Kapitel 4

Wir blieben auf dem Deich. Gingen spazieren, so weit die Zäune es zuließen: fünfzig Meter von der Bank nach links und wieder zurück, fünfzig Meter nach rechts und zurück. Immer mit einem Auge auf den Parkplatz und den Parkautomaten.

Sanne verhielt sich … normal. Sofern man es so nennen konnte. Wir kannten einander ja erst seit gestern, und „normal“ war ganz grundsätzlich nicht das Wort, mit dem ich ihn aufgrund meiner bisherigen Erfahrungen mit ihm beschrieben hätte. Jedenfalls normal genug, dass ich mich zu fragen begann, ob ich die knapp zehn Minuten zu zweit vorhin nur geträumt hatte.

Und wenn nicht, was bedeutete das? War ich also in Sanne verknallt? Und/oder Sanne in mich? Eher und als oder?

Oder war der Beinahe-Kuss nur Sannes Wette mit sich selbst gewesen, eines seiner unzähligen Spielchen?

Ich wünschte mir, ich könnte mit ihm unter vier Augen darüber reden, und zugleich wieder nicht. Ich wollte allein sein und nachdenken, und zugleich auch nicht. Das Meer war grau bis zum Horizont. Dessen Anblick, dieser schmale Strich zwischen grauem Himmel und grauem Wasser, erweckte in mir fast das gleiche Gefühl, wie es Sanne gespitzte Lippen vorhin getan hatten. So nah und doch so fern.

Irgendwann saß ich mit Mela auf der Bank. Wir wandten unsere Gesichter dem Meer und den paar vereinzelten Sonnenstrahlen zu, die hin und wieder durch die Wolkendecke blitzten. Ich schloss die Augen. Das ferne Rauschen des Verkehrs auf der Straße vermischte sich mit dem Plätschern der Wellen, und beides zusammen machte mich schläfrig, träge. Trotz der Enttäuschung vorhin fühlte ich mich seltsam entspannt an diesem Ort, von dem ich nicht mal wusste, wie er hieß, und an dem mich noch immer ein Bauzaun von meinem heiß geliebten Meer trennte. Mit Mela an meiner Seite, ja, aber auch mit zwei Jungs, von denen einer so was wie eine tickende Zeitbombe war.

Schnappschüsse des Tages tauchten in meinem Kopf auf und zogen wie Wolkenfetzen weiter. Sanne bis zu den Schultern im Maul eines Riesen-Dinos und dass er gesagt hatte, die Wahrheit wäre langweilig.

Ein Schatten fiel auf mich. Langsam öffnete ich die Augen. Und ich weiß ehrlich nicht, was in diesem Moment passiert wäre, wenn Sanne vor mir gestanden hätte …

Doch es war Jona. Ohne zu denken, drehte ich mich halb um und entdeckte Sanne, der quer über den Parkplatz zum Kiosk trottete.

Jona folgte meinem Blick. „Ich sollte mich wahrscheinlich entschuldigen“, begann er unvermittelt, „dass wir dich vorhin mit ihm allein gelassen haben.“

Unten erreichte Sanne den Kiosk und lehnte sich weit über die Theke. Während ich seine Rückenansicht anstarrte, kapierte ich erst, dass Jona gerade ein Gespräch mit mir zu führen versuchte. Ertappt wandte ich mich ab.

„Er ist mein bester Freund“, fuhr Jona entschuldigend fort, „aber er kann nicht normal mit den Leuten reden. Er sieht alle als so was wie Versuchskaninchen für seine psychologischen Experimente.“

„Dich auch?“

„Ganz besonders mich.“ Und seinem Ton nach fand Jona das völlig okay.

Mela warf sarkastisch ein: „Wetten, seine Professoren werden ihn lieben?“

Und seine Mitstudenten werden ihn hassen, dachte ich. Nicht dass so was Sanne viel ausmachen würde – er schien gegen die Gefühle anderer immun zu sein –, aber plötzlich musste ich an seine genervte Reaktion denken, als uns Jona von der bestandenen Aufnahmeprüfung erzählt hatte.

„Will er denn überhaupt studieren?“, platzte ich heraus.

Jona dachte darüber nach. „Mehr oder weniger. Er will, glaube ich, aber … seine ‚Ich bin ein armes Arbeiterkind‘-Tour ist nicht nur gelogen.“ Er betonte das „nur“. „In meiner Familie ist ein Studium selbstverständlich, so was wird von einem Schmitt erwartet. Für ihn wäre es völliges Neuland.“

Mein Blick schweifte ab zu den Zäunen, hinter denen das Meer lag. Nah und Fern. Sanne lag mit seinen Witzeleien über meinen Namen richtiger, als er dachte. Ich mochte Ferne lieber als Nähe, den dünnen Strich am Horizont, der unerreichbar blieb, egal wie weit man rausschwamm. Der Ferne allzu nahe zu kommen, bedeutete, sie zu verlieren. Für mich war der Inbegriff der Ferne stets das Meer gewesen. Für Sanne war es vielleicht etwas anderes, ebenso wenig Greifbares.

Sannes Kopf tauchte über dem Rand des Deichs auf. Er sprang die letzten Stufen hoch und joggte auf uns zu. „Was geht ab?“, wandte er sich an Jona. „Rekrutierst du die Mädels für deine Fabrik?“

„Es ist nicht meine Fabrik.“

„Noch nicht.“ Sanne trat hinter ihn, lehnte sich an und drehte sich zu uns. Mit den kupferroten Haaren und einem Glitzern in den Augen sah er ein bisschen aus wie ein Teufelchen auf Jonas Schulter. „Er wird mal Bonze“, verriet er uns beiden. „So richtig mit einem fetten Imperium und einer Jacht mit eigenem Hubschrauberlandeplatz.“

Jona schubste Sanne von sich weg und marschierte davon. Mela folgte ihm. Prompt wandte sich Sanne mir zu. Er wusste hundertprozentig, begriff ich plötzlich, dass Jona mit uns über ihn geredet hatte. Aber er würde nicht fragen, was, weil es ihm scheißegal war. Heimlich bewunderte ich so viel Selbstbewusstsein.

„Wenn du reich heiraten willst, schnapp ihn dir“, unterbrach Sanne meine Gedanken. „Jona ist eine gute Partie.“

„Du meinst: all die Fischkonserven, die ich essen kann?“

„Auch, aber nicht nur. Er hat echt das Zeug dazu, aus dem Laden ein Imperium zu machen. Ich habe das ernst gemeint.“ Für einen Moment starrte er an mir vorbei auf einen Punkt am Horizont, den nur er sehen konnte. Riss sich dann los.

