Kapitel 1

Wir wollten also zum Cricket Sounds Festival auf Juist. Ich bleibe jetzt einfach dabei, bevor ich noch länger an diesem einen Satz festhänge. Anfänge sind schwierig. Es gibt zu viele Möglichkeiten. Traust du dich, die beiden Jungs in dem uralten dunkelblauen Mercedes an der Tankstelle anzusprechen? Was, wenn du es nicht getan hättest? Wie wäre dein Leben dann verlaufen? Enden sind einfacher. Also nicht, dass sie sich immer so toll anfühlen, aber du hast meistens keine andere Wahl. Darum heißt es „endgültig“. Ist ja nicht so, als hätten wir auf ewig in dem Haus von Jonas totem Opa bleiben können. Auch wenn das schön gewesen wäre. Wenigstens eine Zeit lang. Bis Jonas Tante aufgekreuzt und ausgeflippt wäre, wenn sie uns vier dort vorgefunden hätte, vor allem Sanne. Ganz zu schweigen von unseren Eltern, der Schule, der Lübeck-Sache, Melas Laufteam und ihren zehntausend Wohltätigkeitsprojekten und, und, und. Aber ich will jetzt nicht vom Ende erzählen, sondern vom Anfang. Und Sanne sagt sowieso, endgültig ist gar nichts. Ich hoffe sehr, dass er da nicht lügt.

Wo war ich? Noch immer beim ersten Satz. „Ist ja typisch, Fern“, könnte Mela jetzt zu mir sagen. „Du hast noch nicht mal richtig losgelegt und dich schon verzettelt. Ihr kreativen Typen, ihr.“ Sie würde dabei lächeln. Auch vorher hätte sie gelächelt, weil sie mich mag, aber ganz besonders jetzt nach diesen paar Tagen würde sie lächeln. Bloß gehört das auch zum Ende und kommt später, und ich fange jetzt von vorne an. Ich werde ganz linear vorgehen und mich nicht verzetteln. Zielstrebig und organisiert, das bin ich. Die neue Fern.

Ich heiße nämlich Ferney, kurz Fern. Wie das Mädchen aus dem Kinderbuch Wilbur und Charlotte. Wilbur ist ein Schweinchen und Charlotte die Spinne, die auf seinem Bauernhof lebt. Fern ist die Tochter des Bauern. Meine Mutter hat das Buch als Kind unendlich geliebt. Ich glaube, sie war beim Vorlesen enttäuscht, dass ich es nicht so toll fand wie sie.

Wir, das heißt meine beste Freundin Mela und ich, wollten also von unserem Heimatstädtchen in Österreich an der Grenze zu Bayern auf die Nordseeinsel Juist fahren. Zum Cricket Sounds wie gesagt, dem Festival für Indie-Musik. Wobei – das braucht man eigentlich gar nicht zu betonen. Ich glaube nicht, dass irgendwer aus irgendeinem anderen Grund an die Nordsee fährt, wenigstens niemand, der unter achtzig ist. Die haben dort noch so Strandkörbe mit blau-weiß gestreiften Markisen wie in alten Filmen. Mela und ich waren gerade siebzehn geworden, ihr Geburtstag ist drei Tage vor meinem. Es war Anfang Juli, und wir ließen wegen der Juist-Sache sogar die Woche Cluburlaub in der Türkei sausen, die unsere anderen Mitschülerinnen alle gebucht hatten.

Mela wohnt in derselben Siedlung wie ich. Sie ist seit dem Kindergarten meine beste Freundin und eine Miss Perfect. Ich meine das ganz unironisch. Zielstrebig, diszipliniert, ausdauernd, ehrgeizig, so würden alle, die sie kennen, Mela beschreiben. Superhübsch ist sie auch noch, groß und dünn. Sie isst genauso viel wie ich, macht aber mehr Sport und hat einen Wahnsinns-Metabolismus. Ihre aschblonden Locken bekommen im Sommer helle Strähnchen, sodass man meinen könnte, sie würde jede Woche beim Friseur hocken. „Von der Sonne geküsst“, sagt Melas Mam.

