Es war dunkel, als wir in die Einfahrt bogen. Niemand wartete auf uns, und ein Teil von mir wünschte sich, wir könnten das Auto still und heimlich zurückstellen und einfach so tun, als hätten wir uns bloß den ganzen Tag über versteckt, vielleicht im Keller.
Sanne hatte andere Pläne. Er würgte den Motor ab und drückte geschlagene zehn Sekunden auf die Hupe.
Es dauerte auch nicht viel länger, bis Jona aus dem Haus stürmte. Er ignorierte mich völlig und herrschte Sanne an: „Ich hoffe, du hast dafür eine verdammt gute Erklärung!“
Sanne schubste mich. Geh ruhig, sollte das wohl heißen. Ich regle das.
Ich zögerte. Wollte bleiben. Doch Sanne brauchte keinen Bodyguard, und er hatte recht. Das hier war eine Angelegenheit zwischen ihm und Jona. Ich konnte nichts beitragen.
Also ging ich. Jona hatte die Haustür offen gelassen. Mela war nicht im Wohnzimmer, auch nicht in der Küche. Vielleicht im dunklen Garten, aber ein kühler Wind blies, also stieg ich erst mal die knarzende Treppe rauf. Ich schlich die letzten paar Schritte und öffnete leise unsere Zimmertür.
Mela saß auf ihrem Bett und las Vom Winde verweht. Sie hob den Kopf, als ich reinkam. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht erweckte in mir plötzlich den Wunsch, ich wäre doch bei Jona und Sanne geblieben.
„Hey. Alles in Ordnung?“ Ich wusste nicht, was ich sonst sagen sollte.
Sie klappte das Buch zu. „Du haust einfach ab und ignorierst meine Nachrichten? Alles Mögliche hätte passieren können …“ Sie unterbrach sich.
„Aber es ist doch nichts passiert. Oder?“, fragte ich besorgt.
Sie starrte mich an, als wäre ich bescheuert. „Dir hätte alles Mögliche passieren können! Du lässt dich mit einem Typen ein, den du seit drei Tagen kennst, und …“
„Bei mir war alles okay“, fiel ich ihr ins Wort. Und weil das der Wahrheit nicht wirklich nahekam, ergänzte ich: „Sogar ziemlich viel mehr als okay.“
Mela sah mich an. Sah mich richtig an. Ein winziges Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht, und plötzlich war zwischen uns alles wieder gut. Ich war Fern, ihre beste Freundin, über deren verrückte Einfälle man nur den Kopf schütteln konnte. „Lass mich raten. Er hat dich mit irgendwelchem Scheiß vollgequatscht, bis du ihn geküsst hast, nur damit er die Klappe halten würde?“
„Wir haben uns geküsst“, gab ich zu. „Erzähl’s aber niemandem, okay? Was in Ostfriesland passiert …“
„… bleibt in Ostfriesland“, vollendete Mela meinen Satz, und es klang wie ein Schwur. Sie lächelte wieder, und ich grinste wohl dämlich.
Gleich aber verschwand das Lächeln aus ihrem Gesicht. „Ich muss dir auch was sagen“, gestand sie und klang plötzlich so ernst, dass ich mich automatisch auf ihr Bett sinken ließ, dicht neben ihr, als könnte ich sie damit vor irgendwas beschützen. „Ich habe Jona heute was erzählt, was ich noch nie jemandem erzählt habe, und ich möchte, dass du es weißt. Wir haben geredet, und es ist mir so rausgerutscht … Was okay ist, aber ich finde es irgendwie nicht richtig, dass du nicht die Erste warst, die es erfahren hat, und deshalb möchte ich es dir jetzt gleich sagen.“
Finstere Szenarien schwirrten durch meinen Kopf. Eine unbestimmte Angst überfiel mich. So kannte ich Mela gar nicht, und wir waren seit Ewigkeiten befreundet. Was also konnte Jona von ihr wissen, das ich nicht schon wusste? Es musste etwas ganz Neues sein.
