus. »Ganz sicher nicht.«
»Wissen Sie, ob Janine Probleme mit Bewohnern des Flüchtlingsheimes hatte?«
»Da bin ich überfragt. Das müssten Sie meine Frau fragen.«
»Könnten Sie das für uns tun? Hier ist unsere Visitenkarte. Sie können uns jederzeit anrufen.«
»Werde ich machen. Ich wollte sie eh gleich beim DRK abholen.« Titze nahm die Karte und steckte sie in die Hosentasche, dann leerte er das Kölschglas. Im selben Augenblick erschien der Wirt.
»Kannst du meinen Deckel machen?«, bat Titze. »Meine Liebste wartet nicht gerne.«
»Na klar.« Der Wirt nickte und nahm den Deckel, auf den er ein paar Striche gezeichnet hatte. Für jedes Kölsch ein Strich.
Der Gast zahlte und verabschiedete sich von den Beamten.
»Ich hoffe, Roland hat Sie nicht vollgequatscht. Wir kennen uns schon mehr als dreißig Jahre. Guter Mann, aber sehr redselig.«
»Nein, alles gut«, beruhigte Brandt ihn.
»Wie kann ich Ihnen denn helfen? Haben die Kameraaufzeichnungen Sie weitergebracht?«
»Ein wenig, wir bedanken uns für die unbürokratische Zusendung der Aufnahmen.«
»Das ist das Mindeste, was ich tun kann. Ich kannte Janine seit Jahren, da war sie noch in der Grundschule. Sehr schlimm, was passiert ist. Sie war so ein gutes Mädchen. Immer freundlich, höflich und bescheiden.«
»Ist Ihnen an dem Abend etwas aufgefallen?«, erkundigte sich Brandt.
»Es war sehr voll. Ehrlich gesagt, hatte ich kaum Zeit, mich um etwas anderes als ums Bedienen zu kümmern.«
Mit so einer Antwort hatte Brandt gerechnet und der Wirt übertrieb nicht. Auf den Aufzeichnungen hatten sie gesehen, wie gut die Kneipe besucht gewesen war.
»Wie gut kannten Sie Janine Otto?«
»So wie man die Nachbarschaft halt kennt. Ich war nicht mit ihren Eltern befreundet, wenn Sie darauf hinauswollen. Sie kam ab und an hierher zum Feiern, in letzter Zeit allerdings eher selten. Sie meinte, ihr Studium und ihre ehrenamtliche Tätigkeit im Flüchtlingsheim würden zu viel Zeit in Anspruch nehmen. Ich finde es gut, wenn sich junge Menschen ehrenamtlich engagieren.«
»Kommen viele Männer aus dem Heim hierher zum Feiern?«, fragte Aydin.
»Nicht wirklich. Ich glaube, das ist nicht so ihre Musik. Die mögen Rap, deutschen Hiphop und so.«
»Aber einige kommen schon her, oder?«, hakte Brandt nach. Noch wollte er das Foto nicht zeigen.
»Ja, natürlich. Wir liegen ja nur einen Steinwurf entfernt von dem Heim, und das Kölsch ist hier nicht nur deutlich günstiger als so ein langweiliger Cocktail am Hohenzollernring, sondern auch leckerer.«
»Gab es Ärger mit den jungen Männern?«
»Nein, ich achte darauf, dass sich hier alle gut benehmen. Am Wochenende passt eine Security auf. Die letzte Schlägerei liegt sehr lange zurück«, antwortete Karg und richtete sich unbewusst auf. Er schien mächtig stolz auf diese Tatsache zu sein. Dann zapfte er ein Kölsch.
»Für mich bitte nicht«, sagte Brandt.
»Wäre doch schade, das wegzuschütten«, entgegnete Aydin. »Mein Kollege ist eher der Pils-Trinker.« Aydin hatte das bewusst angebracht, das war Brandt im selben Augenblick klar.
»Sie wissen nicht, was Ihnen entgeht.« Der Wirt schüttelte den Kopf und reichte Aydin das Kölschglas, danach zapfte er für sich ein zweites Kölsch und stieß mit ihm an. Er gönnte sich einen großen Schluck und setzte das Glas mit einem Geräusch ab, als würde es kein besseres Getränk auf Erden geben.