„Und du?“

Sanne schüttelte den Kopf. „‚Armes Arbeiterkind’, schon vergessen?“

„Und ‚die Wahrheit ist langweilig‘“, erinnerte ich ihn. Das trug mir ein erfreutes Grinsen ein. Mein Herz tat einen Satz. Mela und Jona waren bloß ein paar Schritte entfernt, aber sie redeten leise miteinander und beachteten uns nicht. Vielleicht wenn ich …

Als hätte sie meinen Blick gespürt, sah Mela her. Damit war die Chance auch schon wieder vertan, mein Wagemut löste sich in Luft auf. Sanne musterte mich eindringlich, dann Mela. Ich hatte keinen Schimmer, was in ihm vorging. Er wandte sich mir zu und legte einen Finger an seine Lippen. Ohne ein Geräusch zu machen schlich er sich von hinten an Mela ran – und bevor ich oder sonst wer den Plan kapiert hatte, zog er schon sein Handy aus ihrem Umhängebeutel, sprang damit zur Seite und fing in sicherer Entfernung an, darauf rumzutippen. Für einen Moment wirkte Mela sehr versucht, es ihm wieder abzujagen. Dann aber ließ sie ihm seinen Sieg und wandte sich Jona zu.

Der hatte alles beobachtet. „Ich wette mit dir“, sagte er zu Sanne, „dass du es nicht schaffst, mir einen ganzen Tag lang dein Handy zu überlassen.“

„Du kannst nicht wetten“, erwiderte Sanne, ohne aufzusehen. „Eins der Mädchen ist dran.“

Mela war schneller als ich. „Wetten, dass du es nicht schaffst, Jona für einen Tag dein Handy zu geben?“

Sanne ließ das Gerät sinken. „Du hast Komplizen“, beschwerte er sich bei Jona. „Das ist unfair. Warum habe ich keine Komplizen?“

„Frag doch Fern, ob sie dein Komplize sein will.“

Meine Komplizin, hörte ich Sannes Erwiderung in meinem Kopf. Political Correctness ist wichtig. Sicherheithalber sagte ich laut „Nein“, noch bevor er fragen konnte.

Sanne wirkte tatsächlich enttäuscht. Er warf einen langen, argwöhnischen Blick auf Jonas Grinsen, einen weiteren auf Melas herausfordernd verschränkte Arme, und reichte Jona dann widerwillig das Handy rüber. Der steckte es in seine Tasche.

„Vierundzwanzig Stunden“, verkündete er. „Es ist jetzt“, ein rascher Blick auf die Uhr, „drei Uhr fünfundzwanzig. Morgen Nachmittag kriegst du es wieder.“

Sanne protestierte nicht. Bis wir den Deich schließlich verließen und zurück zum Auto gingen. Dann öffnete er die Beifahrertür und begann unvermittelt: „Ohne das Handy kann ich nicht navigieren. Wetten, wir landen irgendwo am Arsch der Welt, wo uns das Benzin ausgeht und …“

„Ich weiß, wo wir sind“, schnitt ihm Jona das Wort ab. „Ist alles Bundesstraße bis kurz vor Heidum-Mole. Und du sitzt hinten.“ Mit einem zuckersüßen Lächeln schob sich Mela an Sanne vorbei.

Tatsächlich war es auch gar nicht allzu weit von dem Deich zurück nach Heidum-Mole. Aus den Schlaglöchern auf dem Feldweg spritzte das Wasser, als wir zum Haus hin abbogen. Im Radio liefen die Nachrichten. „Und nun zum Wetter …“

„In Ostfriesland regnet es“, übertönte Sanne den Sprecher. „Weitere weltbewegende News: In Alaska schneit es, in Death Valley ist es ziemlich warm und …“

„Klappe!“, „Pst!“, unterbrachen ihn Jona und Mela gleichzeitig. Er verstummte, sodass wir immerhin gerade noch hörten: „… ein kleiner Trost für alle von euch, die auf Juist der Sintflut trotzen.“

Und schon kam das Gitarren-Intro eines Songs, den ich nur zu gut kannte. Rainfall.

„You made my world turn

now there’s a surprise

you made my heart burn

now there’s water in your eyes.“

„Ist das nicht …?“ Sanne tat, als müsste er überlegen, bevor er triumphierend mit den Fingern schnippte. „Na klar. Reinfall“, ganz sicher sprach er das Wort absichtlich deutsch aus, „von den Dänen-Bubis.“

„Pst!“, zischte Mela noch mal, und Jona drehte das Radio ohrenbetäubend laut. So holperten wir unter dem grauen Himmel dahin, und zum ersten Mal seit Stunden dachte ich wieder an unser ursprüngliches Ziel.

Die anderen wohl auch. Als der Song geendet hatte und ein Radio-DJ losquasselte, würgte ihn Jona mitten im Satz ab. „Ihr bleibt doch noch, oder?“, fragte er in die plötzliche Stille hinein. „Ich meine …“, abrupt stieg er auf die Bremse. Der Mercedes kam mitten auf dem Fahrweg zum Stillstand. Im Rückspiegel suchte Jona Sannes Blick. „Nicht dass wir euch gefangen halten wollen oder so was …“

Das perfekte Stichwort für Sanne und dessen Bunker-Fantasien. Doch er schwieg. Und es war bereits Freitagnachmittag. Wenn wir uns jetzt gleich auf den Weg zur Fähre machten, sofern es irgendwo eine Fähre gab, die auch fuhr, würden wir am Campingplatz allerhöchstens noch einen Slot ganz, ganz hinten kriegen. Womöglich in einer Grube, in der das Wasser stand; Sintflut klang alles andere als verlockend. Und wir hatten hier doch alles, oder? Gute Musik, nette Gesellschaft, na ja, zumindest die von Jona. Auf Sanne traf die Bezeichnung wohl eher nicht zu. Und wir hatten den Strand gleich vor der Haustür.

„Für mich wäre es okay, zu bleiben“, antwortete ich. „Mela? Was meinst du?“

Sie nickte.

„Sehr gut“, sagte Sanne zufrieden, während mir zu spät einfiel, dass wir das alles auch irgendwie unseren Eltern erklären mussten. Aber nicht jetzt. Erst wenn wir wieder zu Hause wären. Bis dahin vertrieb ich den Gedanken aus meinem Kopf.