Sie würde doch nicht Hals über Kopf nach Lübeck ziehen und mich zurücklassen, oder?
„Du weißt, dass ich adoptiert bin“, begann Mela, und es klang beinah wie eine Frage.
Ich nickte. Ich wusste sogar mehr als das. Wusste, dass ihre Mam in Wahrheit ihre biologische Tante war und irgendeine andere Tante daher ihre biologische Mutter. Ich hatte nie hinterfragt, warum das Ganze. Wenn ich raten hätte müssen: wahrscheinlich weil Melas Bio-Mam ungeplant schwanger geworden war.
Im nächsten Moment ließ Mela die Bombe platzen: „Meine Mutter – meine echte Mutter, meine ich – ist bei meiner Geburt gestorben. Es war ein Not-Kaiserschnitt, und der muss wohl ziemlich schiefgegangen sein.“
Sie verstummte und wandte den Kopf ab, doch ich hatte die Tränen in ihren Augen schon gesehen. Weil mir nichts Besseres einfiel, schlang ich einen Arm um ihre Schultern und zog sie fest an mich. Mit der freien Hand ergriff ich die ihre und drückte sie.
Mela schluckte, doch sie erwiderte meinen Händedruck. „Sie hat das Meer geliebt“, flüsterte sie, ohne mich anzusehen. „Mam hat mal gesagt, sie wollte, dass man sie verbrennt und die Asche ins Meer streut. Aber Oma und Opa waren dagegen.“
Nun wandte sie mir doch das Gesicht zu, zog ihre Hand aus meiner und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen, die noch immer voller Tränen standen. Sie lächelte tapfer. „Wir reden zu Hause nicht viel darüber. Aber wann immer ich daran denke, fühlt es sich an, als hätte sie für mein Leben mit ihrem bezahlt, verstehst du?“
Ich nickte. In diesem Moment verstand ich ziemlich viel über Mela und woher sie ihre Kraft und Ausdauer, ihre Zielstrebigkeit und Disziplin nahm. Vor allem aber begriff ich, dass man, egal wie gut man jemanden kannte, ihn nie vollständig kannte. Dass es immer Raum für Überraschungen gab, für dunkle und helle Flecken. Für Details, die auf den ersten Blick so gar nicht ins Bild passten und irgendwie doch.
Genau so, wurde mir schlagartig klar, musste eine Beziehung – jede Art von Beziehung – sein, wenn sie Zukunft haben sollte. Keine endlose Abfolge von Wiederholungen alter Filme. Und warum stand mir plötzlich das Rosa von Sannes Brille vor Augen?
„Denkst du oft an sie?“, raunte ich.
„Manchmal.“ Mela kaute auf ihrer Lippe. „Nicht so sehr an sie“, fuhr sie fort, „ich kannte sie ja gar nicht. Mehr an die Idee von ihr. Zum Beispiel frage ich mich manchmal, zu welcher Entscheidung sie mir raten würde. Oder was sie von mir halten würde. Von dem, was ich tue.“
„Sie wäre unglaublich stolz auf dich“, versicherte ich ihr, weil es gar keine andere Möglichkeit gab. Jede Mutter der Welt, ob tot oder lebendig, musste stolz auf eine Tochter wie Mela sein.
Mela vergrub das Gesicht an meiner Schulter. Ich drückte sie fest und streichelte ihre Haare, und als wir so dasaßen, sah ich die Zukunft für einen Herzschlag sonnenklar und funkelnd wie das Meer vor mir. Ich würde auf Mela aufpassen und sie auf mich. Sanne hatte recht gehabt: Vögel und Krokodile, eine Symbiose. Es war nicht nötig, dass ich ganz wie Mela wurde oder sie wie ich. Wir konnten alles tun, was wir wollten. Jede auf ihre Weise, vor allem aber: zusammen.