Ich sehe weniger spektakulär aus. Durchschnittlich groß und durchschnittlich dünn mit durchschnittlich langen, dunkelbraunen Haaren, braunen Augen und einem spitzen Kinn. Das Wort, mit dem mich die meisten Leute beschreiben würden, ist vermutlich vorwitzig oder frech. Dabei bin ich doch nett! Bloß erwecke ich, wenn ich mich konzentriere, scheinbar den Eindruck, ich würde irgendwelche Streiche aushecken. Andere Mädchen machen unbewusst ein Zickengesicht. Ich mache anscheinend unbewusst ein Clownsgesicht.

Wir standen in der Halle eines Dorfbahnhofs. Mela trommelte mit dem Zeigefinger der Hand, die nicht das Handy hielt, auf ihrem Oberschenkel und sagte gerade: „Könnten Sie das bitte für mich prüfen? Vielen Dank!“ Sie trug ein graues Sweatshirt, der Ausschnitt reichte über die linke Schulter. Ein Träger ihres knallpinken BHs lugte daraus hervor. Ihre langen Haare waren am Hinterkopf zu einem lockeren Knoten gefasst. Knappe Jeansshorts, eine pink-schwarz gestreifte Sonnenbrille, ein silbernes Halskettchen und Ohrstecker in der Form von Gitarren rundeten den Look ab. Müheloser Chic war schon immer Melas Stil gewesen.

Sie wandte sich mir zu. Ihre Lippen formten das Wort „Warteschleife“. Genervt verdrehte sie die Augen und wippte mit dem Bein, an dem ihr vollgestopfter Trekkingrucksack lehnte. Der schwankte. Hastig beugte ich mich vor, um ihn zu stabilisieren.

Wie es schien, hingen wir hier fest. In Reede-was-weiß-ich, irgend so ein komischer ostfriesischer Doppelname. Endstation. Wenigstens für uns. Mela telefonierte gerade mit der Hotline des nächsten Flughafens, weil das Festival wie gesagt auf Juist stattfand, einer Insel. Wenn wir es nicht bis nach Norddeich zur Fähre schafften, bliebe uns bloß, zu fliegen. Oder ein Fischerboot zu klauen und rüberzuschippern, aber das war keine echte Alternative.

Dabei hatte Mela unsere Anreise bis ins Detail geplant. Mit dem Zug zwei Mal umsteigen, Ankunft am späten Donnerstagnachmittag. Ein gutes Plätzchen zum Campieren finden, Zelt aufbauen, schlafen. Gleich morgen früh um neun würden nämlich Valby das Festival eröffnen. Vier Jungs aus dem Stadtteil von Kopenhagen, der ihrer Band den Namen gab. Mela war der absolute Superfan, und ihre Begeisterung wirkte so ansteckend, dass ich alle Songs des bisher einzigen Valby-Albums in- und auswendig kannte und sogar schon nachts geträumt hatte, der Sänger Magnus würde wie im „Lights Out“-Video mit uns beiden den spiralförmigen Turm der Erlöserkirche besteigen.

Aber damit wir am Freitag auf die Jagd nach Valby-Autogrammen und einem Selfie mit Magnus oder mit dem Gitarristen Carl Frederik gehen konnten, mussten wir es erst mal bis zum Konzertgelände schaffen. Kurz hinter Oldenburg hatte uns ein Bahnstreik erwischt. Unser Zug war mitten auf der Strecke stehen geblieben, und wir hatten noch am Bahnsteig erfahren, dass der letzte Shuttlebus in Richtung Küste in einer Minute fahren würde. In absoluter Torschlusspanik hatten wir uns und unsere Rucksäcke in das überfüllte Vehikel gezwängt. Mela, eingequetscht zwischen mir und einer Stange, hatte die ganze Fahrt über auf ihrem Handy rumgetippt, weil sie gehofft hatte, dass wir in Reede-was-weiß-ich einen Anschlussbus nach Norddeich bekämen.

„Klingt Reede-was-weiß-ich nach einem Ort, von dem Busse wegfahren?“, hatte ich eingewandt. Und fürs Erste recht behalten. Leider.

