Kapitel 2
Tag 2, Agnesviertel – Köln
»I
mmer wenn ich glaube, ich hätte schon alles gesehen, werde ich eines Besseren belehrt«, sagte Alexander Rech, Kriminalbeamter bei der Spurensicherung der Kölner Polizei, mit betrübter Stimme.
Brandt antwortete nicht gleich. Sein Blick ruhte auf der übel zugerichteten Leiche. Auch ihm fiel es schwer, seine Fassung zu behalten.
»Endlich bist du da.«
Mit diesen Worten wurde Brandt aus seinen Gedanken gerissen. Er drehte sich um, neben ihm stand seine Chefin Kristina Bender. Sie war neununddreißig Jahre alt, knapp einen Meter siebzig groß und hatte kurze braune Haare. Rein äußerlich wirkte sie wie eine ganz normale Frau ihres Alters. Sie hielt nicht viel von Schminke, und wenn, dann sah man es nicht auf den ersten Blick. Ihre Wortwahl war öfter alles andere als ladylike, aber sie war eine Überfliegerin.
Seit zwei Jahren war sie die Chefermittlerin der Kölner Mordkommission und damit die jüngste Leiterin vom K-11, das war die interne Abkürzung für das Kriminalkommissariat.
Bender war sehr ehrgeizig, fachlich kompetent und schien für ihren Beruf zu leben. Diese Eigenschaften verschafften ihr Respekt und Anerkennung bei den Mitarbeitern und Kollegen. Trotz ihres jungen Alters war sie die Richtige für den Job.
»Ging nicht schneller«, antwortete Brandt trocken.
»Hast du getrunken?«, fragte Bender.
»Das tut man, wenn man in einer Kneipe ist.«
Bender verdrehte nur ihre Augen. »Du bist aber nicht mit dem Wagen hier?«
»Nein, natürlich nicht«, antwortete er pflichtbewusst. So viel Verstand besaß er noch, schließlich hatte er mehr als fünf Kölsch getrunken.
Als ihn der Anruf seiner Chefin erreicht hatte, war er zunächst versucht gewesen, das Auto zu nehmen, hatte sich dann aber doch dafür entschieden, die Strecke zu laufen, da die Kneipe fußläufig zum Tatort lag. Ansonsten hätte er sich nicht nur eine Predigt von Bender anhören dürfen, sondern wer weiß was noch.
Bender duldete keine Pflichtverletzungen in ihrer Abteilung, ihre Mitarbeiter mussten immer Vorbilder sein und über jeden Zweifel erhaben. Gerade Brandt fiel das nicht immer leicht, da er doch hier und da zu unkonventionellen Methoden neigte. Das führte immer wieder dazu, dass er mit Bender aneinandergeriet.
Bender hielt sich die Hand vor den Mund, als sie die Leiche sah. Es schien, als wollte sie einen Schrei unterdrücken.
»Schlimm, sehr schlimm«, machte sich Rech bemerkbar.
»Habt ihr schon etwas?«, wollte Bender wissen.
»Nein, nicht wirklich. Wir haben ja gerade erst angefangen. Aber nach dem zu urteilen, was ich auf den ersten Blick sehe, dürfte der Todeszeitpunkt noch nicht lange zurückliegen. Ich vermute maximal zwei Stunden.«
»Wer hat sie gefunden?«, fragte Bender.
»Niemand. Um 1:15 Uhr ging ein Notruf bei der Polizei ein«, erklärte Bender.
»Und wer hat den Notruf getätigt?«, hakte Brandt nach.
»Das wissen wir nicht. Die Stimmenanalyse läuft noch.«
»Warum soll jemand einen Mord melden und sich nicht zu erkennen geben? Konnten wir den Anruf zurückverfolgen?« Brandt bekam ein ganz mulmiges Gefühl, die Sache fing an zu stinken, bevor die Ermittlungen überhaupt angefangen hatten.
»Genau diese Frage stelle ich mir auch. Der Notruf wurde aus der Wohnung übermittelt, vom Festnetzanschluss.«
»Aus dieser Wohnung?«
»Mensch, Brandt, wie viel hast du getrunken? Ja, aus dieser Wohnung, verdammt noch mal, und es ist davon auszugehen, dass der Notruf nicht von der Frau kam.« Benders Stimme erhob sich, sie machte einen genervten und ungehaltenen Eindruck.
»Wieso ruft der Mörder bei der Polizei an?«, fragte Brandt laut in die Runde.
»Wieso macht ein Mensch so was
?«, bemerkte Bender sarkastisch und schaute auf die Leiche. »Rech, was hast du für uns?«, wandte sich Brandt an seinen Kollegen von der Spurensicherung. Er war zu angetrunken, um sich auf eine Diskussion mit seiner Chefin einzulassen.
