Kapitel 5

Ich erwachte mit einem brennenden Durstgefühl. Mein Kopf schien ungefähr die Größe und das Gewicht eines Medizinballs zu haben, und meine Zunge klebte am Gaumen. Kaum öffnete ich die Augen, bereute ich es. Unser kleines, dunkles Zimmer war eindeutig nicht klein oder dunkel genug.

Mela saß auf dem anderen Bett, und ihre erste Frage an mich war: „Lebst du noch?“

„Nein“, murmelte ich.

Ein belustigter Laut entschlüpfte ihr. Dann kam sie rüber, befahl mir: „Rutsch mal zur Seite!“, stieg auf die Kante meines Betts und öffnete das darüber gelegene Dachfenster. Ich rollte mich hastig zur Wand hin weg, doch die erwartete kalte Dusche blieb aus. Verwundert blinzelte ich. Ein fast blauer Himmel – oder zumindest ein etwas weniger grauer Himmel als bisher – hing über mir, und die Luft roch nach Meer.

Weil Mela hartnäckig darauf bestand, schleppte ich mich ins Bad und klaute dort ein bisschen was von ihrer wahnsinnig gut duftenden Rosen-Hibiskus-Tagescreme. Sie hatte immer genug mit, um eine kleine Armee von Supermodels zu versorgen. Armee von Supermodels, auweia! Mein Gehirn funktionierte allerhöchstens zu fünfzig Prozent.

Noch dazu musste ich mich, was das Make-up anging, auf ein bisschen Lipgloss beschränken, weil meine Hand anfing zu zittern und ich mir nicht den Kajal ins Auge rammen wollte. Meine Sonnenbrille lag auf dem Klodeckel. Keine Ahnung, wie die da hingekommen war. Ich setzte sie auf. Immerhin verbarg sie einen Teil meines Gesichts.

Als ich zurück ins Zimmer kam, stand Mela vor dem Bücherregal und strich mit einem Finger über die Rücken der alten Schinken.

„Wie spät ist es?“, murmelte ich.

„Fast eins.“

Was?

Mela zögerte. und musterte mich dann eindringlich, bevor sie nur scheinbar beiläufig fragte: „Ist es für dich okay, wenn ich eine Runde joggen gehe?“

Sollte wohl heißen: Kann ich dich allein lassen?, übersetzte ich im Stillen. Mela war eine absolute Frühaufsteherin. Selbst in den Ferien schlief sie selten länger als bis halb acht. Was bedeutete, dass sie garantiert schon seit vielen Stunden auf war und geduldig meinen Schlaf bewacht hatte. Womit hatte ich eine Freundin wie sie bloß verdient?

„Klar“, sagte ich, und weil das noch immer nicht ganz zu reichen schien, fügte ich rasch hinzu: „Mir geht es blendend, mach dir um mich keine Sorgen. Ich werde dann mal frühstücken …“ Okay, vielleicht nicht. Allein das Wort „frühstücken“ nur auszusprechen, ließ meinen Magen schon rebellieren. Hastig schluckte ich die bittere Galle runter, die in meinem Hals hochgestiegen war. „Oder ich lege mich noch mal ins Bett.“ Jupp. Das klang eindeutig besser.

Mela betrachtete mich skeptisch, schien aber zu einem Entschluss zu kommen. „Ich drehe wirklich nur eine kurze Runde“, versprach sie mir. „Und ich nehme das Handy mit. Ruf an, wenn es dir schlecht geht oder wenn du irgendwas brauchst. Okay?“

Noch einmal versicherte ich ihr, dass mit mir alles in bester Ordnung wäre. Kaum hatte sie die Tür hinter sich geschlossen, sank ich rücklings wieder auf mein Bett.

Lange – keine Ahnung wie lange – starrte ich das hellgraue Rechteck des Himmels durch den dunklen Fensterrahmen an. Schnipsel des gestrigen Tages tanzten durch meine Gedanken. Sannes Kopf im Maul des Dinos und Sanne, der mich auf dem Deich zu küssen versucht hatte. Danach wurde die Erinnerung verschwommener, aber immer wieder stach Sanne daraus hervor – Sannes Lächeln; Sanne, der mein Glas in einem Zug geleert und mir befohlen hatte, ins Bett zu gehen, statt mich zu fragen, ob ich ihn auch küssen wollte.

Irgendwann stand ich auf. Zog mich an, schwarze Leggings und ein weit geschnittenes, weißes Leinentop, das ich ewige Optimistin für den Fall eingepackt hatte, ich könnte mir beim Festival einen Sonnenbrand holen. Soviel dazu. Ich fasste meine Haare vor dem Spiegel im Bad zu einem Pferdeschwanz und zog sie dann gleich wieder auseinander, schob mir die Sonnenbrille in die Haare und wieder ins Gesicht, bis ich von meiner eigenen Unschlüssigkeit genug hatte und einfach nach unten ging.

Sanne war im Wohnzimmer. Allein.

„Wo ist Jona?“

„Übernimmt gerade die Weltherrschaft? Keine Ahnung“, gab Sanne zu, und ich kam mir gleich blöd vor, weil ich gefragt hatte. Wo Jona war, ging mich wirklich nichts an.

Bevor ich Sanne versichern konnte, dass ich an Jona nicht interessiert war, oder sonst irgendwas Peinliches sagen konnte, fragte er mich: „Wie geht es dir, hast du gut geschlafen?“

Ich nickte.

„Hast du Hunger?“

Ich schluckte. Wollte den Kopf schütteln, aber das erwies sich als fast genauso schlimm wie der Gedanke an Frühstück. „Nein.“

„Wenigstens einen Kaffee“, beharrte er. „Und du solltest wirklich was essen. Ich kann ein Omelett für dich machen, wir haben auch saure Zwiebeln. Glaub mir, das hilft gegen Kater.“

„Warum bist du so …?“ … fürsorglich? Im letzten Moment entschied ich mich für das neutralere „nett?“.

„Gutes Karma“, behauptete er. und zögerte kurz, ehe er hinzufügte: „Außerdem war das Trinkspiel mit den Minderjährigen meine blöde Idee. Sorry.“

„Schon okay“, wehrte ich ab. Mela und ich waren nicht so viel jünger, und er sollte bloß nicht glauben, dass wir einen Babysitter bräuchten. Oder zuvor noch nie was getrunken hätten – wenn auch zugegebenermaßen keinen Kruiden. Ich hätte vermutlich fragen sollen, worum genau es sich dabei handelte. Aber wie hieß es so schön? Hinterher ist man immer schlauer.

Ich folgte Sanne in die Küche, wo er mir einen großen Becher Kaffee servierte. Als ich den geleert hatte, wurde mir von dem Gedanken an Frühstück nicht mehr ganz so übel, also ließ ich mich zu Sannes Omelett überreden. Er schnitt ein Bratwürstchen rein, das vom Grillen übrig war, und servierte mir das Ganze mit dem angebrochenen Glas Sauerzwiebeln.

„Hau rein.“ Grinsend fügte er hinzu: „Betrachte es als Vorbereitung auf dein Studentenleben.“

Er beobachtete mich, während ich die ersten Bissen runterwürgte. Zog dann sein Handy hervor und fing an zu tippen. Er hatte den Ton ausgeschaltet, und es war angenehm still, bestimmt sehr viel stiller als gerade auf Juist. Ein Sonnenstrahl fiel auf den Tisch. Kaum bemerkte ich ihn, schoben sich schon wieder graue Wolken vors Fenster.

Das Essen half tatsächlich. „Guck mal“, Sanne lehnte sich rüber und hielt mir sein Handy hin, bevor ich die Gelegenheit hatte, mich zu bedanken. Ein Video, ein Ausschnitt aus einem Schwarz-Weiß-Film. James Dean, wurde mir plötzlich klar, sah ein bisschen aus wie Sanne.

Das Original grinste mich an. Und wedelte mit dem Handy in die Richtung meiner schwarzen Leggings, meines weißen Leinentops, meiner dunklen Haare. „Du könntest super in dem Film mitspielen.“

Mein Gehirn war bei immerhin fünfundsiebzig Prozent seiner normalen Leistungsfähigkeit angelangt. Immer noch bei Weitem zu wenig für ein Gespräch mit Sanne. Als einzige halbwegs brauchbare Antwort fiel mir ein: „Schaust du gern so alte Filme?“

Er zuckte mit den Schultern. „Den hier habe ich seinerzeit im Kino gesehen.“

Ich überschlug kurz die Jahreszahlen. „Das müsste dann so um 1955 herum gewesen sein.“

Er lachte. „Nicht die Premiere. Aber mein Vater hatte ein Kino, so ein subventioniertes, in dem nur alte Filme und ab und an mal irgendwelche Kunstprojekte liefen.“

„War das vor oder nach der Schuhfabrik?“, konnte ich mir den Einwurf nicht verkneifen.