Mela sagte: „Danke für Ihre Mühe“ und legte auf. Sie schaute mich an. „Tausendsechshundertvierunddreißig Euro“, stieß sie hervor. „So viel kostet der Flug.“

Ich pfiff durch die Zähne. Achthundert-plus Euro für jede? Mela hatte zwar gemeint, die Bahn würde uns einen Teil des Betrags für die Tickets rückerstatten. Trotzdem wäre der Saldo meines Für-nach-der-Schule-Kontos damit schlagartig auf null.

„Pro Nase“, ergänzte Mela. „Plus die Taxikosten zum Flughafen.“ Und damit war die Sache für mich gegessen. Taxifahren wäre vermutlich noch teurer als fliegen.

„Was machen wir jetzt?“

„Keine Ahnung.“ Sie kaute auf einer aschblonden Strähne. „Loslatschen? Oder wir finden einen Hobbyflugplatz und bestechen irgendeinen Amateurpiloten, damit er uns rüberfliegt und mit dem Fallschirm abspringen lässt. Egal wie, ich will morgen um neun mit meinem neuen T-Shirt in der ersten Reihe stehen.“

Ich sah mich hoffnungsvoll um, ob irgendwo auf magische Weise ein Schild Zum Hobbyflugplatz aufgetaucht wäre, aber natürlich gab es keines. Die Bahnhofshalle war winzig. Zwei geschlossene Schalter, Zettel daran verwiesen auf den
Ticketautomaten. Ein Kiosk mit Zeitungsständern und einer ältlichen Verkäuferin, die hinter der Theke strickte. Ein Imbiss. Von dort roch es nach Kebab und Pizza. Die anderen Reisenden hatten sich längst vertschüsst, und bis auf die Strickoma und einen Jungen im weißen Hemd, der am Imbiss stand und rauchte, schien hier auch niemand zu arbeiten.

„Gehen wir raus“, schlug ich vor. Vielleicht fänden wir dort was, das uns helfen würde. Eine Wunderlampe inklusive Dschinn zum Beispiel. Oder einen verlorenen Tippschein mit einem Lottosechser.

Wir schulterten unser Gepäck. Eine ziemliche Prozedur, weil man fürs Camping im Nirgendwo, auch wenn es nur drei Tage sind, unglaublich viel Zeug braucht. Mein Rucksack kam mit der daran geschnallten Matte und dem Schlafsack auf siebzehn Kilo. Melas sogar auf ein bisschen mehr, sie hatte das Zelt.

Beladen wie zwei Packeselinnen trotteten wir zum Parkplatz, auf dem uns vorhin der Shuttlebus ausgespuckt hatte. Der Himmel war blau. Weiße Wölkchen zogen über ihn wie die Geister von Schafen. Trotzdem brannte die Sonne auf uns herab, sobald wir den überdachten Eingangsbereich verließen. Ungefähr so musste es sich anfühlen, in einen Backofen zu steigen.

Ich setzte den Rucksack ab, fasste meine Haare zu einem losen Pferdeschwanz zusammen und fächelte mir damit Luft zu. Mein Blick fiel auf zwei geparkte Autos. Vermutlich gehörte eines der Strickoma, das andere dem Imbissbuden-Raucher. Neben mir fädelte Mela die linke Hand unter den rechten Rucksackträger und massierte sich die Schulter. Ich wünschte mir, ich wäre so leicht angezogen wie sie. Die Löcher an den Knien meiner schwarzen Skinny-Jeans sorgten wenigstens für Belüftung, aber das Karohemd war eindeutig zu heiß. Es stammte aus meiner kurzen Grungephase damals mit dreizehn und würde mich auf jeden Urlaub begleiten, solange es mir noch halbwegs passte.

Kaum zog ich es aus und band es mir um die Hüften, stand ein gruseliger Typ vor uns. Keine Ahnung, wo der gelauert hatte, womöglich hinter den Altglascontainern am Rande des Parkplatzes.

„Hallöchen. Seid ihr zwei Hübschen hier gestrandet, braucht ihr Hilfe?“

Er starrte Melas Ausschnitt an, während er das fragte. Sein schmieriges Grinsen ließ mich spontan an den Pfefferspray denken, den mir Mam gegen aufdringliche Festivalbesucher mitgegeben hatte. Und der jetzt nutzlos in den Tiefen meines Rucksacks lag.