Nachher gingen wir runter und fanden Jona im Garten. Er schichtete Holz in die Feuerstelle. Allein. Ich wollte ihn schon fragen, ob er Sanne zur Strafe für die Aktion vorhin mit dem Auto in die Gartenhütte gesperrt hatte, doch da schubste mich Mela und wies auf den Durchgang in der Hecke. Dahinter schimmerte der Mond auf dem nassen Sand der Bucht und ließ das Meer silbern glänzen. Eine vertraute Gestalt schlenderte am Ufer entlang, hielt inne, bückte sich nach etwas und hob es auf. Mela schubste mich noch mal. Diesmal war es eine klare Aufforderung, und ich entfernte mich von ihr und hielt auf das geöffnete Türchen zu.
Sie blieb bei Jona.
Im Mondlicht ertastete ich mir vorsichtig meinen Weg über die Stufen. Erst als ich unten war, erkannte ich, was Sanne hier tat: Er sammelte Treibholz. Oder hatte zumindest welches gesammelt. Ein kleines Häufchen Äste und Zweige war neben der Treppe aufgeschichtet.
Nun beugte er sich über eine Sandburg, die wohl Jona tagsüber gebaut haben musste. Nein, eher Mela und Jona, verbesserte ich mich, als ich näher kam. Die kunstvoll geformten Türme mit ihren Ornamenten aus Muscheln und Steinen, die Möwenfeder-Fahnen, das alles sah eindeutig nach Melas Händchen für Deko aus.
Sanne war dabei, das Bauwerk um ein Türmchen zu ergänzen. Ich hockte mich neben ihn und fing an, mit beiden Händen einen schützenden Wassergraben um die Burg auszuscharren. Für die Krokodile. Wir arbeiteten eine Weile schweigend, nur den Mond und ein paar Sterne über und das Meer vor uns, bis ich die Spannung nicht mehr aushielt. „Wie ist das zwischen dir und Jona vorhin gelaufen?“
„Er hat mich durch den Garten geprügelt“, behauptete Sanne todernst. Als ich aufsah, lächelte er und schüttelte leicht den Kopf. „Glaub mir, das ist bei Weitem nicht der wildeste Stunt, den ich je abgeliefert habe.“ Es war keine echte Antwort auf meine Frage. Ich hatte eigentlich auch keine erwartet.
In stummem Einverständnis wuschen wir schließlich unsere Hände im Meer und machten uns auf den Rückweg. Im Garten flackerte ein Feuer. Wir legten unser bisschen Holz daneben ab. Jona öffnete eine Bierflasche und reichte sie wortlos Sanne. Die Beiläufigkeit dieser Geste beruhigte mich. Sanne dagegen zögerte, bevor er das Bier und dann einen Schluck davon nahm, und seine Reaktion verriet mir mehr als seine Worte am Strand, dass nicht alles zwischen ihnen beiden okay war. Doch an Jonas Gesichtsausdruck sah ich auch, dass es das wieder sein würde.
Wir saßen in klappbaren Gartenliegestühlen ums Feuer und teilten uns den Rest von Onkel Heins schrecklichem Kruiden. Sanne füllte vier Schnapsgläser und beäugte sie kritisch, bis er sich davon überzeugt hatte, dass in allen exakt gleich viel von dem Gesöff war. Er reichte sie der Reihe nach an uns weiter. Wir prosteten einander zu.
„Unser letzter Abend“, fasste Jona das in Worte, was wir alle dachten. Erwartungsvoll blickte er in die Runde. Ich hörte das stumme oder?, aber Mela und ich schwiegen beide. Es war so, daran konnte keiner von uns was ändern. Punkt. Basta. Endgültig.