„Gleichzeitig“, erklärte er. „Wenigstens für eine Weile. Er hatte dann einen Schlaganfall und musste das Kino aufgeben. Sie fanden ihn erst nach der Vorstellung, weißt du? Er saß in dem kleinen Raum mit dem Projektor und gab keinen Laut von sich.“ Seine meergrauen Augen starrten mich an, ohne zu blinzeln.

War sein Vater nicht auch zur See gefahren? Und von einem Haifisch gefressen worden? Die Erinnerung an gestern Abend fühlte sich noch immer verschwommen an, als sähe ich sie durch den dicken Boden eines Glases. Ein anderes Detail fiel mir plötzlich ein. „Bist du wirklich mit Jona in einer Band?“

„Ich war mit Jona in einer Band“, verbesserte er mich und betonte das „war“. „Die Band hat sich aufgelöst.“

„Wie hieß sie?“

Evil Clown. Willst du wissen warum? Wir müssen so elf oder zwölf gewesen sein“, erzählte er mir bereitwillig. „Jona hatte Geburtstag, ein paar von uns Jungs durften bei ihm übernachten. Und zur Feier des Tages guckten wir uns so einen Film mit einem Killerclown an. Nicht Es. Irgendein schrottiges Low-Budget-Machwerk, ich weiß nicht mal mehr den Namen. Die anderen schliefen irgendwann ein, und am Schluss waren nur noch wir beide wach, während der Killerclown die halbe Stadt massakrierte. Deswegen schreit Jona jetzt auch im Schlaf. Er hat von dem Film noch immer Albträume …“

Unvermittelt unterbrach er sich. Im nächsten Moment hörte auch ich, wie die Haustür geöffnet wurde. Dann tönten Schritte. Und Stimmen. Jona und Mela kamen gemeinsam zurück. Jona steckte den Kopf in die Küche und begrüßte mich mit einem fröhlichen: „Guten Morgen. Ist Schneewittchen aufgewacht?“

„Du meinst Dornröschen“, verbesserte ich ihn automatisch. „Schneewittchen war tot.“

„Passt also doch“, ätzte Sanne. Als ich ihn anfunkelte, setzte er eine höchst unglaubwürdige Unschuldsmiene auf.

Jona wechselte das Thema: „Habt ihr Lust, heute wo hinzufahren?“

„Ja“, sagte ich spontan. „Irgendwohin, wo man baden kann.“ Alle sahen mich an, als wäre ich bescheuert, sogar Mela, auch wenn sie es garantiert netter formuliert hätte. Aber wir waren am Meer, an meinem lange vermissten Meer, das erste Mal seit Jahren. Wenigstens einmal würde ich reinhüpfen, das hatte ich mir fest vorgenommen. Ganz egal, ob ich mir dabei eine Lungenentzündung holte.

Okay, vielleicht keine Lungenentzündung, aber einen Schnupfen wäre es mir allemal wert.

Jona kannte einen Strand. Wobei „kannte“ übertrieben war, wie er selbst einräumte. Er wusste eben dessen Namen. Wir packten daher die Gitarre in den Kofferraum und fuhren los. Es war ein hellgrauer Samstag, die Straßen waren menschenleer, morgen Abend würden uns unsere Eltern zurückerwarten. Der Himmel lichtete sich umso mehr, je weiter wir uns vom Haus entfernten. Ab und zu riss die Wolkendecke sogar auf, und ein, zwei Sonnenstrahlen blitzten hindurch. Perfektes Camping-, perfektes Festivalwetter. Und doch wäre ich komischerweise nirgendwo lieber gewesen als hier mit Mela an meiner Seite, Jona und Sanne auf den Fahrer- und Beifahrersitzen vor uns.

Die kleine Badebucht, zu der uns Jona brachte, war angeblich weithin für ihren weißen Sand berühmt. Unter dem heutigen Himmel wirkte dieser bestenfalls hellgrau, und dementsprechend waren wir auch die einzigen Besucher. Doch sobald wir das Auto geparkt und den kurzen Weg durch die Dünen zurückgelegt hatten, kam die Sonne zwischen den Wolken hervor. Wenn das kein Omen war!

„Wer geht mit mir baden?“

Mela bedachte mich mit ihrem typischen „Ist das dein Ernst?“-Blick. Dann seufzte sie und fing an, ihr kurzes Jeanskleid aufzuknöpfen. Wir trugen beide schon Bikinis unter den Klamotten, aber kaum strich der Wind über Melas Oberteil und ihre nackten Schultern, erschauderte sie und wickelte das Kleid hastig wieder um sich.

„Sorry“, sagte sie zu mir. „Ich weiß, du wünschst dir das, aber ich will wirklich nicht den ganzen restlichen Sommer im Bett verbringen.“

Auch Jona fragte mich: „Ist das mit dem Schwimmen dein Ernst?“, wobei er „Ernst“ betonte, als hätte er selten eine so bescheuerte Idee gehört. Melas Bemerkung über mich von gestern Abend fiel mir plötzlich wieder ein. War das hier nun eine Gelegenheit zum Loslassen oder doch eine zum Festklammern?

„Ja“, erwiderte ich entschlossen. „Von mir aus auch alleine.“

Jona zuckte gleichmütig die Schultern, als wollte er ausdrücken: Okay, wie du meinst, ist deine Beerdigung, aber Sanne betrachtete mich prüfend. „Ich mach dir einen Deal“, sagte er dann zu meiner Überraschung. „Ich schwimme, wenn du schwimmst.“

Er streifte sich das T-Shirt über den Kopf. Unter den Jeans trug er dunkelblaue Badeshorts, aber erst als er sich ganz ausgezogen hatte, erkannte ich das Muster aus kleinen, pinken Flamingos. Sanne grinste mich an und wies auf den Turm in der Mitte der Bucht, der mindestens sieben oder acht, eher sogar zehn Meter hoch sein musste. „Ich schlage vor, wir springen von dort rein.“

Wir alle starrten ihn an. Jona ungefähr so entgeistert, als hätte ihm Sanne soeben verkündet, er wolle Konservendosenfabrikant und Bonze werden. Sanne jedoch nahm seelenruhig seine verspiegelte Sonnenbrille ab und reichte sie ihm. „Hier, halt mal.“ Jonas Blick wurde noch ungläubiger.

Sanne achtete nicht mehr auf ihn, sondern wandte sich mir zu. „Kommst du?“ Das Funkeln in seinen Augen war eine klare Herausforderung, und obwohl ich eigentlich nicht wollte, kratzte ich meinen Mut zusammen und erwiderte: „Wenn du springst, springe ich auch.“ Was blieb mir anderes übrig?

„Berühmte letzte Worte“, erwiderte Sanne, doch er lächelte.

Wir eilten rüber zum Sprungturm, ich mit meinen Klamotten in der Hand voran. Am Fuße der Leiter legte ich sie ab und fing an zu klettern. Wenn ich mich noch länger halb nackt im kalten Wind aufhielte, würde ich mir auch eine Lungenentzündung holen, ohne eine Zehe ins Wasser gesteckt zu haben. Jona hatte die blaue Plastikplane von gestern als eine Art Picknickdecke mitgenommen und breitete sie ein Stück weit hinter dem Turm aus, während Sanne und ich uns an den Aufstieg machten.

Der Turm wirkte aus der Nähe betrachtet deutlich höher. Dort wo die weiße Farbe von den Metallstreben abblätterte, waren riesige Rostflecken zu sehen, was mich nicht gerade beruhigte. Er knarzte auch ein bisschen. Die Leiter schien endlos weit nach oben zu führen. Das rostige Eisen fühlte sich unter meinen Händen an wie Schmirgelpapier. Aber Sanne hielt sich dicht hinter mir, und selbst wenn ich wie der weltgrößte Feigling dastehen hätte wollen, hätte ich nicht gewusst, wie ich mich an ihm vorbeidrücken sollte.

Oben blies der Wind so stark, dass mir das Katerfrühstück hochzukommen drohte. Er pfiff in den Metallstreben und brachte sie zum Singen. Fröstelnd und bibbernd stieg ich von einem Bein aufs andere und zwang mich schließlich doch, nach unten zu schauen. Das Meer wirkte ungefähr so grau und einladend wie Beton.