„Nein, danke. Wir werden abgeholt“, sagte ich sehr laut und packte einen Träger meines Rucksacks, Mela den zweiten. Dann hauten wir ab. Über den Parkplatz und ein paar Quadratmeter struppige Böschung zu der Siedlungsstraße, die vor dem Bahnhof in zwei Richtungen verlief. Links oder rechts? Egal, bloß weg von hier. Ich entschied mich spontan für links und zerrte meinen Rucksack und Mela hinter mir her. Erst nach fünfzig Metern riskierte ich einen Blick über die Schulter. Der Spinner war nirgendwo mehr zu sehen.

Zurück zum Bahnhof wollte ich trotzdem nicht. Mela half mir, den Rucksack zu schultern, und wir trotteten weiter. Vorbei an Häusern mit Hollywoodschaukeln in den Gärten, am Ortsende-Schild, an flachen Wiesen und Weiden. Die einzigen Einheimischen, die wir sahen, hatten vier Beine und Hörner und waren schwarz-weiß gescheckt. Am Straßenrand tauchte eine Bushaltestelle auf. Den Fahrplan hatte jemand mit einem grell-lila FUCK übersprayt.

Wir warfen unser Gepäck auf die Bank und uns daneben, Mela kramte die Wasserflasche aus ihrem gestrickten Umhängebeutel und reichte sie mir. Ich nahm ein paar Schlucke und gab sie ihr zurück. Wir teilten uns zwei meiner letzten drei Müsliriegel.

Dann hockten wir an dieser Haltestelle im Nirgendwo und wussten nicht weiter. Es war gespenstisch still; in den ersten fünfzehn Minuten kam kein einziges Auto vorbei, nicht mal ein Traktor oder Pferdewagen. Mela surfte im Netz. Ich erhob mich und kratzte mit meinem Schlüsselring etwas lila Farbe vom Fahrplan, aber der Zettel war so vergilbt, dass ich genauso gut hätte versuchen können, Hieroglyphen zu entziffern.

Mela summte vor sich hin. Lights out, stars on. Sie unterbrach sich. Es sah ja auch wirklich nicht danach aus, als würde sie morgen beim Konzert in der ersten Reihe stehen.

Ich war nicht ganz so der Superfan. Valby klangen natürlich total okay, live sogar noch besser, hatte mir Mela hundert Mal versprochen. Und Carl Frederik, der blonde Gitarrist, sah schnuckelig aus, wenn auch ein bisschen allzu arrogant. Auf einer Skala von null (der Rest unserer Klasse) bis zehn (Mela) lag mein musikalisches Interesse am Crickets Sounds bei ungefähr fünf oder sechs. Trotzdem hatte ich mich auf das Festival gefreut. Auf den Campingplatz direkt am Meer, auf einen angeblich schneeweißen Strand. Nette Leute. Chillige Musik. Ein paar Tage Urlaub nur mit Mela, ohne ihre Eltern oder meine und ohne das Halligalli-Disco-Anmachgetue des Strandclubs in der Türkei.

Ich saß also an der Haltestelle und dachte an unsere kombinierten Zug-, Fähre- und Festivaltickets. Die aufgrund der langen Anreise schweineteuer gewesen waren; Melas Eltern und meine hatten sie uns zum Geburtstag geschenkt. Paps hatte sogar gewitzelt, ob ich es mir nicht doch überlegen wollte, die Woche Türkei käme wahrscheinlich billiger. Ich dachte an das Valby-T-Shirt, das ich Mela besorgt hatte und das ihr Magnus hoffentlich signieren würde. Und daran, wie wir uns extra noch in letzter Minute Festivaltreter gekauft hatten, Wegwerf-Espadrilles für neun neunundneunzig, weil auf dem Konzertgelände sicher wer drauf rumtrampeln würde. Schwarze für mich, dunkelblaue für Mela, sonst hatte es keine Farben gegeben außer einem echt unpraktischen Beige.