Jona leerte sein Glas in einem Zug. Wir Mädchen nippten auch, nur Sanne nicht. Er drehte das Glas in der Hand hin und her. „Sorry, dass ich deine Autoschlüssel genommen habe, ohne zu fragen“, wandte er sich plötzlich ganz nüchtern und ehrlich an Jona. „Das war nicht okay.“
„War es nicht“, stimmte ihm Jona zu. Doch er seufzte resigniert und lehnte sich rüber, zog Sanne in eine Umarmung, bei der sie beide fast samt den Gläsern von ihren Stühlen gekippt wären, und zerraufte ihm die Haare. „Aber ich liebe dich trotzdem, du Arsch.“
Sanne unternahm einen halbherzigen Versuch, sich zu befreien. „Selber Arsch“, murmelte er, als Jona endlich von ihm abließ, und bedachte diesen mit einem vorwurfsvollen Blick. „Behalt deine Pfoten bei dir, es sind Minderjährige anwesend. Und was soll sie denken“, das galt Mela, „wenn sie hört, wie du mit ,Ich liebe dich’s nur so um dich schmeißt?“
Mela und ich tauschten Blicke. „Lasst euch von uns bloß nicht stören“, ergriff sie zuckersüß das Wort, und ich setzte noch eins drauf: „Ihr wisst ja: Was in Ostfriesland passiert, bleibt in Ostfriesland.“
Anklagend funkelte Sanne Jona an. „So viel zu deinen Aufreißer-Qualitäten.“
„Oder deinen?“, gab Jona belustigt zurück.
Sanne sprang auf. Er marschierte ohne sich umzusehen durch den Garten und verschwand. Gerade als in mir erste Zweifel auftauchen wollten, ob er etwa tatsächlich sauer war und uns sitzen gelassen hatte, kam er mit der Gitarre zurück und knallte sie Jona reichlich unsanft in den Schoß.
„Da. Spiel ihr zum Abschied was von den Dänen-Bubis vor. Ich verspreche sogar, dass ich nicht ins Feuer kotze.“ Er warf sich in seinen Liegestuhl, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und sah höchst zufrieden mit sich aus.
Jona griff bereitwillig zur Gitarre. Er spielte ein paar Akkorde und wandte sich dann mit einem leicht verlegenen Lächeln an Mela. „Der Song, über den wir vorhin geredet haben – willst du ihn hören?“ Erst dann fand sein Blick mich. „Er ist eigentlich für euch beide“, fügte er hinzu. Als sollte ich ihm übelnehmen, dass er nur für meine beste Freundin einen Song geschrieben hatte.
Natürlich wollten wir ihn hören. Und so fing Jona an:
„Two summer birds
they came with the rain
they’ll leave with the sun …“
Ich sah hauptsächlich Mela an, während er spielte. Sie war total in die Musik versunken. Mit einem Lächeln im Gesicht, als feierten wir Weihnachten und ihren Geburtstag zugleich und jemand hätte außerdem hunderttausend Euro für das Malaysia-Schulprojekt gespendet und sie ins deutsche Laufteam für die nächste Jugend-Weltmeisterschaft eingeladen. Der Song war auch gut, aber das, was sich mir dabei unauslöschlich ins Hirn einprägte, war dieser verzückte Ausdruck auf Melas Gesicht.
Kaum hörte Jona auf zu spielen, lief sie zu ihm rüber und gab ihm einen Kuss. Sanne schnappte sich die Gitarre, die im Weg war. Woraufhin Jona die Gelegenheit gleich nutzte und Mela in seinen Schoß zog. Sie küssten einander wieder. Diesmal länger.
Sanne und ich sahen einander an.
„Wie war das noch mal mit seinen Aufreißer-Qualitäten?“, ätzte ich.
Quasi als Antwort kickte Sanne gegen Jonas Liegestuhl. Der wackelte bedenklich, aber Jona und Mela ließen sich dadurch nicht stören.
„Ich zähle bis drei“, drohte Sanne. „Dann landet diese Gitarre im Feuer.“
Sichtlich unwillig brach Jona den Kuss ab. „Wenn du das tust, rate, wer auf dem Rückweg bis nach Bremen läuft.“
Mela machte es sich auf seinem Schoß bequem. Ihr Kopf ruhte auf seiner Schulter. „Soll ich ein Foto von euch machen?“, bot ich ihr an. Und fügte schelmisch hinzu: „Dann kannst du allen erzählen, Magnus hätte beim Cricket Sounds einen Song für dich geschrieben.“
Sanne fing plötzlich an zu lachen.