Ich wandte den Kopf. Mela winkte. Die Gläser der Sonnenbrille in Jonas Hand sahen von hier oben aus wie zwei winzige, knallrosa Spiegel.

Sanne merkte beiläufig an: „Wäre jetzt der richtige Zeitpunkt, um dir zu sagen, dass ich Höhenangst habe?“

Für einen Moment vergaß ich alles andere. „Du hast Höhenangst“, wiederholte ich. Als würden seine Worte irgendwie mehr Sinn machen, wenn ich sie aus meinem eigenen Mund hörte.

„Nein, Quatsch, so ist das nicht. Aber wenn, dann wäre jetzt der richtige Zeitpunkt, oder?“ Er grinste mich an.

„Springen wir gemeinsam“, schlug er vor. „Auf drei?“

Ich schloss für einen Moment die Augen. Nickte dann und wünschte mir mehr denn je, ich wäre Mela, die sich an vernünftige Ziele klammerte. Oder hätte wenigstens rechtzeitig kapiert, dass das hier eine Gelegenheit zum Loslassen statt zum Festklammern war. Nun konnte ich nicht mehr zurück. Du schaffst das, redete ich mir im Stillen gut zu. Augen zu und durch. Ich würde es überleben.

Hoffentlich.

Sanne schlenderte seelenruhig bis zur Kante vor. Allein davon, ihn dort zu sehen, wurde mir mulmig zumute. Er wandte den Kopf. Eine klare Aufforderung lag in seinem Blick, doch ich blieb, wo ich war.

„Ich springe mit Anlauf“, murmelte ich. Für alles andere fehlte mir der Mut.

Er fragte: „Bist du bereit? Ich zähle bis drei. Eins. Zwei. Drei.“

Ich rannte ins Nichts. Meine Beine strampelten in der Luft, ich kreischte und ruderte wild mit den Armen. Meine Gedanken:

zu hoch

zu hoch

zu hoch

ich werde sterben

endlich

Wasser!

Betonwellen schlugen über mir zusammen. Eisige Kälte umfing mich, mein Herz drohte stehen zu bleiben – dann durchbrach mein Kopf die Wasseroberfläche. Graues Meer wogte um mich. Unweit von mir glaubte ich zu sehen, wie jemand auftauchte. Aber nein, es war nur eine Möwe auf den Wellen.

Jähe Panik krallte sich mit eisigen Fingern um mein Herz. Wo war Sanne? Ich trat Wasser und drehte mich um die eigene Achse, hielt nach ihm Ausschau, doch mit jedem Augenblick, der verging, breitete sich ein schrecklicher Verdacht stärker in mir aus. Wie tief mochte das Wasser sein? Sanne war größer, vermutlich also auch schwerer als ich. War er auf dem Grund aufgeschlagen, hatte er sich verletzt und das Bewusstsein verloren, ertrank er gerade?

Dann fiel mein Blick auf Mela und Jona. Sie saßen auf der Plane, die gepolsterte Tasche mit Jonas Gitarre zwischen sich. Jona hatte beide Hände zu einem Sprachrohr geformt und schrie irgendwas zur Plattform rauf. Unwillkürlich folgte ich seinem Blick.

Oben stand – Sanne.

Er ist nicht gesprungen. Die Erkenntnis riss mich wie eine Flutwelle mit, sie drückte mich unter Wasser, sie raubte mir den Atem. Ein blubbernder Aufschrei entkam mir. Und Sanne … Deutlich sah ich, wie er sich über die Kante der Plattform lehnte und etwas zu mir runterrief. In meinen Ohren klang es ungefähr wie: „Hast du echt geglaubt, ich würde springen?“

Aufgebrachter als je zuvor in meinem Leben paddelte ich ans Ufer. Es fühlte sich an, wie in einer Gefriertruhe zu schwimmen, doch mein Zorn über Sannes Verrat wärmte mich von innen. Mela sprang von der Plane auf, als ich mich näherte. Kaum stolperte ich klatschnass und zitternd ans Ufer, hüllte sie mich in ihr mitgebrachtes, wunderbar flauschiges und kuscheliges knallpinkes Badetuch ein. „Zieh dich um“, drängte sie mich und schob mich dabei nachdrücklich in Richtung Plane, „deine Lippen sind schon ganz blau.“

Sie hatte sicher recht, aber ich war nicht vernünftig wie sie, und ich musste vorher noch was erledigen. Statt auf meine Klamotten hielt ich auf Jona zu.

„G-gib mir die B-brille!“, fuhr ich ihn an. Meine Stimme zitterte so sehr, dass die Worte als Gestammel rauskamen. Nach einem langen, abwägenden Blick auf mich reichte mir Jona Sannes rosa Sonnenbrille.

Damit watete ich zurück ins seichte Wasser, das Badetuch eng um meine Schultern geschlungen. Es war inzwischen schon ziemlich klamm und gar nicht mehr kuschelig, aber es hielt den Wind ab.

Ein Ruf tönte von oben. Das einzige Wort, das ich davon verstand, war: „Was?“

„Ich versenke deine Brille!“, schrie ich zurück. Ich umklammerte das Badetuch mit einer Hand und schwang den Arm mit der Sonnenbrille rückwärts, wie zu einem Wurf ausholend.

Sanne nahm die Drohung ernst. Er machte eine abwehrende Geste und rief: „Was soll ich tun?“

„Spring!“, schrie ich.

Sanne sprang.

Es dauerte keine Sekunde, trotzdem prägte sich mir dieses Bild unauslöschlich ins Gedächtnis ein: Sannes perfekter Kopfsprung vom Turm, ein Vogel im Sturzflug. Die Linien seines Körpers, ehe er mit einem mächtigen Platschen im Meer landete. Das Wasser spritzte bis zu mir und durchnässte mein Gesicht und meine Haare von Neuem.

Höhenangst. Von wegen!

Bei dieser Erinnerung kochte mein Zorn erneut hoch. Ich wartete, bis Sannes kupferrote Haare und sein Gesicht aus den Wellen auftauchten. Er schnappte nach Luft, doch er grinste, als sein Blick auf mich fiel. „Kalt, oder?“, rief er mir zu.

Statt zu antworten schleuderte ich seine Brille so weit ich konnte von mir weg. Sie versank mit einem Plätschern etwa zehn oder fünfzehn Meter von ihm entfernt in den grauen Wellen.

Sannes Grinsen wandelte sich in einen Ausdruck ungläubiger Empörung. Er warf sich vorwärts, kraulte zu der Stelle, tauchte unter – und blieb so lange verschwunden, dass ich erneut in Panik geriet; aber noch ehe ich das Badetuch fallen lassen und zu ihm schwimmen konnte, durchstieß seine Faust die Wasseroberfläche. Sie schloss sich um einen Bügel der rosa Brille.

Sanne tauchte auf und kraulte in Richtung Ufer. Seine Haare leuchteten wie Korallen, und die Sommersprossen in seinem blassen Gesicht stachen deutlicher daraus hervor denn je.

Stolpernd erhob er sich aus dem Wasser und watete die paar Schritte, die uns noch trennten, auf mich zu. „Das war ein fieser Trick“, stellte er fest. Ich war mir nicht sicher, wen von uns beiden er meinte.

„Ja“, stimmte ich zu. Seine Lippen waren blutleer, und er zitterte am ganzen Körper. Von einem plötzlichen Schuldgefühl erfüllt, löste ich das klamme, feuchte Badetuch von meinen Schultern und hielt es ihm hin. Doch er ignorierte das Angebot und joggte zur Plane. Jona warf ihm ein Handtuch zu.

„Du hast ihr meine Brille gegeben!“, beschwerte sich Sanne bei ihm.

„Weil du es verdient hattest.“

„Freunde passen auf die Sachen ihrer Freunde auf!“

Ich dachte, er wäre bloß dein Geschäftspartner. Erst als Sanne den Kopf herumriss, kapierte ich, dass ich die Bemerkung laut ausgesprochen hatte. Ein bisschen Wärme fand den Weg zurück in meine Wangen, während er mich musterte, so eindringlich, als sähe er mich zum allerersten Mal live und in Farbe.

Dann sagte Mela: „Zieh dich jetzt bitte, bitte, bitte endlich um. Oder soll ich schon mal anfangen, dein Begräbnis zu planen?“

Sanne wandte sich ab und begann, seine Haare trocken zu rubbeln. Mela reichte mir meine Sachen. Ich nahm sie mit einer Hand und hielt mit der anderen das zunehmend durchnässte Badetuch geschlossen. Bibbernd stand ich da und fing an zu überlegen, wo in dieser Bucht ohne jeden Sichtschutz ich mich umziehen sollte, ohne den Jungs eine Show zu bieten.