Ich dachte an das Festivaltagebuch. Das hatte mir Mam an meinem Geburtstag als Überraschung auf den Frühstückstisch gelegt, weil ich mir das Ticket ja selbst gekauft hatte, wenn auch von ihrem und Paps’ Geld. Das Tagebuch war wie diese Freundschaftsbücher von früher aufgemacht. Nur eben, dass auf den leeren Seiten eingetragen wurde, wen man beim Campen getroffen und welche Bands man gehört hatte. Und die Mailadressen, Handynummern und Instagram-Nicks von all den Leuten, mit denen man in Kontakt bleiben wollte oder die versprochen hatten, Fotos zu teilen. Ich dachte an das alles und scharrte frustriert mit meinen Festival-Espadrilles im Staub auf dem Asphalt.

Nach einer Weile fiel mir zwischen den Kuhweiden und Elektrozäunen in der Ferne was auf. Eine Gruppe von Bäumen, dahinter ein Schild auf einem hohen Masten.

„Schau mal“, sagte ich zu Mela, „da ist eine Tankstelle.“

„Ja und?“ Sie hob den Kopf. „Willst du ein Auto klauen?“

„Tankstellen sind Fernwehorte.“ Okay, laut ausgesprochen klang das bescheuert. Aber es stimmte. Sogar an einer Kuhkaff-Tankstelle wie der hier blieben sicher immer wieder mal Autos stehen, die woanders hinwollten. Richtig woanders, nicht bloß zum Feuerwehrfest im Nachbarort. Vielleicht kannte der Pächter eine Abkürzung nach Norddeich. Oder hatte eine Wanderkarte, auch wenn das hieße, dass wir die ganze Nacht durchlatschen müssten und mit gewaltigen Blasen an den Füßen ankämen.

Wir fanden schnell einen sandigen Weg, der zwischen den Weiden durchführte. Kurz bevor wir die Baumgruppe erreichten, fragte mich Mela: „Ernsthaft, du willst doch nicht etwa per Anhalter fahren?“

Statt einem klaren Nein hörte ich mich sagen: „Wenn es unsere einzige Möglichkeit ist, von hier wegzukommen.“

Schweigen.

„Ich habe Pfefferspray“, ergänzte ich.

„Toll. Da fühle ich mich gleich viel sicherer. Mit irgend so einem perversen Spinner, der uns in ein Waldstück verschleppt. Und deinem Pfefferspray.“

Sie hatte natürlich recht. Trotzdem blieb die Idee in mir hängen. Mela und ich, wir trampten nie. Wirklich nie. Aber wir waren auch noch nie in einem Kuhkaff tausend Kilometer von daheim entfernt gestrandet. Wenn wir es ein einziges Mal riskierten, konnte da rein statistisch echt so viel passieren?

Wir traten unter den Bäumen hervor. Und Volltreffer lautete mein erster Gedanke. Diese Tankstelle war das soziale Zentrum des Orts, hier herrschte Highlife. Auf einem abgetrennten LKW-Parkplatz standen fünf oder sechs riesige Sattelschlepper. Die Fahrer blätterten in Zeitschriften oder rauchten. Einer pinkelte ins Gebüsch. Ein anderer trank aus einer grünen Glasflasche, die zwar theoretisch auch Apfelsaft enthalten konnte, aber stark nach Wein aussah. Wenn ich in eine dieser Fahrerkabinen stiege, würde mich mein Paps umbringen, falls es der Trucker nicht schon vorher tat.

Ich wandte mich also den PKWs zu und hielt Ausschau nach Autobesitzern, von denen am wenigsten zu erwarten wäre, dass sie Mela und mich in irgendeinem Waldstück ermorden wollten. Omis. Studentinnen. Familien mit Kindern, wobei die aber wahrscheinlich im Auto nicht genug Platz für noch zwei Fahrgäste plus riesige Trekkingrucksäcke hätten. Die Auswahl war sowieso bescheiden. An der linken Zapfsäule saß eine Frau in einem schicken, schwarzen Cocktailkleid auf dem Beifahrersitz eines silberfarbenen SUV. Der dazu passende Businessman im Anzug kam gerade aus dem Tankstellenshop. Ein Kidnapper auf Beutezug würde wohl kaum seine Freundin mitschleppen, obwohl man nie wissen konnte, es gab ja auch Serienkillerpärchen.