„Was?“, fragte Jona argwöhnisch.
„Die Mädels finden, du siehst aus wie der Oberschleimer von den Dänen-Bubis.“
„Tut er!“, verteidigte ich uns beide. „Als wir euch bei der Tankstelle gesehen haben, haben wir zuerst gedacht, er wäre Magnus.“
Sanne lehnte sich so weit seitwärts, dass er fast vom Stuhl gekippt wäre. Er formte mit Daumen und Zeigefingern beider Hände eine Kamera und betrachtete Jona durch diese kritisch. „Es sind die Haare“, stellte er endlich fest. „Und der belämmerte Gesichtsausdruck.“ Jona täuschte einen Hieb in seine Richtung an, den Sanne mit der Gitarre abwehrte.
„Spielt noch was“, bat ich die Jungs. „Irgendwas von eurer Band.“ Es war unser unwiderruflich letzter Abend, und ich wollte wenigstens einen Song von den Heroes gehört haben.
Prompt lehnte Sanne die Gitarre an Jonas Liegestuhl und fing an, in seinen Taschen zu kramen. Er stülpte eine nach der anderen nach außen. „Hast du einen Keyboarder und einen Schlagzeuger dabei?“, wandte er sich zu guter Letzt an Jona. „Meine sind alle.“
Jona reichte ihm die Gitarre. „Spiel, und halt die Klappe!“
„Jawohl, o großer Meister und Bandleader“, erwiderte Sanne sarkastisch. „Welchen Song?“
„Take Two.“
Sanne fing an zu spielen. Jona richtete sich ein bisschen auf, Mela noch immer auf den Knien, und räusperte sich.
„All the times I‘ve tried …“
Diesmal nahm Sanne meinen Blick gefangen. Ich beobachtete seinen konzentrierten Gesichtsausdruck. Sein kaum verhohlenes Grinsen, als Jona eine Zeile zweimal wiederholte – ohne Sanne hätte ich den Texthänger nicht mal bemerkt – und vor allem seine Hände auf den Saiten der Gitarre. Als der Song zu Ende war, hätte ich schon nicht mehr sagen können, wovon er gehandelt hatte, aber das machte nichts. Er war da – in meinem Herzen.
Mela klatschte. Ich schloss mich an. Sanne stellte die Gitarre weg und lästerte: „Tickets für die Reunion-Tour sind ab sofort in allen Sparkassen Bremens erhältlich.“ Und bevor darauf noch irgendwer irgendwas sagen konnte, wechselte er das Thema: „Was jetzt? Wenn das unser letzter Abend ist, sollten wir ihn gebührend feiern.“ Seine Augen funkelten. „Ich schlage vor, wir baden nackt im Meer. Oder spielen Strip-Poker. Lässt sich auch gut kombinieren.“
„Klingt super“, erwiderte Jona trocken. „Schwimm gleich mal raus, und sag uns nachher, wie das Wasser ist.“
„Spaßbremse“, beschwerte sich Sanne. Auffordernd sah er mich an, doch ich schüttelte den Kopf. „Dein Lieblingsopfer will sich keine Lungenentzündung holen.“ Nicht einmal die Wärme des Feuers vor mir konnte verhindern, dass mir der kühle Nachtwind eine Gänsehaut in den Nacken trieb.
„Okay. Neuer Vorschlag. Wir könnten … eine Poolparty machen.“ Sanne wedelte mit der Hand in Richtung Meer und grinste mich dabei verschwörerisch an. Jona sah peinlich berührt aus, und das wiederum entlockte auch mir ein Grinsen. Ich fühlte mich mit einem Mal beschwipst. Nicht so sehr von dem Gläschen Kruiden, sondern vom Feuer, vom nahen Meer, von Sanne und der Vertrautheit zwischen uns.