»Kennen Sie diese beiden Männer?«, fragte Brandt und zeigte ihm den Ausdruck.
»Ja, die kommen ab und an her, zum Feiern. Die sind aber ganz harmlos. Warum?«
»Wohnen sie im Flüchtlingsheim?«
»Soweit ich weiß, ja. Wirklich unterhalten habe ich mich mit denen aber noch nicht. Sie sind meistens ein paar Stunden am Wochenende hier. Trinken, feiern und gehen wieder.«
»Auch in Begleitung von Damen?«
»Glaube schon. Sie sind jung, würde mich nicht wundern. Habe nie darauf geachtet. Glauben Sie, die jungen Männer könnten etwa …?« Der Wirt wagte seinen Gedanken nicht auszusprechen.
»Wir glauben gar nichts«, entgegnete Brandt schlicht. »Wir gehen jedem Hinweis nach. Wissen Sie, ob die jungen Männer Kontakt zu Janine hatten?«
»An dem Abend?«
»Ja, und auch sonst?«
»Leider nicht. Wie gesagt, es war voll. Ich hatte keine Zeit.«
»Was ist mit diesem Mann? Kennen Sie den?« Brandt reichte Karg den zweiten Ausdruck.
»Das ist Reiner.«
»Reiner und weiter?«
»Reiner, seinen Nachnamen kenne ich nicht. Er kommt seit einigen Monaten ab und an her. Hat vorher in Hannover gewohnt.«
»Wissen Sie, wo er jetzt wohnt?«
»Nein, dürfte aber nicht weit weg sein. Er kommt immer zu Fuß.«
»Was wissen Sie über ihn?«
»Nicht viel. Er ist freundlich, eher der Einsiedler. Meistens sitzt er dahinten, immer alleine.« Karg zeigte auf einen Tisch, der etwas weiter entfernt stand. »Er trinkt zwei, drei Pils und geht dann wieder. Ein sehr ruhiger Geselle. Er mag kein Kölsch. Im Norden ist das ja nicht so verbreitet. Kommen Sie auch aus der Ecke?«
»Aus Hamburg. Wir beide«, antwortete Aydin.
»Junge Menschen stehen Neuem noch offen gegenüber, aber sobald sie um die fünfzig sind, merke ich, dass sie nur schwer mit ihren Gewohnheiten brechen.«
Aydin kämpfte sichtlich dagegen an, nicht zu grinsen, Brandt hingegen wollte auf diesen Unsinn gar nicht erst eingehen.
»Um welche Uhrzeit taucht er denn meistens auf?«, erkundigte er sich stattdessen.
Der Wirt schaute über seine Schulter zur Wanduhr. »So um diese Zeit. Ab und an abends, nach 22 Uhr.«
»Kennen Sie diesen Mann auch?«, wollte Brandt wissen und reichte dem Wirt sein Handy, wo ein Foto von Walter zu sehen war.
Sie hatten bereits mit dem Wirt telefoniert, aber da war es vorrangig um das Taxi und ein paar andere Fragen gegangen.
»Das ist doch Walter«, lachte der Wirt. »So betrunken wie an dem Abend habe ich ihn noch nie erlebt.«
»Warum hat er denn so viel getrunken?«
»Das sollten Sie ihn fragen.« Karg wirkte überrascht. »Er war mit einem Bekannten hier. Vielleicht hatten sie was zu feiern.«
»Kommt Walter oft her?«
»Nein, der lebt doch für seinen Imbiss, aber sein Bekannter schon. Wenn Sie mich fragen, macht er einen großen Fehler.«
»Inwiefern?«, wollte Aydin wissen.