Vorhin, als Sanne das Meer verlassen hatte, war mein Zorn auf ihn verraucht. Nun aber entfachte er sich mit jedem Herzschlag, der verging, mit jedem Windstoß durch meine nassen Haare von Neuem. Klar, zu schwimmen war meine Idee gewesen. Aber ich war wie ein Lemming vom Turm gesprungen, nur weil mich Sanne dazu herausgefordert hatte!

Er ließ sich auf die Plane fallen. Das Handtuch bedeckte kaum seine Schultern, und seine Flamingo-Shorts waren klatschnass, weshalb Jona die Gitarrentasche in seinen Schoß zog, um sie vor Sanne zu retten. Dann packte er die Gitarre aus und schlug ein oder zwei Akkorde an. Die gleichen wie gestern Abend, wurde mir klar.

Two summer birds

they came …

„Fern!“ Mela schubste mich. „Zieh dich um, bitte! Du holst dir noch eine Lungenentzündung.“

Ich wies mit dem Kinn in Sannes Richtung. „Was ist mit seinen Lungen?“

„Willst du dir unbedingt ein Krankenzimmer mit ihm teilen, oder was?“

Guter Einwand. Ich wickelte das Badetuch enger um mich und überlegte gerade, wie hoch die Chancen standen, dass ich erfrieren würde, bevor ich es zum Auto schaffte, als Sanne Jona fragte: „Soll das ein Hit für die Reunion-Tour von Heroes werden?“

Heroes?“, hakte ich ein.

Jona hörte auf zu spielen. „Unsere ehemalige Band.“

„Das mit dem Clown stimmt also auch nicht?“ Ich funkelte Sanne an. Völlig unbeirrt erwiderte er meinen Blick.

Nach ein paar Herzschlägen wandte ich mich wortlos ab und stapfte davon. Den Strand entlang, immer noch wie eine Mumie in Melas pinkes Badetuch eingehüllt. Wenige Schritte später holte sie mich ein und bekam einen Zipfel des Badetuchs zu fassen. „Fern, warte! Wo willst du hin?“

„Zum Auto. Mich umziehen“, stieß ich durch klappernde Zähne hervor. Sie starrte mich an. Und ja, ich kapierte selbst, dass dieser Plan idiotisch klang. Aber es war meiner. Mit ein bisschen Glück würde ich auf dem Weg erfrieren und müsste Sanne nie wieder gegenübertreten.

Ihr Gesichtsausdruck wurde plötzlich sanfter, geradezu mitleidig. „Wegen ihm?“

Ich zuckte mit den Schultern. Das Badetuch verrutschte natürlich prompt und gab meinen Oberkörper dem Wind preis, und irgendwie war danach die Luft draußen. Sauer auf mich und auf die ganze Welt folgte ich Mela zurück zu unserer Plane. Sie improvisierte für mich aus dem Badetuch einen Vorhang, hinter dem ich meinen nassen Bikini aus- und die trockenen Klamotten anzog. Jona klimperte auf der Gitarre rum, und Sanne hielt ausnahmsweise mal die Klappe, was wahrscheinlich hieß, dass er uns beide beobachtete und sich ausmalte, wie ich nackt aussah.

Endlich war ich fertig und wollte gerade eine Bemerkung darüber fallen lassen, dass auch Männer eine Blasenentzündung kriegen konnten, da fing Jona an zu singen:

„Two summer birds …“

„Sommervögel“, unterbrach ihn Sanne. Unwillkürlich suchte ich seinen Blick. Er ignorierte mich und sprach weiterhin mit Jona, trotzdem hatte ich das Gefühl, dass er in Wahrheit mit mir zu reden versuchte. „In Deutschland wird deutsch gesprochen und daher auch deutsch gesungen.“

Jona schnaubte. „Hör mal in die Charts rein.“

„Seit wann gilt ,Alle machen das‘ als Argument?“

„Meine Songs sind auf Englisch.“

„Toll. Werde Brite.“

„Wieso nicht Ami?“

„Ami, meinetwegen. Aber nicht in Kalifornien, dort redet man spanisch. In Florida auch, und okay, in Louisiana französisch …“

„Vergiss Chinesisch nicht“, mischte sich Mela unerwartet ein. „Das sprechen fast drei Millionen Amerikaner.“ Was garantiert stimmte. Sie hatte im vergangenen Schuljahr ein Referat über die USA halten müssen und merkte sich Zahlen wie diese ewig.

Jona grinste ein bisschen verlegen, als wäre ihm erst jetzt klargeworden, dass er und Sanne Zuhörer hatten. „Nimm das in deine Liste auf“, riet er Sanne. „Fürs nächste Mal, wenn du damit anfängst.“

Ich warf ein: „Wie oft habt ihr diese Diskussion schon geführt?“

„An die hundert Mal? Ist so was wie ein Dauerbrenner.“ Jona machte eine bedeutsame Pause. „Und Sanne hasst es, wenn jemand nicht seiner Meinung ist. Er muss einen immer so lange bequatschen, bis man ihm zustimmt.“

„Weil ich recht habe.“ Sanne schlang einen Arm um Jona und zog ihn an sich. Er und sein Handtuch waren noch immer nass, und Jona stieß ihn weg.

„Du suchst also Streit“, stellte Mela fest.

„Brüder streiten nun mal.“ Sanne klang herausfordernd, und plötzlich sah er wieder mich an.

Ich wusste nicht, ob Brüder stritten. Ich hatte keine. Mela auch nicht. Aber wenn Sanne so was sagte, war es höchstwahrscheinlich gelogen. Statt mit ihm zu diskutieren, fasste ich meine nassen Haare im Nacken zusammen, schlüpfte in meine Flip-Flops und marschierte davon. Am entfernten Ende der Bucht lagen ein paar mit Schilf gedeckte Häuser. Mangels irgendeines anderen Ziels hielt ich darauf zu.

Nach kurzer Zeit hörte ich hinter mir Schritte. Bitte, bitte, sei Mela, dachte ich. Ein Teil von mir wusste es natürlich schon besser.

Sanne joggte die letzten paar Meter und schloss zu mir auf. Immerhin trug er zu den nassen Flamingo-Shorts nun ein T-Shirt, das an seiner Haut klebte. Er musste frieren. Gut so.

„Hey.“

Ich sagte nichts. Blickte nur stur geradeaus und hoffte, dass er die Nachricht verstehen und abhauen würde, doch er blieb an meiner Seite.

Nach einer Weile des Schweigens versuchte er es wieder: „Spielen sie bei euch gerade irgendwelche Blockbuster im Kino?“

Er grinste mich erwartungsvoll an. Die Frage war in dieser Situation so dämlich, dass ich stehen blieb und knapp erwiderte: „Ja.“

„Den kenne ich noch nicht. Ist der gut?“ Wieder das erwartungsvolle Grinsen. Und irgendwie fehlte mir plötzlich die Energie, um weiter sauer auf ihn zu sein. Es führte ohnehin zu nichts.

Ich wollte mich schon fast auf ein ganz normales, belangloses Gespräch mit ihm einlassen. Stattdessen hörte ich mich fragen: „Das mit deinem Vater und dem Kino, hat das gestimmt?“

Er schaute an mir vorbei. Kniff die Augen zusammen, als gäbe es in der fernen Ortschaft am Ende der Bucht irgendwas wahnsinnig Interessantes zu sehen. Abrupt riss er sich von dem Anblick los und gestand: „Nein, Quatsch, so war das nicht.“

„Was macht dein Vater wirklich?“, ließ ich nicht locker.

„Er ist tot“, erwiderte Sanne nüchtern. „Ein Arbeitsunfall.“

Sofort fühlte ich mich schäbig. „Tut mir leid.“

„Ja, er wurde von den Bullen erschossen“, fuhr Sanne fort. „Bei Auftragskillern fällt so was unter Berufsrisiko.“

„Warum …“, entschlüpfte mir, bevor ich mir kräftig in die Wange biss. Du willst die Antwort nicht wissen, redete ich mir gut zu. Du willst die Antwort nicht wissen. Du willst die Ant…

Sanne seufzte. „Du fragst dich, warum ich mir immer so einen Scheiß ausdenke.“

Ich hätte es höflicher formuliert. Vielleicht. „Ja!“

„Weil mein Leben zu langweilig ist.“ Er verstummte und musterte mich interessiert, als wollte er meine Reaktion darauf sehen. Ich bemühte mich sehr, ihm keine zu zeigen. „Nicht dass mein Leben langweiliger wäre als, sagen wir mal, Jonas. Oder deines“, schloss er beiläufig. Und woher wollte er verdammt noch mal wissen, dass mein Leben langweilig war?