Wie hatte das passieren können? Dass aus jemand komplett Fremdem – und derart Unmöglichem wie Sanne – in nur ein paar Tagen ein Mensch geworden war, den ich liebte? Nicht bloß jemand, der gut aussah und mich zum Lachen brachte und für den ich vielleicht ein bisschen schwärmte, in den ich verknallt war. Sondern jemand, mit dem ich mir allen Ernstes eine Beziehung vorstellen konnte?
Mein Blick fiel auf Mela, die sich an Jona kuschelte, und ein Gedanke reifte in mir. Ich angelte mein zerfleddertes Festivaltagebuch aus der Bauchtasche. Zögerte, gab mir aber dann doch einen Ruck. „Wenn wir was Besonderes tun wollen, wie wäre es damit? Jeder schreibt seine Erinnerungen an diese paar Tage auf einen Zettel. Und dann werfen wir sie alle ins Feuer, damit die Erinnerungen dableiben.“
Die anderen starrten mich an. Ich kam mir saublöd vor. Ungefähr so, als hielte ich in der Schule ein Referat und hätte meinen vorbereiteten Text vergessen. Beschämt starrte ich in die züngelnden Flammen.
„War nur so eine Idee“, murmelte ich mit gesenktem Kopf.
„Klingt besser als seine Vorschläge“, sagte Jona, und Sanne ergänzte, ohne den Seitenhieb zu beachten: „Wir könnten die Asche nachher ins Meer streuen.“
Ich riss den Kopf hoch, suchte Melas Blick. Sie lächelte mit Tränen in den Augen.
Also verteilte ich rausgerissene Blätter und reichte meinen Kuli herum. Sanne brauchte für seine Seite ewig und ließ niemanden sehen, was er schrieb, aber von den Bewegungen seiner Hand her war klar, dass er zeichnete: Pfeile hierhin und dahin, Wellenlinien und Verbindungen quer über das ganze Blatt.
Ich konnte nicht länger an mich halten. „Was wird das?“
Er legte den Kopf schief und betrachtete sein Werk. „Ich weiß nicht so genau, wie eine aussieht“, gestand er mir, „aber – eine Seekarte?“
Später, als das Feuer runtergebrannt und es wirklich, wirklich kalt geworden war und wir es geschafft hatten, Jona und Mela voneinander loszueisen, lag ich in meinem Bett in unserem Dachzimmer. Ich dachte an Abschiede und daran, dass ein Abschied ja vielleicht auch so was wie ein Anfang sein konnte. Bevor ich irgendwann eindöste, glaubte ich, ferne Musik zu hören. Ob draußen oder drinnen oder nur in meinem Kopf, hätte ich nicht sagen können.
Ungewohnt früh war ich wach. Durchs Dachfenster begrüßte mich ein grauer, bewölkter Himmel. Das sonnige Wetter von gestern – verschwunden wie ein Traum.
Wie spät war es? Ich tastete den Boden neben meinem Kopfkissen ab. Nichts. Rollte mich dann zur Bettkante und überblickte das Zimmer. Angelte unter dem Bett, fand aber nichts als Staubflusen. Das Handy war nicht in meiner Bauchtasche, auch nicht im Rucksack, jedenfalls nicht ganz oben oder in einem der Seitenfächer. Seinen gesamten Inhalt auf den Boden auskippen wollte ich dann doch nicht. Jedenfalls nicht, solange Mela noch schlief.
Ich duschte, zog mich leise an und ärgerte mich dabei über mich selbst. War ja klar gewesen, dass so was passieren würde. Irgendetwas ging bei mir im Urlaub immer verloren. Aber ausgerechnet das Handy und am letzten Tag … Oder? Zweifel stiegen in mir hoch. Hatte ich es gestern bei der Rückfahrt mit Sanne noch gehabt? Lag es irgendwo in den Dünen an einem Strand, dessen Namen ich nicht mal wusste?