„Was hältst du von …?“, begann ich, bevor ich merkte, dass Mela verschwunden war.

Kurz geriet ich in Panik. Dann entdeckte ich sie an der Seitenwand des Tankstellenshops. Neben den Schmieröl-Regalen stand eine Holzbank, und Mela hatte ihren Rucksack darauf gestützt. Weil sie nicht aus den Trägern geschlüpft war, hockte sie da, als müsste sie dringend aufs Klo.

„Was hältst du von dem SUV?“, fragte ich, gerade als dieser mit dem potenziellen Serienkillerpärchen die Tankstelle verließ und davonbrauste. Mist.

Mela hörte sowieso nicht zu. Sie blickte nach rechts zu einem dunkelblauen Mercedes, einem Modell ungefähr so alt wie wir mit einer schief hängenden Stoßstange und jeder Menge Stickern am Heck. An der Zapfsäule lehnte ein schlaksiger Typ. Er hatte glatte rote Haare. Nicht rötlichblond und auch nicht pumucklrot gefärbt, sondern ein feuriges, ins Orange gehendes Kupfer.

Mela sog scharf die Luft ein. Ich folgte ihrem Blick zu einem zweiten Typen, der gerade den Tankstellenshop verließ. Für einen Moment glaubte ich selbst, dass unser Leben irgendeine verrückte Fan-Fiction wäre und uns ausgerechnet an dieser Tankstelle im Nirgendwo der Valby-Sänger Magnus über den Weg liefe. Der Rothaarige konnte sein Chauffeur sein. Oder ein Superfan, der ein Treffen gewonnen hatte.

Aber dann war der Magnus-Doppelgänger an uns vorbei, und dank unserer halben Million Klicks auf das „Lights Out“-Video hätte ich Magnus’ Gang und seine Rückenansicht sogar in finsterster Nacht zweifelsfrei identifizieren können. Dieser Kerl sah ihm bloß ähnlich.

Obwohl meine schmerzenden Schultern protestierten, folgte ich Magnus Version 2.0 unauffällig zu seinem Auto. Die Hecksticker waren für den Klimaschutz. Das Kennzeichen lautete HB, Hansestadt Bremen, unserer übereifrigen Geschichts- und Geografielehrerin sei Dank. Ich hatte zwar noch immer keine Ahnung, wo Bremen lag, aber eher nicht gleich um die Ecke. Die beiden Jungs waren auf der Durchreise. Wie wir.

Der Rothaarige kramte in der Tasche seiner beigen Cargoshorts. Er fand ein Päckchen Zigaretten und steckte sich einen Glimmstängel zwischen die Lippen. Während er wohlgemerkt noch an der Zapfsäule lehnte!

Ich vergaß meine Anschleichübung und stürmte hin. „Spinnst du? Das ist wahnsinnig gefährlich!“

Mein Paps ist Kommandant der Freiwilligen Feuerwehr. Das zu meiner Verteidigung.

Seelenruhig wandte sich der Rothaarige zu mir um. Er trug ein halbwegs normales graues T-Shirt und eine echt nicht normale Sonnenbrille mit verspiegelten rosa Gläsern. Zu meiner Verblüffung schälte er das Papier von seiner Zigarette. Erst als er sie in zwei Teile biss, kapierte ich, dass sie aus Schoko war.

„Da hast du wahrscheinlich recht“, stimmte er mir zu. „Von zu viel Zucker und Fett kriegt man Pickel.“

Er grinste, und ich stellte mir vor, wie er mit einer Axt in der Hand seinem Opfer durch einen Wald nachhetzte. Das Szenario kam mir eher unwahrscheinlich vor. Seit wann trugen Axtmörder rosa Brillen?

„Hey.“

Ich fuhr erschrocken herum. Nicht-Magnus, den ich schon komplett vergessen hatte, lächelte mich an. „Neue Freundin?“, fragte er den Rothaarigen.

„Die Feuerpolizei“, erwiderte dieser.