Zurück im Haus machten Mela und ich uns erst mal frisch. Plötzlich hörte ich Motorengeräusch. Es klang nicht nach dem Mercedes, trotzdem geriet ich kurz in Panik. Waren die Jungs ohne uns abgehauen? Quatsch, warum sollten sie uns allein hier zurücklassen? Im nächsten Moment hörte ich Jonas Stimme: „Hilf mir mal.“ Und Sannes Antwort, zu leise, als dass ich sie verstanden hätte.

Als wir runterkamen, fanden wir die beiden im Garten hinter dem Haus vor. Jona war dabei, den ziemlich nassen Rasen zu mähen. Ich floh vor dem Benzingestank zu einer Gartenhütte aus Holz, die sich an die Hausmauer schmiegte und mir am Morgen gar nicht aufgefallen war. Vermutlich weil beide, die Hütte und die Hausfassade an dieser Seite, fast unter Efeuranken verschwanden.

Die Hüttentür stand halb offen. Sanne zerrte gerade eine große, blaue Plastikplane auf den gemähten Teil der Wiese. „Gartenfete“, war seine einzige Erklärung, bevor er in die Hütte zurückkehrte.

Neugierig folgte ich ihm. Die Hütte war fensterlos, erstaunlich groß und vollgestopft mit dem Üblichen: Kugelgrill, Heckenscheren und sonstigem Werkzeug, einer zusammengeklappten Leiter und einem Stapel alter Decken.

„Fass bloß nichts an!“, warnte mich Sanne, als ich nach einer flauschigen lila Decke griff. „Auf dem Zeug liegt ein alter Familienfluch. Nur Eingeweihte dürfen es berühren.“ Er hob den ganzen Deckenstapel vom Regal.

„Und du bist eingeweiht?“, ätzte ich.

Sanne verneinte. „Jonas Tante weiß nicht mal, dass ich hier bin“, gestand er. „Sie glaubt nämlich, Anke hätte Jona begleitet.“

Das Motorengeräusch von draußen erstarb. Als wir die Hütte verließen, kniete Jona vor dem Rasenmäher und kratzte mit einem Holzstab am Schneidmesser. Alarmiert hob er den Kopf. „Die Decken gehören meiner Tante! Lass sie …“

Sanne warf den Stapel mit Schwung auf die blaue Plane.

„… besser liegen“, schloss Jona. Er wandte sich mir zu, während Sanne wieder drinnen verschwand. „Sie wäre ganz schön sauer, wenn sie wüsste, dass Nicht-Familienmitglieder hier wohnen“, erklärte er verlegen. Hastig fügte er hinzu: „Nicht du und Mela. Gegen euch hätte sie vermutlich nichts. „Ich meine Sanne. Sie hält ihn für einen schlechten Einfluss.“

„Schwer zu glauben“, erwiderte ich trocken. Sanne kam aus der Hütte. Diesmal trug er einen Plastikgartenzwerg mit roter Mütze im Arm. Der Zwerg war über und über von Spinnweben überzogen. Fragend hielt Sanne ihn uns entgegen.

Jona schüttelte streng den Kopf. Sanne zuckte die Schultern, ließ den Zwerg achtlos ins Gras fallen und beförderte ihn mit einem Fußtritt zurück in die Hütte. Ich begann mich zu fragen, wie genau er und Jonas Tante einander kannten.

Jona ließ seinen Holzstab sinken. „Ich habe ein echt gutes Leben“, vertraute er mir aus heiterem Himmel an. „Ich weiß das, und ich will mich nicht beklagen. Trotzdem geht es einem hin und wieder einfach scheiße, verstehst du? Und dann ist Sanne da. Mit seinen blöden Sprüchen und noch blöderen Einfällen, aber er ist da.“ Er sah an mir vorbei zu Sannes Rückenansicht bei der Hütte. „Immer.“

„Wie lange kennt ihr euch schon?“, fragte ich, weil die Frage in der Luft zu hängen schien.

„Ewig und drei Tage“, erwiderte Jona sofort. „Wir sind praktisch Nachbarn.“ Er überlegte kurz. „Kennengelernt haben wir uns, als wir mit den Fahrrädern zusammengekracht sind“, erzählte er und grinste mich an, als fände er die Erinnerung daran witzig. „Wir waren beide so ungefähr sechs oder sieben Jahre alt, und meine Eltern hatten gerade das Haus gekauft. Ich wollte eine Runde durch die neue Siedlung drehen. Sanne auch. Er kam also gucken, was bei uns mit dem Umzugswagen los wäre. Bloß passte er nicht auf und bamm“, dramatisch hieb er mit der Faust in die offene Handfläche.

Gerade da kam Mela mit einer kleinen Kehrschaufel aus dem Haus. „Hast du das hier gemeint?“ Ich überließ ihr und Jona die gemeinschaftliche Reinigung des Rasenmäher-Messers und ging zurück zu Sanne. Zuerst hob ich den Gartenzwerg vom Hüttenboden auf und versuchte ein paar der längsten Spinnweben von seinem Bart und seiner Mütze zu lösen. Aber meine Finger wurden von all dem Dreck kohlschwarz, also gab ich rasch auf und versteckte ihn im hintersten Winkel.

Hinter mir hörte ich ein unterdrücktes Lachen. Als ich mich Sanne zuwandte, schüttelte er vorwurfsvoll den Kopf. „Amateurin“, warf er mir vor. „Hinterlass nie Fingerabdrücke. Ich bin mir sicher, Jonas Tante hat so ein Pinsel-und-Puder-Set dafür.“ Er grinste mich an. Im Dunkeln blitzten seine Zähne weiß wie die eines Haifischs.

Ich half ihm trotzdem, den Kugelgrill aus der Ecke zu heben, und wies Sanne darauf hin, dass er genauso wenig Handschuhe trug wie ich. Sanne fand wohl, die Beschaffung des Grills müsse als sein Beitrag zur Gartenfete genügen. Kaum hatten wir das Ding rausgezerrt, warf er sich der Länge nach auf die Plane und streckte fordernd eine Hand in Jonas Richtung aus. „Baptist, bring mir einen Burger.“

Jona sah mich an. Dann Mela. Er seufzte. „Hat jemand was dagegen, wenn wir heute Abend grillen?“

Ich konnte mir die Frage nicht verkneifen: „Tust du immer, was Sanne sagt?“

„Ja“, erwiderte Sanne, während Jona gleichzeitig den Kopf schüttelte und behauptete: „Nicht immer.“ Schweigen folgte. Bis Sanne zugab: „Manchmal dauert es ein bisschen länger. Aber ich liebe Herausforderungen.“ Er schenkte uns allen ein Haifischgrinsen.