»Wie gesagt noch nicht viel. Bei der Toten handelt es sich um Julia Schick. Sie ist zweiundzwanzig Jahre alt und soweit wir das bisher beurteilen können, lebte sie alleine. Jedenfalls gibt es in der Wohnung keine Hinweise darauf, dass sie einen Freund hatte.«
»Habt ihr Spermaspuren gefunden?«
»Nein, noch nicht. Aber ich gehe davon aus, dass sie vergewaltigt wurde.«
»Nachdem Sie ermordet wurde?«, unterbrach Bender das Gespräch der beiden Männer.
»Ich denke nicht. Wenn ich mir die Verletzungen anschaue, deutet vieles darauf hin, dass er die junge Frau nach dem Sexualakt, wenn es denn wirklich dazu gekommen ist, ermordet hat.«
»Meinst du, dass sie vielleicht gar nicht vergewaltigt wurde?«
»Doch, ich vermute es. Leichte Verletzungen im Intimbereich lassen darauf schließen. Aber wir haben noch keine Spermaspuren gefunden.«
»Könnte es sein, dass er versucht hat, sie zu vergewaltigen, und als es nicht geklappt hat, ist er ausgeflippt und hat sie so zugerichtet?«
»Sehr gut möglich. Der Mörder muss unter extremer Anspannung gestanden haben. Wenn er auf diese Weise keine sexuelle Befriedigung finden konnte, hat er sie sich anders geholt …«
»… indem er sein Opfer abgeschlachtet hat«, beendete Brandt den Satz. Es war nichts Ungewöhnliches, dass Psychopathen durch Gewalt erregt wurden.
Trotz der schlimmen Verletzungen konnte Brandt sehen, dass Julia Schick eine junge attraktive Frau war. Sie war schlank und sehr gepflegt.
»Warum hat er das Gesicht nicht verletzt?«, fragte Bender.
»Gute Frage, vielleicht hat das Gesicht eine bestimmte Bedeutung für ihn.«
»Oder er hat sich an ihrem Gesicht einen gewichst«, zeigte Brandt eine weitere Möglichkeit auf.
Bender verdrehte nur die Augen, ihr abwertender Blick war für ihn Antwort genug.
»Wir treffen uns morgen früh um 10 Uhr zur Besprechung. Ich hoffe, dass wir bis dahin brauchbare Hinweise haben.«
»10 Uhr?«, fragte Brandt. Schließlich war es inzwischen schon fast 2:30 Uhr und er vermutete, dass er und seine Kollegen noch einige Zeit am Tatort verbringen würden – im Gegensatz zu Bender, die jetzt nach Hause fuhr, um zu schlafen. Das jedenfalls nahm er an.
»Sei froh, dass ich nicht 9 Uhr gesagt habe«, fiel Bender ihm ins Wort.
Er antwortete nicht. Sie verabschiedete sich von den Kollegen und verließ die kleine Wohnung.
»Mann, ist die gut drauf«, spottete Brandt, als sie gegangen war.
Er trat an die Leiche heran und betrachtete sie genauer. Der Brustkorb war blutverschmiert, ebenso ihre Beine und ihre Füße. Am Bettlaken blieb sein Blick hängen.
Mit der rechten Hand berührte er das Laken, natürlich mit Einmalhandschuhen, um keine Spuren zu verwischen. Er senkte den Kopf und schaute genauer hin.
»Nass«, sagte er überrascht.
»Ja, wir wissen auch noch nicht, was das zu bedeuten hat. Aber um den Intimbereich ist es nass.«
»Urin?«
»Ich denke nicht. Sie hat sich zwar entleert, was typisch ist, der Körper wird schlaff nach dem Tod, aber da ist nicht nur Urin, sondern auch Wasser.
»Wollte der Täter Spuren verwischen?«, suchte Brandt nach einer Antwort.
»Gut möglich. Aber für eine konkrete Aussage ist es noch zu früh, ich hoffe, dass ich morgen im Meeting mehr dazu sagen kann.«
»Ist er durchs Fenster eingestiegen? Oder gibt es Spuren an der Haustür?« Brandt schaute zum Schlafzimmerfenster, das nur angelehnt war.
»Davon ist auszugehen. An der Haustür gibt es keine Spuren, die auf Gewalteinwirkung schließen lassen.«
»Oder er kannte sie«, überlegte Brandt weiter.
»Auch möglich. Bevor du fragst, es gibt noch keine Hinweise auf Fingerabdrücke. Du musst mir einfach noch ein wenig Zeit lassen, minge Fründ.«
Brandt näherte sich dem Fenster. Er öffnete es und schaute sich den Rahmen an, danach schaute er hinaus. Julias Wohnung lag im Erdgeschoss, das Schlafzimmer wies zum Innenhof und war leicht versetzt, es bot somit gute Voraussetzungen für einen Einbruch.