Nicht-Magnus seufzte. „Ich kann dich keine Minute allein lassen.“ Er hatte breite Schultern und sah aus, als würde er regelmäßig trainieren. Fragte sich nur, ob mit Hanteln oder indem er seine Opfer im Wald verscharrte.

Die rosa Brille des Rothaarigen gab den Ausschlag. Ich schickte ein stummes Stoßgebet zum Himmel und wagte den Kopfsprung ins kalte Wasser. „Ihr seid nicht zufällig auf dem Weg zur Küste und könnt uns ein Stück weit mitnehmen?“

„Kommt darauf an“, erwiderte Nicht-Magnus. „Wo wollt ihr hin?“ Aus dem Augenwinkel sah ich Mela nähertraben.

„Nach Juist.“

Der Rothaarige grinste wieder. Dank der Schokozigarette zwischen seinen Zähnen ließ mich das an einen Haifisch mit Zahnstocher denken. „Sorry, diese Kiste fährt standardmäßig nur an Land. Die Amphibienfunktion gehört zur Komfortausstattung.“

„Zum Fährhafen, habe ich gemeint!“, verbesserte ich mich genervt. Sein Grinsen wurde breiter. Zu spät erkannte ich, dass er auf eine Reaktion genau wie diese gehofft hatte.

Ich ging aufs Ganze. „Wenn ihr uns helft, die Fähre in Norddeich zu erwischen, bezahlen wir euch sogar dafür.“

„Klingt höchst verdächtig, findest du nicht?“, wandte sich der Rothaarige an seinen Freund. Er tat, als wären Mela und ich gar nicht mehr da. „Anhalterinnen haben doch nie Kohle. Dafür immer so Pappschilder, auf denen steht, wo sie hinwollen.“ Er machte eine dramatische Pause. „Ich wette, sie sind Bankräuberinnen auf der Flucht.“

Nicht-Magnus wiegte den Kopf. „Straßenräuber“, mutmaßte er. Bis zu diesem Moment hätte ich ihn glatt für den Normaleren der beiden gehalten.

„Straßenräuberinnen“, verbesserte ihn der Rothaarige und grinste. „Political Correctness ist wichtig.“

Ich zerrte den verknitterten Computerausdruck meines Tickets aus der Bauchtasche und war drauf und dran, ihn den Kerlen als Beweis unter die Nase zu halten, als mich Mela am Ärmel zupfte. Ihr Blick besagte überdeutlich: Du willst doch nicht ernsthaft trampen, oder? Mit denen???

Entweder das, oder wir hocken morgen um neun noch immer hier, gab ich ebenso stumm zurück und tippte auf meinen Rucksack. Denk an den Pfefferspray. Zugegeben, das Erste, was man beim Selbstverteidigungskurs in der Schule lernte, war, sich gar nicht erst auf gefährliche Situationen einzulassen. Aber die erkannte man, indem man auf sein Bauchgefühl hörte. Und mein Bauchgefühl sagte, dass es okay war.

Mela hob bedeutsam eine Braue. Sie schüttelte den Kopf und wandte sich ab.

„Warte!“, bat Nicht-Magnus sie zu meiner Überraschung. Im Nu hatte er eine schwarze Lederbrieftasche aus seinen Shorts geangelt.

„Habt ihr Angst, dass wir euch kidnappen? Guckt mal, hier, mein Ausweis.“ Er zog das Kärtchen aus dem Portemonnaie. „Wenn irgendwas passiert, könnt ihr der Polizei gleich sagen, wer wir sind.“

Mela hielt inne. Dann lehnte sie sich über meine Schulter, um besser zu sehen. Ein Personalausweis der Bundesrepublik Deutschland ausgestellt auf Schmitt, Jonathan, geboren vor achtzehn Jahren in Bremen. Nichts besonders Verdächtiges, wenn man davon absah, dass Schmitt als Name irgendwie immer verdächtig wirkte.

„Seht ihr?“ Jonathan Schmitt lächelte. „Wir sind ganz normale Bürger.“

„Genau. Ist ja nicht so, als würden Kidnapper jemals falsche Ausweise benutzen“, warf der Rothaarige ernst ein.