Ich fragte ihn. Ein Fehler.

„Na, du wolltest mit dem Zug nach Juist fahren, um dir die Dänen-Bubis anzugucken, die du nicht mal toll findest.“ Er betonte jedes einzelne Element dieses Satzes, den Zug, Juist, Valby, als wäre es der unumstößliche Beweis für seine Theorie. Wortlos drehte ich mich um und marschierte zurück zur Plane.

Sanne folgte mir. Das konnte ich ihm natürlich schlecht verbieten, aber ich nahm mir felsenfest vor, ihn ab sofort zu ignorieren.

„Wie war das noch mal mit eurer Band?“, fragte Mela gerade, als ich mich zu ihr und Jona auf die Plane setzte. Sanne ließ sich neben mir fallen. Ich rückte so weit wie möglich von ihm ab.

„Nicht unsere Band. Jonas Band“, antwortete Sanne, bevor Jona die Gelegenheit dazu hatte. „Jona and the Heroes. Jona and the Evil Clown.“ Er schenkte mir ein Lächeln. Ich tat, als bemerkte ich es nicht.

„Lass den Blödsinn!“, fuhr ihn Jona an. Er wandte sich an Mela. „Was Sanne meint: Ich war der Bandleader. Aber es hat nicht geklappt.“

„Warum?“

Wieder war Sanne mit der Antwort schneller: „Weil ein Viertel der Band Kunst machen wollte und der Rest Kommerz.“

Jona ergänzte im selben Ton: „Soll heißen: weil drei von uns versucht haben, Gigs zu buchen und ein Demo-Album aufzunehmen, und einer lieber mit dem Hut unter der Brücke verhungern wollte.“

„Mit dem Hut in der Fußgängerzone“, widersprach ihm Sanne sofort. „Das Publikum unter der Brücke hat keine Kohle.“

„Siehe ,verhungern‘.“

Mela und ich tauschten Blicke. Offenbar war diese Diskussion genauso ein Dauerbrenner wie die über deutsche versus englische Texte. Sie warf ein: „Wer von euch hat gesungen?“

Sanne wies wortlos mit dem Daumen auf Jona.

Dieser schnaubte. „Ach, und du nicht?“

Sanne wackelte mit seinem nicht vorhandenen Busen. „Ich war das Background-Girl.“ Vor meinem inneren Auge erschien mit einem Mal ein Bild, wie er und Jona in irgendeinem Proberaum hockten, blöde Witze rissen, rumalberten und diskutierten und nebenbei ein bisschen Musik machten, und für einen flüchtigen Moment tat es mir leid, dass ich sie nie zusammen auf der Bühne erlebt hatte.

Plötzlich konnte ich nicht länger hier sitzen. Ich sprang auf und wies auf die fernen Häuser. „Ich laufe mal rüber und schaue, ob dort ein Laden oder so was ist.“

„Soll ich mitkommen?“, fragte mich Mela sogleich.

„Nein. Bleib ruhig da. Ich gehe allein“, wehrte ich ab, kramte mein Geld aus der Tasche und marschierte los.

Nach kurzer Zeit hörte ich, wie mir jemand folgte. Ich blieb nicht stehen. Insgeheim überlegte ich mir, was die passende Reaktion wäre. Würde es helfen, wenn ich mich unvermittelt umdrehte und Sanne anbrüllte – würde er den Schwanz einziehen und wie ein Strandköter in die Dünen abhauen?

Die Schritte kamen näher. Genervt wirbelte ich herum.

Es war Jona, nicht Sanne.

„Hey.“ Keine Ahnung, was er in meinem Gesicht las, doch er wich einen Schritt zurück. „Ist es okay, wenn ich mitkomme?“

Ich wollte schon fauchen, ob das Wort „allein“ denn in Deutschland eine andere Bedeutung hätte als bei uns, aber sein „wenn ich mitkomme“ ließ mich innehalten. Jona war nicht Sanne. Es wäre falsch gewesen, ihn für Sannes unmögliches Benehmen verantwortlich zu machen.

Ich nickte knapp. Wir gingen weiter, Jona passte sich meinem Tempo an. Nach ein paar Metern riskierte ich einen Blick zurück. Sanne hatte sich Jonas Gitarre gekrallt. Er redete leise auf Mela ein, und sie antwortete. Plötzlich sah er zu mir rüber. Ertappt wandte ich mich ab.

Erst als wir weit genug weg waren, dass uns die anderen garantiert nicht mehr hören konnten, brach Jona das Schweigen: „Glaub mir, ich weiß, dass dich Sannes Geschichten nerven. Aber auch wenn das komisch klingt – seine Lügen sind harmlos. Bei ihm tut nur die Wahrheit weh.“

Er wollte Klartext reden? Zeit, es zu testen. „Gut, was macht sein Vater?“

„Weiß ich nicht.“

Enttäuscht wandte ich mich ab. Dachte zugleich: Loyalität, war ja klar und fragte mich, was ich mir denn anderes erwartet hatte.

„Sanne weiß es auch nicht“, fuhr Jona fort. Ich musterte ihn zweifelnd, doch er hielt meinem Blick stand. „Er weiß noch nicht mal den Namen seines Vaters. Ob er noch lebt, wo er ist, was er arbeitet. Ob er je erfahren hat, dass es Sanne überhaupt gibt.“

Was immer ich mir zusammengereimt hatte, das war es mit Sicherheit nicht. Nicht in unserer Zeit, in unserer Welt voller Social Media und DNA-Tests und totaler Vernetzung.

„Sanne hatte nie einen Vater. Auch nicht so was wie einen Stief- oder Adoptivvater, meine ich. Seine Mutter hat von Männern gründlich die Schnauze voll.“

Kein Wunder bei ihrem Sohn, lag mir auf der Zunge. Ich schluckte die Bemerkung gerade noch runter.

Als hätte Jona meine Gedanken gelesen, fuhr er fort: „Sie und Sanne kommen schon klar, solange sie bloß nicht allzu viel Zeit miteinander verbringen. Darum hängt er ziemlich oft bei uns ab.“

„Bei deiner Familie.“ Keine Ahnung warum ich das so betonte. Vielleicht weil Melas Mam für mich so was wie eine Tante war, mindestens. Ihr Paps ein Onkel und Mela die Schwester, die mir meine Eltern nicht geben konnten.

Ein abfälliger Laut entkam Jona. „Er und Anke haben sich ständig in den Haaren, sie sind wie Hund und Katze. Von meiner Tante rede ich da gar nicht mal. Und mein Dad ist, sagen wir … sehr konservativ. Er hält nichts von Jungs, die rosa tragen.“

Das Wort Loyalität nahm für mich Gestalt an. Vor allem weil mir schon klar war, dass mir Jona gefolgt war, um mit mir über Sanne zu reden. Um sich für Sannes Benehmen zu entschuldigen, ohne sich wirklich dafür zu entschuldigen. Auch das fiel wohl irgendwie unter Loyalität.

„Sanne sagt, du wirst mal Konzernboss“, platzte ich heraus. Wenn auch mit Gitarre, ergänzte ich im Stillen.

„Sofern es nach meinem Dad geht“, bestätigte er. „Und ja“, beantwortete er meine stumme Frage, bevor ich sie in Worte fassen konnte, „wahrscheinlich wird es darauf hinauslaufen. Er hatte schon Pläne für Anke und mich, als es uns beide noch nicht mal gab.“

„Und Sanne?“ Kaum waren mir die Worte entschlüpft, wollte ich sie zurücknehmen. Weil das klang, als sollte Jonas Dad auch Pläne für Sanne haben. Oder als erwartete ich, dass Jona Sanne einen Job in der Konservendosenfabrik besorgte. Vermutlich würde Sanne die Fabrik an seinem ersten Tag niederbrennen. Einfach nur aus Prinzip.

„Du meinst, was er mal wird? Keine Ahnung.“ Jona schien kurz zu überlegen, dann schüttelte er den Kopf. „Ehrlich, ich habe keinen blassen Schimmer. Vom Straßenmusiker bis zum Mafiaboss traue ich ihm so ziemlich alles zu.“ Er verstummte, ehe er weiterredete: „Bei den meisten Leuten, wenn man sie ein bisschen länger kennt, hat man das Gefühl, man weiß, wo es sie hinzieht. Verstehst du? So als wäre ihr Leben auf Schiene.“

„Wie ein Zug.“

Er nickte. „Bloß sehe ich bei Sanne keine Schienen. Eher … ein Spinnennetz.“ Und Sanne mittendrin, der an den Fäden zog? Ja, das passte.