Jona zog das Handy aus der Tasche. „Was brauchen wir?“

„Brötchen“, diktierte Sanne prompt. „Frikadellen. Tomaten, Salat, Steaksoße, Eier. Und bring mir eine Flasche Gin mit. Und eine Gurke.“

„Nur wenn du den Gin bezahlst. Du schuldest mir noch Benzingeld.“

„Kann ich meine Schulden mit sexuellen Gefälligkeiten bei dir abarbeiten?“

Jona schnaubte belustigt. „Du kannst den Rasen fertig mähen.“

„Deinen Rasen da unten oder …?“ Sanne griff sich in den Schritt.

„Den Rasen meiner Tante.“

„Ugh, nein, danke.“ Sanne schien zu überlegen. „Okay, mein Gegenangebot: Kriege ich eine Flasche Gin, wenn ich dich als dein Date zum nächsten Familientreffen begleite und deiner Tante einrede, ich hätte dich schwul gemacht?“

Jona schüttelte bloß den Kopf und wandte sich an Mela. „Kommst du mit shoppen?“ Sie warf mir einen rasch Blick zu, als müsste sie mich um Erlaubnis fragen. Erst da erinnerte ich mich daran, dass wir Jona und Sanne erst einen Tag lang kannten. Es kam mir länger vor. Sehr viel länger.

Mela und Jona zogen los. Ich hörte das Knallen der Autotüren, dann wie der Motor gestartet wurde, und plötzlich wurde mir noch was klar: Ich war mit Sanne allein.

So wie vorhin auf dem Deich.

Aber irgendwie hätte es sich komisch angefühlt, jetzt nahtlos dort anzuschließen. Ohne die Dünen, die Bauzäune, das so-nah-und-doch-so-ferne Meer. Sanne schien ähnlich zu denken, er räkelte sich auf der blauen Plane und benutzte eine Decke als Kopfkissen. Wann immer ich hinsah, starrte er in den Himmel. Trotzdem fühlte ich mich beobachtet.

Mein Handy piepste. Eine Nachricht von Mam. Wie uns das Festival gefiele? Ich schrieb zurück: Wir haben Valby gehört, werden dann grillen. Alles zu einhundert Prozent wahr und zu einhundert Prozent gelogen. Vielleicht hatte Sanne mit seiner Lebenseinstellung ja recht.

„Was muss ich tun, damit du mir mein Handy wieder gibst?“, riss mich seine Stimme aus den Gedanken.

Die Antwort Sexuelle Gefälligkeiten lag mir auf der Zunge, aber so mutig war ich dann doch nicht. „Ich habe dein Handy nicht.“

„Ich weiß. Es liegt in unserem Zimmer.“

„Wenn du das weißt, hol es dir doch.“

„Geht nicht. So läuft das Spiel nicht.“ Eine Idee schien ihm zu kommen. „Obwohl … ich bin mit Wetten dran.“

„Die anderen sind nicht mal da!“ Voller plötzlicher Sehnsucht blickte ich in Richtung Einfahrt. Ich hätte mitkommen sollen, drittes Rad am Wagen hin oder her.

„Macht doch nichts. Mein Lieblingsopfer ist da.“ Er lächelte mich an. Ich musste an kleine Buben denken, die kleine Mädchen im Kindergarten an den Zöpfen zogen, weil sie sie gern hatten. Sollte ich mich etwa genauso geschmeichelt fühlen, dass Sanne mich als sein Lieblingsopfer betrachtete?

„Ich wette“, er machte eine dramatische Pause, stützte sich auf die Ellbogen auf und musterte mich erwartungsvoll, „dass du dich nicht traust, mit mir an den Strand zu gehen.“

Ernsthaft?

„Bist du krank?“, fragte ich argwöhnisch. „Hast du Fieber? Wer bist du, und was hast du mit Sanne gemacht?“

Ein Schulterzucken. „Sagen wir einfach, ich will mein Lieblingsopfer in Sicherheit wiegen.“ Er sprang auf und streckte mir seine Hand entgegen. „Also, kommst du?“

Wir folgten den Steinstufen in die Bucht. Der nasse Sand eiskalt, trotzdem zog ich meine Flip-Flops aus und trug sie in der Hand. Sannes Sneakers machten bei jedem Schritt ein schmatzendes Geräusch. Möwen staksten auf der Böschung herum. Auch ein paar andere Vögel, schwarz, mit langen Hälsen wie Gänse und weißen Köpfen.

Ich wies darauf. „Kennst du die?“

„Klar, das sind Sommervögel“, erwiderte er prompt. „Aves aestatis.“ Erstaunt sah ich ihn an. Er wedelte mit einer Hand. „Nein, Quatsch, ich habe keine Ahnung, ich labere mal wieder nur Scheiße.“

Ich wusste darauf nichts zu sagen, also wandte ich mich lieber dem Meer zu. „Und das draußen auf den Wellen? Eine Möwe?“

Er sah hin und beschattete sogar seine Augen mit einer Hand, obwohl die Sonne nicht schien. „Könnte sein.“ Ein rascher Seitenblick auf mich folgte. „Wir bräuchten ein Fern-Rohr.“

„Sehr witzig.“ Ich streckte ihm die Zunge raus.

„Sorry! Ich wollte dich nicht beleidigen.“ Er verstummte und fügte dann hinzu: „Nichts läge mir ferner.“

Diesmal trat ich halbherzig nach ihm. Zu meiner Überraschung wich er nicht aus, sondern rieb sich mit schmerzverzerrter Miene das Schienbein, obwohl ihn mein nackter Fuß kaum gestreift haben konnte. Er öffnete den Mund, schloss ihn wieder, und erst da begriff ich.

„Wenn ich von dir das Wort Fern-Weh höre …“, warnte ich ihn.

Sanne grinste mich an, doch er sagte nichts mehr. Irgendwie war ich plötzlich ein bisschen enttäuscht.

Wir schlenderten bis ans Ende der Bucht, dann wieder zurück. Schon als wir noch auf den Stufen waren, hörte ich das Auto. Mela und Jona kamen uns im Garten entgegen; sie mit roten Wangen und einer Riesenpackung Würstchen in jeder Hand; Jona beladen mit Plastiktüten voller Salat, Ketchup und Brot. Er ließ alles auf die Plane fallen, zog eine braune Flasche aus seiner Armbeuge und reichte sie Sanne. „Kein Gin. Das hier war das Einzige, was sie hatten.“

Sanne streckte fordernd die freie Hand aus. „Wo ist meine Gurke?“

Jona angelte etwas Längliches, Grünes aus einer Tüte.