Jedoch deutete nichts am Tatort auf einen Einbruch mit Diebstahl hin, sondern allein auf ein Sexualverbrechen mit Todesfolge.
Woher wusste der Mörder, dass eine junge Frau hier wohnt?,
fragte sich Brandt. Ob die junge Frau ihren Mörder gekannt hatte?
Ein Gefühl sagte ihm, dass es so war.
Köln war groß, das Agnesviertel war eine sehr beliebte Wohngegend, nah am Zentrum, und es lag linksrheinisch, was für viele Kölner wichtig war. Die richtige Rheinseite. So waren die Kölner eben, sie hatten ihre Prinzipien, auch wenn einige von ihnen arg an den Haaren herbeigezogen waren. Doch das machte sie auch sympathisch.
Die kühle Luft, die durchs Fenster eindrang, half ihm, seine Gedanken zu sortieren. Kurzentschlossen schwang er ein Bein durch den Fensterrahmen.
»Was machst du da?«, hörte er Rech fragen, aber da war er schon zum Fenster hinaus.
»Alles gut, ich will nur mal sehen, wie der Einbrecher sich Zugang verschafft hat«, erklärte Brandt.
Das Grummeln seines Kollegen verriet ihm, dass er mit dieser Antwort nicht glücklich war. Die größte Sorge der Spurensicherung war immer, dass andere wertvolle Spuren verwischen könnten.
Der Boden des Innenhofes brachte die erste Enttäuschung. Mit bloßem Auge konnte er keine Schuhabdrücke entdecken, alles war betoniert.
»Rech, schaut bitte auch hier nach Schuhspuren.«
»Gerne, aber wenn du da rumtrampelst, wird nicht mehr viel davon übrig bleiben.«
»Ich fürchte, das passiert so oder so », entgegnete Brandt.
»Und warum soll ich dann die Männer damit beschäftigen?« Ärger lag in Rechs Stimme.
»Man kann nie wissen«, erklärte Brandt und konnte sich ein kleines Grinsen nicht verkneifen.
Der Innenhof war dunkel, er machte ein paar Schritte in der Hoffnung, dass ein Licht angehen würde, aber nichts geschah.
Ein dunkler Innenhof?,
dachte er verwirrt. Oder hat der Mörder die Glühbirne zerstört?
Dank des Mondlichts, das zwischen die Häuser fiel, war es nicht stockfinster. Auch das Licht aus dem Schlafzimmer hellte den Innenhof leicht auf. Er ging Richtung Eingang, schaute auf die Namensschilder, fand dann den Lichtschalter und betätigte ihn. Es wurde hell.
»Kein Sensor«, stellte er fest und musste seinen Gedanken, dass der Mörder am Licht manipuliert hatte, revidieren. Kein Bewegungsmelder.
Sparmaßnahmen? Umweltschutz?
Brandt schüttelte ärgerlich den Kopf und blickte sich um.
Vom Eingang aus konnte man das Schlafzimmer nicht sehen, also hatte sich der Mörder fast ungehindert Zugang verschaffen können. Dann fiel sein Blick auf ein anderes Fenster.
Das Nachbarhaus!
Er ging hinüber. Es war ein kleines Fenster, aber von hier aus hatte man einen guten Blick zum Schlafzimmer von Julia.
Ein kleiner Hoffnungsschimmer!
Brandt ging zur Haustür und klingelte. Niemand reagierte, er klingelte noch ein zweites Mal, wieder reagierte niemand.
Er schaute auf seine Uhr, inzwischen war es kurz vor 3 Uhr. Er wusste zwar, dass es die denkbar ungünstigste Zeit war, jemanden zu sprechen, aber hier ging es um einen Mord, da konnte er keine Rücksicht auf die Belange anderer nehmen. Also betätigte er die Klingel ein weiteres Mal, diesmal ausdauernd.
»Mist«, fluchte er. Wer immer in der Wohnung wohnte, schlief entweder tief und fest oder hatte einfach keine Lust, die Tür zu öffnen.
Er klingelte noch einmal, aber wieder keine Reaktion.
»So nicht«, sagte er verärgert und beschloss, eine andere Klingel zu nehmen, um in das Haus zu kommen. Wenn er erst einmal den Flur betreten hatte, würde er so lange an die Tür klopfen, bis geöffnet wurde. Brandt konnte sehr hartnäckig sein.
Gerade als er eine andere Klingel betätigen wollte, berührte ihn jemand an der Schulter.