Wir liefen bis zu den Häusern. Schon aus einiger Entfernung war klar, dass mich mein erster Eindruck getäuscht hatte: keine Ortschaft mit vielleicht einer Bäckerei oder sonst einem Laden, wo es wenigstens was zum Naschen gäbe. Sondern bloß eine Siedlung aus roten Backstein- oder weiß gekalkten Häusern mit Schilf- oder Ziegeldächern.

Mindestens eines war offenbar ein Feriendomizil. Hus Rose stand auf dem Keramikschild am weißen Gartenzaun, und in der Einfahrt parkten zwei Autos mit NL-Länderkennzeichen. Familienurlaub: Die Mutter saß in einem Strandkorb mit blau-weiß gestreiftem Textilbezug und blätterte in einer Zeitschrift. Ein paar drei- bis fünfjährige Kinder jagten einander um einen mit Efeu überwucherten Baum, während Vater und Großeltern zwischen den Rosenstöcken auf der Terrasse Karten spielten. Eine Schale mit trockenen Keksen und drei Teebecher standen auf dem Tisch. Kaum sahen uns die Hausbewohner, grinste der Opa unverhohlen, und die Oma raunte dem Vater besorgt etwas zu. Ich kapierte nicht gleich warum. Dann jedoch wandte ich den Kopf, und meine Ahnung bestätigte sich: Von der Terrasse hatte man einen guten Blick auf den Sprungturm. Jede Wette, sie hatten alles beobachtet und hielten Sanne und mich für verrückt.

Wenigstens was einen von uns anging, hatten sie auch recht.

Mit leeren Händen kamen wir zurück. „Sorry, dort gibt es nichts zu futtern“, verkündete Jona beim Anblick von Sannes und Melas erwartungsvollen Gesichtern. „Es sei denn, ihr wollt ein paar Touris ausrauben.“

Sanne blickte drein, als zöge er diese Möglichkeit ernsthaft in Erwägung. „Wie viele? Und sind sie schwer bewaffnet?“

„Familie mit Kleinkindern“, sagte ich. „Plus Oma und Opa.“

„Dann nein danke, ich passe. Rentner sind die allerschlimmsten“, erklärte er. „Glaub mir. Hast du schon mal eins mit dem Krückstock auf die Schnauze gekriegt?“

„Hast du schon mal eins mit dem Krückstock auf die Schnauze gekriegt?“, konterte ich, doch er grinste bloß.

„Wenn hier irgendwer am Verhungern ist, ich habe Notfallrationen im Auto“, bot Jona an und musterte einen von uns nach dem anderen. Ich schüttelte den Kopf – so lange war mein Katerfrühstück nun auch wieder nicht her –, aber Sanne wedelte mit einer Hand und verlangte von oben herab: „Baptist, servieren Sie“, und das schien Jona als Antwort zu reichen. Mela sprang auf, kaum dass er ein paar Schritte gemacht hatte. „Ich komme mit.“

Für einen flüchtigen Moment war ich versucht, mich anzuschließen, nur damit ich nicht mit Sanne allein bleiben musste. Aber das wäre unfair gewesen, ich wollte mich schließlich nicht zwischen Mela und Jona drängen. Also sank ich auf die Plane und streckte die Beine aus. Ein Sonnenstrahl drang durch die Wolken und tauchte den alten Sprungturm in goldenes Licht.

„Was ist das?“, brach Sanne das Schweigen. Er sah auf meine Beine. Als ich nicht gleich reagierte, langte er rüber und zupfte an dem Lederband mit ein paar schwarzen und weißen Plastikperlen, das ich am linken Fußknöchel trug. „So was wie ein Freundschaftsband?“

Ich schüttelte den Kopf. Besann mich dann und nickte. „Schon irgendwie. Ich meine, es ist von Mela. Sie hat es mir vor Jahren zum Geburtstag geschenkt.“ Von mir hatte sie in dem Jahr, wenn ich mich richtig erinnerte, ein Foto von uns beiden in einem selbst beklebten Rahmen bekommen. Wir hatten uns nicht etwa zusammenpassende Bänder gekauft und einander ewige Freundschaft geschworen, wir brauchten so was nicht. „Weil Schwarz meine Lieblingsfarbe ist und Weiß meine zweitliebste.“

„Schwarz und Weiß sind doch keine Farben. Schwarz und Weiß sind das Gegenteil von Farben.“

„Sprach der Flamingo.“

„Wenigstens sehe ich die Welt nicht in Schwarz-Weiß“, erwiderte Sanne, doch er klang nicht streitlustig. Vielmehr, als wäre diese Bemerkung so was wie ein Friedensangebot.

„Wenigstens sehe ich sie nicht durch eine rosarote Brille.“ Wir grinsten einander an.

Mela und Jona blieben lange fort. Ich zog das Festivaltagebuch aus meiner Bauchtasche, in die es gerade mal so reinpasste, und blätterte es durch. Drei Seiten ausführliche Packliste, auf der die meisten Punkte fein säuberlich mit Melas pinkem Faserliner abgehakt waren. Dann Platz für die Tickets zum Einkleben nach dem Festival, Ausmalbilder für lange, öde Zugfahrten, ein paar leere Seiten für Fotos von den anderen Festivalbesuchern. Spontan zückte ich das Handy und knipste eines von Sanne, der seine rosa Brille ins Haar geschoben hatte. Die folgenden Seiten waren für Eindrücke von den Bandauftritten vorgesehen. Zwei Cartoon-Mädchen standen am unteren Seitenrand in der ersten Reihe vor einer Bühne und jubelten. Ich starrte darauf.

„Hast du mal Papier?“ Überrascht riss ich den Kopf hoch. Sanne streckte fordernd eine Hand aus, und Nein zu sagen, wäre irgendwie albern gewesen, also riss ich eine der leeren Konzerteindrücke-Seiten aus dem Tagebuch. Und als Sanne mehr wollte, noch die Seite für Twitter, weil ich das ohnehin nicht nutzte und auch niemanden kannte, der es tat. Schnell und geübt faltete Sanne aus den Blättern Schiffe, lieh sich meinen Kuli und kritzelte seitlich was drauf.

„Was schreibst du?“ Eine Ahnung entstand in mir. „Wohin fährt das Schiff?“

„Rate mal.“ Ich schüttelte den Kopf. Wortlos hielt er es so, dass ich den Namen lesen konnte: Fähre nach Juist. Ein Sonnenstrahl fiel auf das Papier.

„Und das andere?“

Sanne legte den Kopf schief. „Bremen?“, schlug er vor. „Oder nein, eher Lübeck. Oder … egal. Wohin du willst.“

Unwillkürlich dachte ich an meine Seekartensammlung, an kiloweise Muscheln in Schuhkartons und daran, dass ich nicht wusste, wohin ich wollte. Dass ich mich bei so was in der Regel auf Mela verließ.

Was bisher ja auch super funktioniert hatte, von Ausreißern wie diesem mal abgesehen. Aber wie lange würde es noch funktionieren? Sanne, traute ich mich zu wetten, würde keine Seekarte brauchen. Und sein Schiff wahrscheinlich gegen einen Eisberg steuern und darauf bauen, dass ihm Jona mit einem zwanzigstöckigen Kreuzfahrtschiff folgte und einen Rettungsring zuwarf. Ich ärgerte mich über meinen eigenen blöden Gedanken.

Wir setzten die Schiffe in die Brandung und ließen sie schwimmen. Nach einer gefühlten Ewigkeit kamen Mela und Jona mit einer Packung Schokoriegel zurück, und ich verkniff mir die Lästerfrage, ob sie die aus dem Auto hatten oder dafür extra zu Fuß zum nächsten Supermarkt gewandert waren. Wir teilten uns die Riegel. Ich begnügte mich vorsichtshalber mit einem, danach bekam ich aber doch Hunger. Kein Wunder. Ein Blick auf die Uhr verriet, dass es fast fünf war! Na, schließlich hatte ich ja auch mehr als den halben Tag verschlafen.