„Das nennt sich Zucchini.“

„Gurke, Zucchini, sieht alles gleich aus“, erwiderte Jona mit einem Schulterzucken.

Ungläubig starrte ihn Sanne an. „Und wie soll ich mit einer Zucchini Cocktails mixen?“

„Nicht mein Problem.“

„Du könntest sie grillen“, schlug ich vor.

Sanne schüttelte den Kopf und stapfte davon.

„Du schuldest mir was!“, rief ihm Jona nach, woraufhin sich Sanne noch mal umdrehte und eine obszöne Geste in seine Richtung machte. „Ist gut! Ich erzähle deiner Tante, wir hätten in der Gartenhütte auf ihren Decken gevögelt.“

Während Jona den Grill anheizte, trieben Mela und ich einen Klapptisch auf und schrubbten die Spinnweben runter, wuschen den Salat und schnippelten die Tomaten. Sanne verschwand auf der Suche nach Alkohol im Wohnzimmer. Triumphierend kam er mit einer Flasche Rum zurück und mixte für uns Apfelstrudelschnaps – Schorle und Rum in einem Schnapsglas mit Zimtrand –, Apfelschorle mit Schuss – das Gleiche in einem größeren Glas ohne Zimtrand – und Soda-Rum con manzana – das Gleiche, nur mit Soda statt Schorle. Immerhin konnte er ausgezeichnet mit den Flaschen jonglieren.

„Wo hast du das gelernt?“, fragte Mela neugierig.

„In einer Bar, wo denn sonst?“ Er fügte hinzu: „Hinter der Theke“, als glaubten wir, er hätte am Tisch jongliert. Obwohl das bei ihm auch nicht so abwegig gewesen wäre. „Ist mein Nebenjob.“

„War“, verbesserte ihn Jona. Sie tauschten Blicke.

„War oder ist?“, bohrte ich nach.

„Ich wurde gefeuert“, gab Sanne widerstrebend zu.

„Warum das?“ Einerseits konnte ich mir ungefähr tausend Gründe dafür vorstellen, andererseits überraschte es mich irgendwie doch. Sanne nervte, aber seine Nervigkeit war vollste Absicht. Er präsentierte sich haargenau so, wie er wollte.

„Es war nicht meine Schuld.“

Jona wiegte den Kopf, doch er sagte nichts.

„Es war nicht nur meine Schuld“, schwächte Sanne ab. Noch mehr Blicke flogen zwischen ihm und Jona hin und her, ein stummer Schlagabtausch.

Als die Kohlen glühten, fing Jona an, die Würstchen aufzulegen. Wegen der Hitze beim Grill zog er sein T-Shirt aus. Sanne rollte die Augen. „Hey, Mucki-Monster! Bedeck dich, hier sind Minderjährige anwesend.“ Jona drohte ihm mit der Grillzange.

Wir picknickten auf der blauen Plane. Während die zweite Ladung Würstchen vor sich hin brutzelte, ging Sanne erneut auf die Suche nach Cocktailzutaten. Mit einem Tablett voller Gläser kam er zurück.

Vor allem aber ohne sein T-Shirt.

Ich tat mein Bestes, um nicht zu starren. Sanne war schlaksig, bei Weitem nicht so muskulös wie Jona, von dem ich annahm, dass er regelmäßig ins Fitnessstudio ging. Aber er sah gut aus. Normal durchtrainiert eben. Er war nur ein bisschen gebräunt, wie Mela, die wegen ihrer superhellen Haut immer Sonnenschutzcreme mit Faktor 50+ kaufte, und er hatte Sommersprossen auf der Brust.

„Bitte sehr.“ Sanne beugte sich an mir vorbei und reichte Mela ein Glas. „Eine Skinny Bitch für die Lady.“

Schweigen folgte seinen Worten.

„Der Cocktail heißt wirklich so, ich schwöre es. Was kann ich dafür?“ Er bemerkte unsere kollektiven Blicke und seufzte. „Eine Powerfrau mit Traumfigur“, korrigierte er sich. „Besser?“ Ich bekam ein Ostfrieslands Next Top Model, das wie Leitungswasser mit Strohhalm aussah, und schnupperte erst mal daran. „Ist das … Wodka?“

Sanne nickte und wandte sich an Jona. „Aus dem Kabinett unter dem Fernseher. War hinter jeder Menge Kram versteckt. Kann es sein, dass deine Tante heimlich säuft?“

Ich sog am Strohhalm. Der verdünnte Wodkageschmack, der Geruch gegrillter Würstchen und das halb verborgene Meer gleich hinter der Gartenhecke, alles das vermischte sich in mir zu … ich wusste nicht was. Einer Art Festivalstimmung vielleicht. „Fehlt nur die Musik“, raunte mir Mela zu, als fühlte sie das Gleiche.

Sanne, der sich gerade hingesetzt hatte, hörte es. „Wir haben eine Gitarre“, bot er an und schubste Jona. „Los, hol sie. Sing den Mädels was vor.“

„Wieso singst du ihnen nicht was vor?“

„Weil Mela auf Sänger steht.“

Mela wich meinem Blick aus und nahm einen großen Schluck von ihrer Powerfrau mit Traumfigur. sie verzog angewidert das Gesicht, nahm aber trotzdem gleich noch einen.

Eine Möwe segelte über die Gartenhecke und landete nicht weit von uns entfernt im Gras. Sanne warf ihr den Rest seines Würstchens zu, sofort gesellte sich eine zweite zu ihr. Jona fragte Sanne: „Du weißt schon, dass Möwen hier genauso eine Landplage sind wie bei uns die Tauben, oder?“, und ich stupste Sanne mit dem Fuß an. Überrascht riss er den Kopf herum.

„Sommervögel“, raunte ich. „Aves-a-was-auch-immer.“

Verdutzt erwiderte er meinen Blick, lachte dann. „Nein, das sind bloß Möwen“, entgegnete er, und die Möwen flogen davon. Jona musterte verständnislos erst mich, dann Sanne, und Mela hob bedeutsam eine Braue, aber ich erklärte ihnen nichts.

Nach dem Essen holte Jona tatsächlich eine akustische Gitarre aus dem Auto. Er stimmte sie und schlug ein paar Akkorde an. „Was soll ich spielen?“

„Was von den Bremer Stadtmusikanten“, verlangte Sanne.