Niemand war im Wohnzimmer. Oder in der Küche. Ich ging raus in den Garten, den Blick aufs taufeuchte Gras gerichtet. Wahrscheinlich sollte ich nachher auch die Steinstufen und die Bucht absuchen, erst mal aber führten mich meine Schritte zur Feuerstelle. Dort zog etwas meinen Blick auf sich. Nicht das Handy, sondern ein halb verkohlter Zettelrest in der Asche. Darauf ein angekokeltes Herz und mein Name in Sannes Schrift.
Ich fischte nach dem Papier. Es zerfiel beinahe zwischen meinen Fingern, aber ich konnte gerade noch ein paar Wortfetzen und Wörter darauf erkennen. Bremen und Lübeck und Ösi-Land, dazwischen Wellen und ein Cartoon-Segelschiff, dessen Kapitän eine Sonnenbrille trug. Ein seltsames Gefühl durchfuhr mich – himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt zugleich. Sanne hatte mir eine Seekarte gezeichnet. Und sie verbrannt. Weil ich ihn darum gebeten hatte. Er hatte sich ein einziges Mal an die Regeln gehalten. Für mich.
Gerade als ich überlegte, ob ich zurück ins Haus schleichen, meine Bauchtasche holen und den Schnipsel heimlich einstecken sollte, hörte ich Schritte und riss den Kopf herum. Sanne schlenderte herbei. Er sah müde aus, als hätte er nicht viel mehr geschlafen als ich, doch er nickte mir zu. Ertappt ließ ich das Papier zurück in die Asche fallen.
Im nächsten Moment zog er mein Handy aus einer Tasche seiner Cargoshorts. „Das gehört dir, oder? Es lag neben deinem Liegestuhl.“
Erleichtert griff ich danach, bevor mir klar wurde, dass ich gerade ohnehin keine Tasche dafür hatte. Das Handy fühlte sich von Sannes Körper warm an. „Kannst du es einstweilen für mich einstecken?“
„Klar.“ Sein Blick schweifte an mir vorbei zum Türchen in der Hecke. „Hast du Lust auf einen Spaziergang?“
Wir gingen runter zum Strand. Der Wind pfiff um uns, und die Luft war voller Gischt. Für ein oder zwei Herzschläge hatte ich eine Vision, wie das Festivalgelände inzwischen aussehen würde: zurückgelassene Luftmatratzen und Zelte, überquellende Müllsäcke. Sanne hielt auf die Sandburg zu, von der nicht viel mehr übrig war als ein unförmiger Haufen, an dem schon wieder die Wellen leckten. Ein paar Möwen pickten nach Melas Muschelschalen, doch sie flogen auf, als wir kamen. Sanne hockte sich hin und fing an, meinen Wassergraben von gestern neu auszuheben.
Ich half ihm. Wir arbeiteten in einträchtigem Schweigen. Als der Graben wieder tief war, erhob sich Sanne. Er klopfte nassen Sand von seinen Händen, wischte den Rest an seinen Shorts ab und sagte zu mir: „Was meinst du, ob dass das bis zur nächsten Flut hält? Oder länger – bis wir wiederkommen?“
Erst dieses „Bis wir wiederkommen“ machte mir klar: Wir alle würden heute abreisen, auch er und Jona. Und vielleicht würde es sich schon morgen so anfühlen, als wären diese paar Tage nur ein Traum gewesen.
„Für immer“, antwortete ich mit fester Stimme.
Sannes Blick bohrte sich in meinen. Ich erwiderte ihn stumm. Sagte nicht: Ich werde dich vermissen oder dass ich mir wünschte, ihn bald wiederzusehen. Wenn jemand so mit Worten umging wie Sanne, wurden sie irgendwann wertlos oder zu Waffen, und die eigentliche Wahrheit lag in der Stille.
Sanne kam zu mir und umarmte mich. Ich tat mit sandigen Händen dasselbe. Unsere Liebe ist auf Sand gebaut, dachte ich. Oder auf Sandburgen. Wir standen lange da und hielten einander. Ich hatte Salz in den Augen, aber das konnte auch nur vom Spritzen der Gischt sein.