Das bisschen Sonne verschwand. Dichte Wolken ballten sich am Himmel zusammen, der Wind blies zunehmend stärker, und Mela fröstelte sichtlich, als sie uns fragte: „Wollt ihr noch länger hierbleiben?“

Nicht ohne was zu essen, lautete der allgemeine Tenor. Wir stapften durch die Dünen zurück zum Mercedes. Jona fuhr, er hielt auf die nächste Ortschaft zu, und es dauerte auch tatsächlich nicht lange, bis wir deren Hauptstraße mit den nun schon vertrauten roten Backsteinhäusern erreichten. Eines davon musste eine Kneipe sein: Habbos Kroog stand zwischen zwei Brauereilogos auf dem weißen Schild.

„Klingt doch okay, oder?“, fragte Jona. Niemand widersprach, und wir waren alle hungrig, also fuhr er rechts ran.

Die Kneipe war nicht groß. Sie bestand nur aus einer einzigen kleinen Stube mit unverputzten Ziegelwänden. Es gab eine lange Bar aus dunklem Holz, an der mir als Erstes eine Unmenge Schnapsflaschen ins Auge sprang. Signierte Trikots hingen von der Decke. Auf einem hohen Regal reihten sich Pokale aneinander.

Die beiden größten Tische im Raum waren voll besetzt, fast ausschließlich mit Männern, von denen wiederum die meisten Fußballtrikots trugen. Gerade brachte ihnen die Kellnerin ein Tablett mit mindestens einem Dutzend Schnapsgläsern und sammelte ebenso viele leere ein. Mein Blick fiel auf eine Tafel, auf der mit Kreide geschrieben stand: HAPPY HABBO HOUR JEDER SHOT ½ PREIS.

Ansonsten gab es noch ein paar kleinere Tische aus dunklem Holz. An einem saßen drei Männer, die uns interessiert musterten. Jona führte uns an ihnen vorbei zu einem benachbarten Tisch in einer Ecke. Zu ihm sagten sie nichts. Als dann aber Mela, ich und Sanne kamen, hörte ich sie halblaut miteinander flüstern und verstand zumindest die Worte „Kindergarten“, „Feuerwehr“ und „Haare“, gefolgt von einem spöttischen Lachen. Meine Wangen liefen rot an. Sanne neben mir hatte die Stänkerer auch gehört und warf ihnen einen verächtlichen Blick zu. Ein mulmiges Gefühl beschlich mich, und ich hoffte bloß, er würde die Klappe halten.

Die Kellnerin begrüßte uns mit einem fröhlichen „Moin!“ und brachte die Karten. Mela und ich saßen mit dem Rücken zur Mauer, sodass wir zwar die größte Entfernung zu den Gästen am anderen Tisch, aber zugleich den besten Blick auf sie hatten. Und sie auf uns. Leider. Einer von ihnen – um die dreißig mit aschblonden Haaren, platinblond gebleichten Stirnfransen und einem kleinen Kinnbärtchen – starrte zuerst mich und dann Mela so unverhohlen an, dass es geradezu gruselig war. Hastig schnappte ich mir eine Karte und hob sie vor mein Gesicht.

Das gesamte Speisen- und Getränkeangebot passte auf eine einzige laminierte A4-Seite. Und dabei nahm der Alkohol bei Weitem den meisten Platz ein. Es gab nur drei warme Gerichte: Eintopf mit Mettenden, Buletten mit Fritten, Kartoffelpuffer mit Apfelmus. Mela und ich tauschten zunächst ratlose Blicke, ehe wir uns Hilfe suchend an die Jungs wandten.

„Mettenden? Ist das so was wie Würste?“

Bereitwillig fing Jona an, uns den Unterschied zwischen Mettenden und anderen Wurstarten zu erklären. Ein Tumult von den Fußballertischen her übertönte ihn. Die Hälfte der Männer dort hatte sich erhoben, und alle prosteten einander mit Bier- und Schnapsgläsern zu, sodass diese klirrten. „Een Hooch op den SV!“

In die Stille, die folgte, skandierte Sanne gut hörbar: „Grün-weiß, grün-weiß!“ Die Trikots der Männer an den Tischen und auch die über der Bar waren alle rot-gelb gemustert.

Jona stieß ihm den Ellbogen in die Rippen. „Hör mit dem Scheiß auf!“, murmelte er, „Und seit wann bist ausgerechnet du ein Fußballfan?“

„Fußball? Pffft!“, erwiderte Sanne abfällig. „Aber darf man als Bremer nicht seine Heimatstadt vertreten?“ Theatralisch schlug er Jona auf die Schulter. „Sei ein Patriot!“

Ein paar der Männer sahen bereits zu uns rüber. Einer sagte leise was, andere lachten. Der am Nebentisch mit dem Kinnbärtchen raunte seinen Kumpanen was zu, von dem ich diesmal das Wort „Pumuckl“ verstand. Sanne wandte den Kopf und bedachte ihn mit einem langen, abwägenden Blick.

Zum Glück kam gerade die Kellnerin an unseren Tisch. Mela und Sanne bestellten Kartoffelpuffer mit Apfelmus, Jona den Eintopf, ich die Buletten. Oder besser gesagt, ich versuchte es. Buletten waren alle, und die Kellnerin bot mir stattdessen zu den Pommes eine „Pümmelwurst“ an, bei der schon der Name dafür sorgte, dass ich am liebsten im Holzfußboden versunken wäre. Sanne grinste unverhohlen, Jona hielt sich nicht gerade unauffällig die Hand vor den Mund, und neben mir gab Mela einen Laut von sich, den man bestenfalls als unterdrücktes Kichern bezeichnen konnte. Hastig entschied ich mich auf Kartoffelpuffer um.

„Schade“, merkte Sanne unschuldig an, kaum dass die Kellnerin fort war. „Du hättest sonst überall rumerzählen können, wie gut ostfriesischer Pümmel schmeckt.“ Ich versuchte gegen sein Schienbein zu treten, verfehlte es aber und schlug mir bloß die Zehen an einer Stuhlkante an.

Wir bekamen bald unser Essen. Der Klecks Apfelmus auf dem Teller hätte ruhig größer sein dürfen, und sowohl die Kartoffelpuffer als auch das Mus kamen eindeutig aus der Tiefkühlpackung beziehungsweise dem Glas. Aber es musste inzwischen schon später Nachmittag sein, und wir alle waren froh, etwas Warmes in den Bauch zu bekommen.

Gerade als wir gezahlt hatten, betrat noch ein Gast das Lokal: ein Mann in einer dunkelblauen Windjacke mit einer schwarzen Schirmmütze auf dem Kopf. Er schwankte. Die Türklinke entglitt ihm, und krachend fiel die Tür hinter ihm ins Schloss. Zuerst dachte ich, ein heftiger Windstoß wäre der Grund dafür gewesen, aber dann stolperte er auf uns zu, und eine unverkennbare Alkoholfahne umwehte ihn. Die Männer am Nebentisch schienen ihn zu kennen und machten ihm bereitwillig Platz. Mit einiger Mühe schaffte er es, einen freien Stuhl zu ihrem Tisch zu ziehen, und sank darauf nieder.

Sein Blick fiel auf uns vier. Ein ungläubiges Lachen entfuhr ihm, und er lallte: „Wat is’n dat for’n Kinnergebuursdog?“

„Kien Gebuursdog. Die fiern Kaarneval“, witzelte der mit dem Kinnbärtchen.

Schirmmütze wandte sich Sanne zu. „Jung“, er sprach es „Dschung“ aus. „For Pippi Langstrümp mootst du dinn Haar noch ’n beeten wassen laten!“ Er wies auf Sannes Kopf und lachte lauthals. Seine Kumpane stimmten ein.

Sanne schob seinen Stuhl zurück und stand auf. „Dein Arschloch-Kostüm ist hingegen schon perfekt“, erwiderte er laut. Totenstille folgte auf seine Worte. Die Stänkerer glotzten ihn ungefähr so an, als hätte er sich tatsächlich vor ihren Augen in Pippi Langstrumpf, das stärkste Mädchen der Welt, verwandelt.

Im nächsten Moment stieß Schirmmütze seinen Stuhl so heftig zurück, dass dieser umfiel und über den Boden schlitterte. Er ballte die Fäuste. „Dschung, wat hast to mi sacht?“

„Arschloch“, wiederholte Sanne klar und deutlich. Seine Stimme klang absolut furchtlos. Ich kniff mich in den Schenkel, um sicherzugehen, dass das hier real war, nicht bloß eine Filmszene oder ein Traum. Sanne und Schirmmütze starrten einander an. Schirmmütze war ein bisschen kleiner, aber doppelt so breit gebaut wie Sanne und unzweifelhaft wütend. Ich an Sannes Stelle hätte mir vor Angst in die Hose gemacht.