Jona hörte auf zu klimpern. „Das war tatsächlich sein Vorschlag für einen Bandnamen“, informierte er uns. „Die Bremer Stadtmusikanten.“

„Nein, Quatsch“, widersprach Sanne sofort. „Als Hashtag viel zu lang, da tippt man ewig. Wenn schon dann nur #bremstadt oder so. Wäre außerdem auch scheiße zu googeln.“

„Und welcher von den Stadtmusikanten bist du?“

„Der Hahn, der oben kräht“, antwortete mir Sanne prompt. „Jona ist der Esel. Er steht unten.“

Jona kickte nach seinem Knie. Sanne rutschte von ihm weg, näher zu mir. „Siehste?“, raunte er gut hörbar. „Der Esel schlägt aus.“

„Und der Hahn hält nie die Klappe“, konterte Jona.

Sanne war deswegen nicht beleidigt. „Ich habe sogar ein geiles T-Shirt mit einem Hahn drauf“, verriet er mir. „Bloß nicht bühnentauglich, jedenfalls nicht, wenn Kids im Publikum sind.“

„Leider kein Witz“, bestätigte Jona trocken. Er spielte ein paar Töne, den Beginn eines Songs, den ich nicht kannte. Wiederholte sie ein-, zwei-, dreimal, runzelte dann die Stirn und variierte die Melodie.

„Hast du das geschrieben?“, fragte ihn Mela leise.

Er hörte auf zu spielen und lächelte ein bisschen verlegen. „Sagen wir, ich schreibe es gerade jetzt.“

Erst zögerlich, aber dann immer entschlossener setzte er neu an. Ich warf einen raschen Blick rüber zu Sanne, der genauso aufmerksam zuzuhören schien wie wir. Jona fing an, vor sich hin zu summen, und Sanne summte mit, eine zweite Stimme zu Jonas erster.

Dann begann Jona leise zu singen.

„Two summer birds

they came with the rain

they’ll leave …“

Abrupt unterbrach er sich. „Lassen wir das. Also was wollt ihr hören?“

Als es schon dunkel wurde, holte Sanne die braune Flasche hervor, die ihm Jona mitgebracht hatte. Und vier Schnapsgläser. Unkel Heins echter ostfriesischer Kruiden stand in Frakturschrift auf dem Etikett der Flasche.

Sanne öffnete sie. Er wedelte sich den Geruch in die Nase und fing prompt an zu schwanken. „Wer will mit mir Onkel Heins alte Socken probieren?“ Ohne die Flasche auch nur einmal abzusetzen, goss er alle vier Gläser voll und stellte jedes in eine Ecke des Tabletts. „Ich schlage ein Trinkspiel vor.“

Jona schnaubte belustigt. Als er unsere Blicke bemerkte, erklärte er uns: „Sanne ist so was wie ein Exhibitionist. Ich meine nicht ohne Klamotten, aber er zeigt gern Privates in der Öffentlichkeit.“

„Quatsch, wir sind doch unter uns“, widersprach Sanne sofort und hob feierlich die Flasche. „Was an der Playa del Schmitt passiert, bleibt an der Playa del Schmitt.“ Und trotz allem glaubte ich ihm.

Aus der Tasche seiner Shorts angelte er zwei Würfel. „Das sind die Regeln: Wer eine Sechs oder zwei Einsen würfelt, muss trinken. Oder eine Frage von dem beantworten, der links von ihm sitzt.“

Wir hockten auf der blauen Plane, das Tablett in unserer Mitte. Jona, Mela, Sanne, ich. Ein kühler Wind blies, Mela hatte sich bereits in eine der flauschigen lila Tanten-Decken gewickelt, und auch ich schob meine Füße unter eine.

Sanne entschied: „Fern fängt an.“

Lieblingsopfer, dachte ich. Und schüttelte den Kopf. „Ich will nicht anfangen. Fang du an.“

Zu meiner Überraschung gab er nach. „Okay, dann zählen wir eben aus, damit es fair ist. Ene, mene, muh, und raus bist du.“ Sein Zeigefinger wies auf Mela. „Ene, mene, muh, und raus bist du.“ Jona. „Ene, mene, muh“, jetzt ging es nur mehr abwechselnd zwischen ihm und mir hin und her, „und raus bist du.“ Er tippte sich an die Brust und wiederholte selbstzufrieden: „Fern fängt an.“

Warum hatte ich mir eigentlich irgendwas anderes erwartet? Dumm von mir.

Ich seufzte und griff nach den Würfeln, die noch warm von Sannes Hand, von ihrem Aufbewahrungsort zuvor an seinem Körper waren. Warf sie auf die blaue Plane. Eine Vier und – Mist! – eine Sechs. Bevor Sanne auch nur den Mund zu einer Frage öffnen konnte, griff ich nach meinem Glas und nahm einen großen Schluck. Der Kruiden schmeckte ein bisschen nach Kräutern, vor allem aber unglaublich bitter und scharf, weshalb ich nach Luft schnappte.

Als ich wieder atmen konnte, warnte ich Sanne: „Wenn das ein paar Runden lang so geht, liege ich unter dem Tisch.“ Okay, wir hatten keinen. Dann eben auf der Plane. Auf der wir sowieso schon halb saßen, halb lagen. Aber Sanne musste wissen, was ich meinte.

„Siehst du? Trinken oder reden: Wofür du dich entscheidest, ist egal. Nach ein paar Runden beantwortest du mir jede Frage, wetten? Ich gewinne so oder so.“ Er lächelte. Mir wurde ein bisschen schwummerig.

„Was, wenn du trinken musst?“, hielt ich dagegen.

Sanne zuckte mit den Schultern. „Ich kann jeden unter den Tisch saufen.“ Jonas zustimmendes Nicken bestätigte es. „Alle meine Vorfahren waren Seemänner.“

„Alle deine Vorfahren waren Männer?“ Konnte sein, dass der Kräuterbitter schon zu wirken begann.

„Seeleute“, verbessert er sich. „Seepersonen. SeefahrerInnen mit Binnen-I.“

Mir fiel etwas ein. „Was ist mit deinem Ururgroßvater, dem preußischen Offizier?“

„Der war bei der Kriegsmarine.“

Mir fiel noch etwas ein. „Und was ist mit deinem Vater? Du hast gesagt, er wäre Einkäufer für eine Schuhfabrik gewesen!“

Jona zog die Augenbrauen so hoch, dass sie fast unter seinen Haaren verschwanden.