»Wenn man von morgens bis abends nur noch arbeitet, wie soll man da Freundschaften schließen oder eine Frau finden? Der ist doch seit Ewigkeiten Single. Wenn man alt wird, weiß man erst zu schätzen, wie kostbar Familie ist. Da können Sie noch so gute Freunde haben, wie diesen Tolga oder Rémy …«
»Hat er über sie gesprochen?«
»Immer, wenn er hier ist. Er scheint eine besondere Bindung zu ihnen zu haben. Er strahlt jedes Mal, wenn er von ihnen spricht. Wenn Sie mich fragen, ist er ein viel zu gutmütiger Holzkopf. Als er einmal hier war, haben ihn ein paar Gäste, die ihn kennen, damit aufgezogen, dass er mal richtige Freunde brauche, Erwachsene. Keinen ominösen Straßenmusiker, der ihn vermutlich nur ausnutzt, oder einen jungen Mann, der aufgrund seines Downsyndroms zu allen nett ist, weil er nicht kapiert, wer es gut mit ihm meint.« Karg hielt kurz inne, er bemerkte nicht, wie Aydins Miene sich verdunkelte. Brandt entging es nicht, weshalb er seinen Kollegen mit dem Fuß am Bein berührte. Das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte, war eine sinnlose Diskussion. Schließlich waren sie auf die Aussagen des Wirtes angewiesen.
»Und dann«, fuhr Karg fort, »hat er mit seinen zwei Freunden bei der Polizei angegeben. Ich glaube, Tolga ist der Bruder von dem einen. Beide kommen aus Hamburg …« Der Wirt unterbrach sich und schluckte, als würde ihm gerade ein Licht aufgehen. »Sie sind nicht diese beiden Polizisten, oder?«
»Doch, das sind wir«, antwortete Aydin entschieden. »Und was Sie über Rémy oder meinen Bruder sagen, ist vollkommen falsch. Tolga kann sehr wohl unterscheiden, wer es gut mit ihm meint.« Aydin hob den Brustkorb.
»Verzeihen Sie, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten. Wenn Sie das falsch aufgefasst haben, tut es mir sehr leid.« Brandt sah Karg an, dass ihm das Ganze äußerst unangenehm war.
»Dann sollten Sie beim nächsten Mal darüber nachdenken, was Sie sagen. Oft sind es nämlich solche unbedachten Worte, die dazu führen, dass Menschen wie mein Bruder Tolga zu Unrecht ausgegrenzt werden.«
»Sie haben recht. Ich kann mich nur nochmals entschuldigen. Das war in keiner Weise meine Absicht«, entschuldigte sich der Wirt erneut und wollte gleich ein weiteres Kölsch zapfen.
»Lieber nicht. Wir sind im Dienst«, kam Brandt diesmal Aydin zuvor. Aber er nahm an, dass Aydin das auch sagen wollte, denn er nickte.
»Wie Sie meinen. Wenn Walter Ihr Freund ist, warum stellen Sie mir dann diese Fragen? Warum fragen Sie nicht ihn?«
»Weil wir neutral ermitteln und es unsere Aufgabe ist, jeden, der mit Janine an dem Abend Kontakt hatte, zu befragen«, antwortete Brandt. Er wollte jeglichen Verdacht, dass sie nicht objektiv ermittelten, im Keim ersticken.
»Verstehe, das macht Sinn«, nickte der Wirt und gönnte sich einen großzügigen Schluck von dem frischen Kölsch. Wieder stellte er das Glas mit einem Geräusch ab, als wäre es das weltbeste Getränk.
»Sagt Ihnen der Name Devin Kühn etwas?«
»Nein, wer soll das sein?«
»Und was ist mit einem Herrn Kaya?«, bohrte Brandt weiter. Er ignorierte Kargs Gegenfrage, es ging den Wirt nichts an, welche Bedeutung Devin für den Fall hatte oder haben könnte, wenn er ihn ohnehin nicht kannte. Er ärgerte sich ein wenig, dass er vergessen hatte, Zafer Kaya nach dem Vornamen seines Neffen zu fragen, aber den würde er noch herausfinden.
»Kaya? Sagt mir nichts.« Der Wirt schüttelte den Kopf, doch sein Blick wanderte ins Leere, als traute er sich nicht, Brandt anzuschauen. Dann zog der Wirt die Nase hoch und leerte sein Glas.
Es war offensichtlich, dass er den Clanchef kannte, Karg war ein ganz schlechter Schauspieler.
»Sie kennen Kaya«, stellte Brandt daher fest.