Die Jungs beharrten darauf, uns vor ihrer Weiterfahrt zum Zug zu bringen, und natürlich lehnten wir das Angebot nicht ab. Jona zwängte den Deckel des übervollen Kofferraums zu und witzelte: „Wir müssen bald mal wiederkommen und Sanne mit der Omi aus dem Dinoland verkuppeln.“
„Nein!“, platzte ich heraus. Erst dann hörte ich, wie das geklungen haben musste. „Ich meine Ja. Wir sollten wiederkommen.“ Meine Wangen fühlten sich heiß an, und ich sah, wie sich Jona und Mela beide nur mit viel Mühe ein Grinsen verbissen. Aber niemand lachte laut, weil alle wussten, dass ich recht hatte.
Auf dem Weg zum Bahnhof fuhr Jona bei einem Tankstellen-Shop rechts ran, Snacks kaufen, wie er sagte. Er und Mela, die vorne saß, schnallten sich ab.
„Treibt da drinnen keine Unzucht, wir sehen euch!“, rief ihnen Sanne nach, als sie auf die Glasfront des Shops zusteuerten.
Jona drehte sich um und marschierte zurück. Er beugte sich durchs offene Fahrerfenster. „Treib du keine Unzucht in meinem Auto“, konterte er.
„Aber klauen dürfen wir es schon, oder?“, entschlüpfte mir die Frage. Woraufhin er den Arm reinstreckte und mit einem argwöhnischen Blick in Sannes Richtung den Zündschlüssel abzog. Ich hörte Mela leise lachen.
Sanne teilte uns mit: „Ich hasse euch alle.“ Gleich darauf wandte er sich fast entschuldigend mir zu. „Nicht dich“, versicherte er mir. „Dich auch nicht“, das galt wohl Jona. „Und dich“, Melas Kopf erschien neben Jonas, „kenne ich noch nicht gut genug.“
Mela hob beredt eine Braue. Sie musste sich fragen, was genau bei unserer Spritztour abgegangen war, damit Sanne glaubte, mich nach den paar gemeinsamen Tagen schon gut genug zu kennen.
Kaum waren sie und Jona im Shop verschwunden, nahm er seine rosa Brille ab und reichte sie mir. „Da, für dich als Erinnerung an mich. Die hat mir mein Vater gekauft, kurz bevor er abgehauen ist.“
„Stimmt das?“, erkundigte ich mich misstrauisch.
Er lachte. „Nein, Quatsch, so war das nicht. Die habe ich aus einem Ein-Euro-Laden. Lass dir von einem Trickbetrüger bloß keine rührseligen Geschichten auftischen.“
Er setzte mir die Sonnenbrille auf und schob sie mir auf die Stirn. Wir küssten uns. „Aber das meine ich ernst“, versicherte er mir. Und lächelte. „Denk an mich, wenn du mal einen Flamingo siehst.“
Ich nickte stumm. Und wollte irgendwas Geistreiches über Elstern erwidern oder ihn vielleicht fragen, ob die Welt für ihn nun ohne die Brille nur mehr schwarz-weiß war. Ein dicker Kloß aber schnürte mir die Kehle zu. Sanne strich mit dem Daumen über mein linkes Augenlid und wischte eine Träne weg, die ich bis dahin nicht mal bemerkt hatte.
„Es wird okay sein“, versicherte er mir sanft. „Wir sehen uns. Und hören uns. Versprochen.“
„I-ich weiß“, stieß ich hervor. „Alles fühlt sich nur so … endgültig an.“
Sanne stupste die Brille runter. Ich sah plötzlich sein rosa Gesicht – ein bisschen verschwommen, so als trennte uns ein Schleier aus Regen. Er schnallte sich ab und zog mich an sich. „Ich verrate dir ein Geheimnis“, raunte er mir ins Ohr. „Endgültig ist gar nichts.“