„Der fuhr auch zur See. Er schipperte immer nach Asien, weil es dort die besten Schuhe gab. Echte Kinder-Handarbeit eben. Bloß fiel er leider bei seiner letzten Fahrt über Bord und wurde von einem Hai gefressen.“ Übergangslos schnappte Sanne sich die Würfel und warf sie in Jonas Schoß. „Du bist dran.“

Wir spielten weiter. Ich hatte Würfelpech und musste fast immer trinken, Mela und Jona nur manchmal. Sanne hatte entweder unglaubliches Glück oder er schummelte, auch wenn ich nicht gewusst hätte wie.

Zu guter Letzt würfelte er doch mal eine Sechs. Mit einem Lächeln wandte er sich an Mela. „Ihre Frage, Frau Gerichtsmedizinerin.“ Vorsorglich hob er gleich abwehrend die Hände. „Und nein, zu deiner Info, ich habe mit Leichen noch keine persönliche Erfahrung. Außerdem hat Jona mir gedroht, er kündigt mir die Freundschaft auf, wenn ich irgendwen abmurkse.“

Melas Frage kam für mich einerseits überraschend, andererseits irgendwie auch nicht: „Da wir von Freundschaft reden: Was schätzt du an Jona am meisten?“

Auch Sanne hatte so was ziemlich sicher nicht erwartet. Er ließ sich mit der Antwort Zeit: machte keine flapsige Bemerkung, sondern dachte offenbar ernsthaft nach. Das Plätschern der Wellen jenseits der Gartenhecke war das einzige Geräusch.

„Loyalität“, erwiderte Sanne schließlich knapp. Ich hätte gern gewusst, was er meinte, doch er sagte nicht mehr als das.

Ausnahmsweise hatte ich in dieser Runde mal Glück. Jona dafür nicht, er würfelte zwei Einsen. Bevor er sich entscheiden konnte, ob er trinken oder lieber eine Frage beantworten wollte, überfiel ich ihn mit: „Warum bist du mit Sanne befreundet?“

Ich konnte mir zwar ungefähr vorstellen, was er darauf antworten würde – irgendwas über Sannes schräge Ideen und dass das Leben mit ihm nie langweilig wurde. Aber ich wollte es trotzdem hören.

Jona zögerte keine Sekunde lang. „Weil er der aufrichtigste Mensch ist, den ich kenne.“

Das verblüffte nicht nur mich. Sogar Sanne schnaubte ungläubig, aber Jona beharrte: „Das meine ich ernst.“ Er musterte Sanne direkt, als er fortfuhr: „Oder vielleicht ist aufrichtig das falsche Wort – aufrecht wäre besser. Ich kenne sonst niemanden, der wie du für alles einsteht, an das er glaubt. Du lässt dich nie verbiegen, das bewundere ich an dir.“

„Du meinst, ich habe keine Haltungsschäden“, witzelte Sanne. Jonas Worte schienen ihm peinlich zu sein, und wer hätte gedacht, dass es irgendwas gäbe, was Sanne peinlich war? Er lehnte sich zurück, riss eine Hand voll Gras aus und warf sie nach Jona, aber Jona ließ sich nicht beirren und erwiderte für einen langen Moment seinen Blick, bis Sanne als Erster wegsah.

Dann wandte er sich plötzlich mir zu und rollte die Würfel dabei in seiner Hand hin und her. „Wie ist das bei euch beiden? Ihr kennt euch doch auch schon ewig, oder?“

Ich war nicht mal dran, aber die Frage verlangte trotzdem nach einer Antwort. Warum war Mela meine beste Freundin? Klar fielen mir sofort alle möglichen guten Eigenschaften von ihr ein. Ihre Zielstrebigkeit, ihr Ehrgeiz. Die Ausdauer und Disziplin, mit der sie jedes ihrer unzähligen Projekte beinhart durchzog und jedes gesteckte Ziel erreichte, egal wie sehr der ganze Stress oft an ihr nagte. Doch bevor ich auch nur versuchen konnte, das alles in einen Satz zu fassen, ergriff Mela das Wort. Sie sah mich an, niemanden sonst, als sie sagte: „Ich mag an dir am meisten deine Träumereien und dass du nicht alles, was du anfängst, immer zu Ende bringst.“

Sie musste meine Gedanken gelesen haben. Auch wenn ich nicht recht wusste, wie ich dieses Kompliment verstehen sollte. Fand sie es etwa gut, dass ich nicht halb so ausdauernd und zielstrebig war wie sie? Dass ich mich oft in irgendwas verrannte und die Sache dann genervt hinschmiss, weil Durchhalten sowieso zu nichts geführt hätte?

„Ich kann das nicht“, gestand sie mir und uns allen offen. „Wenn ich mich für etwas entschieden habe, muss ich es zu Ende bringen. Das ist wie ein … ein Juckreiz unter meiner Haut. Mir wird fast schlecht bei der Vorstellung, aufzugeben.“ Sie lächelte mich an. „Aber du kannst es. Du lässt einfach locker, für dich ist so was nicht das Ende der Welt. Das bewundere ich an dir.“ Bevor ich etwas einwerfen konnte, fuhr sie fort: „Und gleichzeitig klammerst du dich so sehr an das, was dir wichtig ist.“

„Zum Beispiel?“, fragte ich verblüfft.

„Deine Muschelsammlung“, erwiderte sie schelmisch. „Du würdest kein einziges Stück davon hergeben, egal wie oft dich deine Mam dazu drängt. Du findest irgendwie ein Gleichgewicht“, ergänzte sie sanft. „Festhalten und Loslassen-Können.“

Spontan fiel ich ihr um den Hals. Die Flasche zwischen uns kippte um und irgendwer, Sanne oder Jona, brachte gerade noch rechtzeitig das Tablett mit den Gläsern in Sicherheit, aber das bemerkte ich nur am Rande. Ich schlang die Arme um Mela in ihrem Kokon aus lila Flauschdecke, und es kam mir vor, als wären die ganzen langen Jahre unserer Freundschaft in diesen Moment gepackt, oder als wäre dieser Moment die Krönung.

Und schlagartig wusste ich auch meine Antwort auf Jonas Frage. Weil: Was ich an Mela wirklich liebte, waren nicht ihre guten Noten oder ihr Organisationstalent. Sondern dass sie sich als Klassensprecherin immer für die Außenseiter einsetzte, auch wenn das Leute waren, die sie selbst nicht mochte. Dass sie schon bei ihren Kindergeburtstagspartys das letzte Stück Torte nie selbst gegessen, sondern es immer jemand anderem gegeben hatte. Dass sie mit mir vor meiner Nachprüfung geduldig einen ganzen Sommer lang französische Grammatik gebüffelt hatte, egal wie wenig ich den Subjonctif auch nach der hundertsten Wiederholung kapiert hatte, und dass sie mir mit fünf ihr eigenes Lieblingskuscheltier geschenkt hatte, als meines verloren gegangen war. Mela war großzügig – aber nicht nur das. Sie verstand vor allem, was jemand wirklich brauchte, um sich besser zu fühlen. Und es fiel mir ganz leicht, ihr ins Ohr zu flüstern: „Was ich am meisten an dir liebe, ist dein gutes Herz.“

Jona lächelte, als wir uns voneinander lösten. Und Sanne zu meiner Überraschung auch. Sein Lächeln verschwamm vor meinen Augen.