»Hören Sie, ich will keinen Ärger, mit niemandem. Ich kenne die nur flüchtig. Es gibt ganz üble Geschichten über diesen Faruk und seinen älteren Bruder. Ich möchte nicht in irgendwelche Clangeschichten involviert werden. Ich wüsste auch nicht, was das mit Janine zu tun haben sollte. Diese Leute feiern nicht in meiner Kneipe, die brauchen etwas mehr Schickimicki.« Kleine Schweißperlen bildeten sich auf Kargs Stirn.
»Sie müssen keine Angst haben, wir können Sie beschützen«, antwortete Aydin. »Werden Sie erpresst?«
»Nein, werde ich nicht. Aber warum sollte ich mir Ärger ins Haus holen? Die lassen mich in Ruhe und dabei möchte ich es belassen. Danke!« Kargs Stimme wurde laut, seine lockere und lustige Art war komplett verschwunden. Er wirkte angespannt und wischte sich fortwährend nervös mit der rechten Hand über die Stirn. »Ich habe Ihnen die Aufzeichnungen gegeben. An dem Abend war sehr viel los, ich hatte keine Zeit, irgendetwas zu beobachten, das tut mir sehr leid für Janine. Sie war ein anständiges Mädchen, und ich hoffe, dass Sie den Mörder finden. Der Gedanke, dass so ein Wahnsinniger frei rumläuft und womöglich bald erneut zuschlägt, jagt mir Angst ein. Aber ich wüsste nicht, wie ich Ihnen weiterhelfen kann.«
Ein Gedanke schoss Brandt durch den Kopf, für den er sich sofort schämte: Ein zweites Opfer würde Walter entlasten. Doch den Tod einer weiteren jungen Frau durfte niemand in Kauf nehmen, bloß damit Walters Unschuld bewiesen wäre.
»Hier ist unsere Visitenkarte. Könnten Sie diesen Reiner bitten, dass er uns anruft, wenn er bei Ihnen auftaucht? Egal um welche Uhrzeit«, sagte Aydin und reichte dem Wirt seine Karte.
»Mach ich. Glauben Sie wirklich, dass der Mörder in der Kneipe war? Diese jungen Dinger posten doch jeden Mist. Wäre es nicht möglich, dass sie einen heimlichen Verehrer hatte, der sie abgepasst hat?«
»Wir stehen noch am Anfang der Ermittlungen. Derzeit können wir nichts ausschließen.«
»Ich hoffe, dass das alles sehr diskret verläuft. Wenn sich rumspricht, dass sich in meiner Kneipe ein potenzieller Mörder aufgehalten hat, was gar nicht stimmt, mache ich mir Sorgen um meinen Umsatz.«
»Seien Sie unbesorgt, solange es keinen begründeten Verdacht gibt und wir den Täter nicht tatsächlich unter den Gästen finden, gibt es keinen Anlass zur Sorge«, versuchte Brandt den Wirt zu beruhigen, dabei waren seine Ängste nicht unberechtigt. Schon andere Gastronomiebetriebe hatten Schiffbruch erlitten, nachdem sich herumgesprochen hatte, dass dort jemand ermordet worden war oder ein Mord angebahnt wurde. Vermutlich wollte Karg auch deshalb nicht über die Kayas sprechen, weil er Sorge hatte, dass seine Gäste wegblieben, wenn es hieße, Leute wie die Clanmitglieder gingen in seiner Kneipe ein und aus.
Ob die Presse allerdings Rücksicht auf Kargs Ängste nehmen würde, bezweifelte Brandt, denen ging es nur um die Auflage, oder seit Neuestem um Seitenklicks.
»Danke.«
»Falls Ihnen noch etwas einfallen sollte, rufen Sie uns bitte an. Jede noch so unwichtige Information könnte nützlich sein«, bat Brandt.
Beide Beamten verabschiedeten sich von Karg. Das Gespräch hatte nicht das gewünschte Ergebnis gebracht, im Gegenteil, es waren jetzt noch mehr Fragen offen.
»Hast du bemerkt, wie ängstlich er wurde, als du Kaya erwähnt hast?«, fragte Aydin, als sie zum Wagen gingen.
»Warte«, antwortete Brandt plötzlich und hielt Aydin am Arm zurück.