„Zeig du mir mal so ein Kärtchen.“ Fordernd streckte ich die Hand aus.

„Sorry, Frau Inspektor. Die Druckerschwärze auf meinem ist noch nicht trocken.“

Jonathan Schmitt kickte nach seinem Schienbein. Der Rothaarige wich mühelos aus, prallte dabei aber gegen die Fahrertür und rieb sich mit gespielt empörter Miene die Hüfte.

„Mach dir lieber um unsere Sicherheit Sorgen“, riet er Jonathan. „Ich wette, sie ermorden uns und düsen mit deiner Karre davon.“

Jonathan rollte die Augen. „Was mein Freund meint …“

„Geschäftspartner“, verbesserte ihn der Rothaarige.

„Was mein Geschäftspartner meint, ist, wir nehmen euch gern nach Heidumole mit. Gratis. Von dort geht eine Fähre nach Juist. Hilft euch das weiter?“

Es klang fast zu gut, um wahr zu sein. Ich tauschte einen Blick mit Mela und war erleichtert, als sie nickte. Scheinbar hatte sie von der Fähre in Heidumole wenigstens schon mal gehört.

„Ich bin übrigens Jona. Die Nervensäge ist Sanne.“

Wir nannten Jona unsere Namen, doch es war Sanne, der zu lachen anfing und von mir verlangte: „Zeig mir einen Ausweis, auf dem ‚Fern‘ steht.“

„Zeig du mir einen, auf dem ‚Sanne‘ steht“, schoss ich zurück. „Oder ist das eine Abkürzung für ‚Susanne‘?“

„Wenn du echt so heißt … Sind deine Eltern durchgeknallte Späthippies?“, kam prompt die Retourkutsche.

„Nein.“

„Hast du einen Zwillingsbruder, der ‚Nah‘ heißt?“

„Nein“, stieß ich durch zusammengebissene Zähne hervor.

„Lag deine Mutter mit dir in den Fern-Wehen?“

Bevor ich mich auf Sanne stürzen und ihn notfalls mit Gewalt zum Schweigen bringen konnte, schob sich Jona zwischen uns. Er öffnete die hintere Tür, angelte gebückt eine beige Hoodiejacke von der Sitzbank und warf sie in Sannes Richtung.

„Passt es, dass ihr die Rucksäcke auf den Schoß nehmt? Der Kofferraum ist leider voll.“

„Mit unseren anderen Geschäftspartnern“, ergänzte Sanne. „Und dem Zement für die Betonschuhe, wenn ihr versteht, was ich meine.“

Mela verdrehte die Augen. Sie wuchtete ihren Rucksack ins Wageninnere. Jona sprang herbei, um ihr zu helfen. Ich marschierte zur anderen Tür und blieb hinter dem Heck kurz stehen.

„Was tust du da?“ Sanne war plötzlich bei mir. Inmitten des Benzingestanks der Tankstelle umfing mich sein Geruch. Ein sportliches Deo oder Aftershave mit einer schokoladigen Note und einem Hauch von Birne oder Apfel. Nicht aufdringlich süß, eher so, als stünde ich am Rande einer sommerlichen Streuobstwiese.

Aus Schokolade. Welcher schwachsinnige Gedanke schlich sich da in meinen Kopf? Und trotzdem, es war ein seltsam beruhigender Duft.

„Ich habe euer Kennzeichen fotografiert“, gestand ich und hob erklärend das Handy. Zu meiner Überraschung nickte mir Sanne zu. „Gute Idee.“ Er schob sich vorbei, öffnete die vordere Tür und sank auf den Beifahrersitz.

„Wetten, ‚Fern‘ ist bloß ein Deckname“, sagte er laut zu Jona. „Sie arbeitet garantiert für die Bullen. Wir hätten doch neue Kennzeichen für das Auto klauen sollen.“

Wenn er und Jona uns tatsächlich kidnappen würden, könnte ich nicht mal behaupten, er hätte mich nicht gewarnt. Aber Mela war schon angeschnallt, und mir blieb nichts übrig, als mich und mein Gepäck auf die Rückbank hinter Sanne zu quetschen.