Jona sprang auf. „Gehen wir“, stieß er gepresst hervor. Mela und ich ließen uns das nicht zweimal sagen. Eilig schlängelten wir uns aus unserer Ecke hervor – aber kaum standen wir alle, erhoben sich am Nebentisch auch Kinnbärtchen und seine Kumpane. Die Kellnerin hastete herbei und sagte irgendwas auf Plattdeutsch, das vage beschwichtigend klang. Keiner achtete auf sie.

„Dschung, du krisst gleich een op de Mütz!“, lallte Schirmmütze.

Sanne schnaubte belustigt. „Sorry, ich prügle mich nicht. Aber wie wär’s, wenn wir die Sache mit einem Spielchen regeln?“

Wieder hatte ich das Gefühl, in einen schlechten Film geraten zu sein. Mein Blick fand Melas. Sie zuckte mit den Schultern und wirkte genauso rat- und hilflos, wie ich mich fühlte.

Kinnbärtchen mischte sich ein. „Wisste mit mi een utdrücken?“

„Erst Prügeln und dann noch Armdrücken? Was ist das hier, die Neandertaler-WM?“ Jona schnappte sich Sannes Ellbogen und versuchte ihn vom Tisch wegzuzerren. Sanne stemmte sich mit aller Kraft dagegen. „Ich dachte eher an Poker.“

„Poker“, wiederholte Kinnbärtchen ungläubig.

„Natürlich um Geld“, und ein lauernder Unterton lag plötzlich in Sannes Stimme.

Jona packte seine Schultern und schleifte ihn gewaltsam rückwärts. Mela und ich halfen, so gut es ging. Gemeinsam zerrten wir Sanne mit uns, Mela öffnete die Tür, und Jona und ich schubsten Sanne nach draußen. Ein kühler Wind wehte. Schwarze Wolken ballten sich am Himmel zusammen.

Sanne riss sich los. „Du hast die Säcke da drin gehört“, fauchte er Jona an. „Warum …?“

„Weil du echt nicht so gut in Poker bist, wie du glaubst!“, fuhr Jona ihn an. „Und weil ich deinetwegen keine in die Fresse kriegen will.“

„Von mir aus. Warte mit den Mädchen im Auto.“ Sanne marschierte zurück zur Kneipe.

Schneller und gewaltsamer, als ich ihm zugetraut hätte, packte Jona seinen Arm und verdrehte ihn. Er hielt Sanne fest, als wollte er diesem Handschellen anlegen.

„Ich trete dir in die Eier“, drohte Sanne.

„Dann sage ich den Mädchen, wie du mit Vornamen heißt“, konterte Jona. Und egal wie lachhaft diese Drohung klingen mochte, sie schien zu wirken. Sanne gab seinen Widerstand auf.

Wir eilten zum Auto, das etwa zwanzig Meter entfernt auf der anderen Straßenseite parkte. Mehr als einmal warf Jona einen besorgten Blick zur Tür der Kneipe. Kurz vor dem Auto blieb Sanne stehen.

„Chill!“, befahl er Jona. „Die Typen da drin sind doch bloß Klappe ohne was dahinter. Hat dir nie einer gesagt, dass Hunde, die bellen, nicht beißen?“

„Und wer hat dir beigebracht, wie man mit Leuten redet?“, gab Jona sichtlich genervt zurück. „Dein Vater?“

Sanne zuckte zusammen, als hätte Jona ihn geschlagen. Und Jona schien seine Worte zu bereuen, sobald er sie ausgesprochen hatte. Er legte die Hand auf Sannes Schulter, eine stumme Entschuldigung, aber Sanne schüttelte ihn ab, warf sich auf den Beifahrersitz des Mercedes und knallte die Tür zu.

Unschlüssig stand Jona daneben. Plötzlich knallte eine weitere Tür – die der Kneipe, die von innen schwungvoll aufgestoßen wurde. Kinnbärtchen und seine beiden Kumpels stürmten heraus, nur Schirmmütze fehlte. Sie bemerkten uns und hielten auf den Mercedes zu.

Im Nu waren wir eingestiegen. Jona startete schon den Motor, bevor Mela und ich auch nur die Chance hatten, uns anzuschnallen. Sanne ließ das Beifahrerfenster runter. „Ibiza! Olé!, ihr Säcke!“, schrie er den verblüfften Männern entgegen und schwenkte seine Baseballkappe mit dem blutigen Smiley, ehe wir an ihnen vorbei waren und die Hauptstraße entlangbretterten.

Mit fahrigen Fingern schnallte ich mich an. Kniff mich dann erneut in den Schenkel. Aber das hier war kein Traum, wir sausten mit mindestens achtzig Sachen durch Ortsgebiet … Im selben Moment, als ich das dachte, wurde Jona langsamer. Die Kneipe lag bereits weit hinter uns zurück. Und keine Sekunde später begann es zu regnen. Fette Tropfen prasselten aufs Dach und auf die Windschutzscheibe.

„Mach das Fenster zu!“, schnauzte Jona. Sanne tat es wortlos, lehnte sich dann zurück.

Niemand sprach. Die Luft im Auto fühlte sich dick an, schwer wie Blei. Jona konzentrierte sich aufs Fahren, und Sanne schwieg, ein beharrliches, bockiges Schweigen. Wir ließen das Ortsende hinter uns, Jona blinkte und bog auf die Bundesstraße ab, und während wir unter grauem Himmel und dem Prasseln des Regens zurück in Richtung Heidum-Mole bretterten, wurde mir schlagartig bewusst, dass Samstagabend war. Das Festival endete am Sonntagmorgen. Unsere Eltern würden uns am späten Sonntagnachmittag zurückerwarten.

„Weißt du noch, wann morgen unser Zug fährt?“, flüsterte ich Mela zu.

Sie sah mich mit großen Augen an, als hätte auch sie beinahe vergessen, dass unser Aufenthalt hier ein noch dazu recht kurzes Ablaufdatum hatte. Irgendwie war ich erleichtert, irgendwie aber auch traurig. Vor allem wollte ich nicht, dass unsere gemeinsame Zeit mit den Jungs so endete.

Mela kramte das Handy aus ihrem Umhängebeutel. Bevor sie anfangen konnte zu tippen, brach Sanne sein Schweigen. „Die Bahn streikt noch immer.“

Keine Ahnung, ob das stimmte. Keine Ahnung, ob irgendwas, das Sanne je zu mir gesagt hatte, stimmte. Aber in diesem Moment wollte ich es glauben, wollte ich es mehr als alles andere glauben. Der Regen ließ nach, und gleich darauf riss auch die Wolkendecke auf. Die tief stehende Sonne tauchte alles in goldenes Licht, das Stroh und Getreide auf den Feldern, das Grau und Weiß vereinzelter Gartenmauern, das Grün der Sträucher dahinter. Wir fuhren unter einer Fußgängerbrücke durch. Die Metallstreben ihres Geländers funkelten wie mit Kupfer überzogen, und plötzlich erschien mir die zauberhafte Abendstimmung wie ein Wink des Schicksals, das uns zuflüsterte: Bleibt doch länger. Einen Tag …

Maximal zwei. Bis die Züge wieder fuhren.

Ich schaute Mela an. Mela sah mich an. „Wenn die Züge streiken …“, begann sie langsam.

„… kommen wir nicht nach Hause“, beendete ich für sie den Satz. Und dass wir wegen des Bahnstreiks hier festsaßen, stimmte ja auch. Irgendwie.

Wir fuhren zurück zum Ferienhaus. Parkten, stiegen aus, trotteten im Gänsemarsch über die Treppe zur Tür. Jona brach das drückende Schweigen mit einem „Hat jemand Lust, im Garten abzuhängen?“ Sanne ignorierte ihn völlig. Den glitschigen, nassen Stufen nach zu urteilen, hatte es auch hier geregnet, und irgendwie war die Luft draußen. Weil keiner von uns in der Kneipe so richtig satt geworden war, knabberten wir in der Küche stumm die Chips und Kekse, die Jona als zusätzlichen Vorrat für die gestrige Grillparty gekauft hatte. Mela und ich überzeugten per WhatsApp unsere Eltern, dass wir uns für die Nacht ein Zimmer auf dem Festland nehmen und ganz, ganz, ganz sicher am Montag zurückfahren würden. Als ich später an diesem Abend in meinem Bett lag, glaubte ich durch die Wände zu hören, wie Jona mit Sanne stritt.

Morgen, tröstete ich mich. Morgen war ein neuer Tag.