Wir spielten weiter. Runde um Runde. Tranken und offenbarten einander unsere Geheimnisse. Ich erfuhr, dass Jona als Achtjähriger ein Kaninchen namens Bunny gehabt hatte und dass Sanne mit dreizehn in die Kanzlerin verknallt gewesen war. Er behauptete sogar, er wäre von zu Hause abgehauen, um zu ihr nach Berlin zu trampen, auch wenn Jona abschwächte, das mit dem Abhauen hätte bloß eine halbe Stunde gedauert und sie hätten Sanne noch beim Busbahnhof in Bremen aufgegabelt. Andere Jungs hätten solche Geschichten erfunden, um sich interessant zu machen, aber Sanne war von Natur aus interessant. Wenn er so schräge Sachen erzählte, dann um seine wahre Persönlichkeit hinter all dem Erfundenen zu verstecken wie ein Vogel sein schillerndes Kleid hinter fremden Federn. Eine blöde Metapher, für die ich dem Kruiden die Schuld gab. Und doch passte das Bild irgendwie.

Sanne war dran. Er schnappte sich die Würfel so schnell wieder, dass niemand sehen konnte, was er gewürfelt hatte. Öffnete dann seine Faust und präsentierte uns zwei Einsen. „Was soll ich erzählen?“

„Mit wem dein erster Kuss war“, verlangte Mela. Im nächsten Moment schaute sie mich an und kaute auf ihrer Lippe, als täte ihr die Frage meinetwegen schon wieder leid.

„Mein erster Kuss“, wiederholte Sanne dramatisch. Er lehnte sich auf der Plane zurück, stützte sich auf die Ellbogen auf und genoss sichtlich unsere Aufmerksamkeit. „Das war total romantisch. Ich war sieben. Ihr Name war Hilde. Sie war sexy, reif, erfahren … und meine Grundschullehrerin.“ Er grinste Mela und mich an, wie wir mit offenen Mündern dasaßen, und zu spät kapierte ich, dass wir ihm mal wieder auf den Leim gegangen waren. Jona lästerte: „Und ich dachte, dein erster Kuss wäre mit deiner lebensgroßen Pappkartonfigur der Kanzlerin gewesen.“

Danach war ich an der Reihe. Und würfelte natürlich eine Sechs, was denn sonst. Sanne füllte mein Glas mit Kruiden auf, aber nach all den verlorenen Runden begann sich der Garten schon leicht um mich zu drehen. Abwehrend schüttelte ich den Kopf. Ein Fehler – Sannes Hände und sein Kopf fingen vor mir an, auf und ab zu hüpfen. Es bereitete mir große Mühe, mich auf eines der Gesichter zu konzentrieren.

„Stell mir eine Frage. Ich sage dir alles, was du wissen willst“, brachte ich mit schwerer Zunge hervor.

Sanne schnappte sich mein Glas und leerte es selbst. „Game over“, entschied er. „Zeit, ins Bett zu gehen.“

Was? Ich war bereit zu spielen, bereit, ihm alles zu sagen!

Trotzdem protestierte niemand außer mir. Mela legte schützend einen Arm um mich, als wir ins Haus gingen. Und sie und Sanne begleiteten mich die Treppe rauf – Mela dicht neben mir, Sanne hinter uns, als glaubten sie ernsthaft, ich würde ohne sie umkippen und mir den Hals brechen. Mela wollte mich sogar ins Bad begleiten, doch das wehrte ich entschieden ab. Mit Müh und Not schaffte ich es allein dorthin und lehnte mich beim Zähneputzen schläfrig an den Schrank neben dem Waschbecken.

Ich hörte ein zuerst leises, dann immer lauteres Klopfen, ignorierte es aber.

Bis die Tür aufging.

Erschrocken fuhr ich herum, schwankte und hielt mich gerade noch am Waschbeckenrand fest. Sannes meergraue Augen hüpften vor mir auf und ab.

„Wie geht es deinem Kopf?“

„Bestens.“ Das Wort zu formen erwies sich als nicht so einfach. Meine Gedanken stoben davon wie Vögel. „Warum?“

Er schnaubte. „Ich frage dich morgen früh noch mal.“

Er wandte sich zum Gehen. Drehte sich dann um. „Tust du mir einen Gefallen? Wette bitte mit Jona, dass er mir mein Handy zurückgibt.“

Wette? Handy? Ich sollte mit Jona wetten, und zwar um Sannes Handy? Verständnislos starrte ich ihn an, bis er seufzte und aufgab. „Schon gut, ich schreibe ihm eine WhatsApp. Hast du mal Papier?“

WhatsApp. Auf Papier? Hä?

„Hast du mal Papier?“, wiederholte Sanne, diesmal nur die eine Frage, und das ergab wenigstens einen Sinn. Ich hatte ein Festivaltagebuch aus Papier, erinnerte ich mich, und wir hatten das Highlight des Festivals schon verpasst. Vorsichtig, immer nur langsam einen Fuß vor den anderen setzend, schob ich mich auf dem schwankenden Boden an Sanne vorbei bis zu unserem Zimmer gleich neben dem Bad und öffnete die Tür. Mela lag quer über ihrem Bett. Ich dachte schon, sie würde schlafen, aber sobald wir eintraten, schlug sie die Augen auf. Mein Festivaltagebuch steckte in der Außentasche des Rucksacks. Ich riss eine der leeren Seiten hinten raus und reichte sie zusammen mit dem Kugelschreiber Sanne, der mir leise gefolgt war. Er kritzelte was drauf, Ziffern und Buchstaben, die wie Schaumkronen auf Wellen tanzten, und schenkte mir dann ein Lächeln. „Danke.“ Ein rascher Blick zu Mela folgte. „Sorg dafür, dass sie viel Wasser trinkt“, befahl er ihr. Und zögerte. „Ich lasse euch beide dann besser allein.“

Er schloss die Tür hinter sich. Seine Abwesenheit fühlte sich plötzlich an wie ein gähnendes Loch.