»Die Arbeiterklasse ist rassistisch, kolonialistisch und imperialistisch.«
Diese Auskunft37 klingt häßlich. Wer aber schon mal in einem reichen europäischen Land auf dem Kleinstadtfußballplatz war oder sich gefragt hat, warum es beispielsweise in Deutschland nicht etwa die Repräsentanten von Unternehmerverbänden oder sonstigen prokapitalistischen Konservativen sind, die vor Überfremdung, Verdummung der Nation durch Ausländer, Untergang des Abendlands in Kulturkämpfen warnen, sondern ganz andere Figuren, mit ganz anderem politischem Hintergrund – Franz Schönhuber, Gründer der Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre recht erfolgreichen, scharf reaktionären Kleinbürgerpartei »Die Republikaner«, kam aus der SPD, nicht von der CDU; das die erste krisengeborene Ausländer- und Asylantenangst der Westdeutschen bündelnde Buch Die Erde wächst nicht mit, dessen Kernthese lautete: »Es soll das Recht der Deutschen gewahrt und gesichert werden, in einem deutschen und nicht in einem Vielvölkerstaat zu leben«,38 vorabgedruckt natürlich im linksliberalen Spiegel 1982, stammte von einem ehemaligen Intendanten des ebenfalls linksliberalen NDR und SPD-Mitglied namens Martin Neuffer, der brandneue Martin Neuffer der Schröderschen und Merkelschen »Berliner Republik« hieß dann Thilo Sarrazin, SPD –, oder wer sich schließlich vergegenwärtigt, daß die Nazis, als sie sich ausgerechnet als Arbeiterpartei inszenierten, nicht etwa ausgelacht, sondern ernst genommen wurden, könnte die häßliche Auskunft glauben, zumindest aber für wahrscheinlich halten. Träfe sie selbst uneingeschränkt zu, ließe sich daraus freilich noch nicht der auffällige Eigendünkel ziehen, der die besseren Kreise überall und zu allen Zeiten verführt hat, sich für das Soziotop der besseren Menschen zu halten – schon zu Kinderzeiten, in den südwestdeutschen späten Siebzigern und frühen Achtzigern, hat uns abgeschreckt, wie sicher sich die Töchter von Architekten und die Söhne von Psychologen waren, das Licht der Toleranz zu repräsentieren, weil sie keine der derben und dummen Türkenwitze kannten, keine Landserheftchen lasen und keine Nazirock-CDs besaßen, mit denen die Kinder weniger geisterfüllter Elternhäuser auf dem Schulhof zu punkten versuchten, während jene kleinen Engel mit den linksliberalen Flausen auf dem Weg ins Gymnasium lieber besonders wertvolle Tim und Struppi-Alben tauschten, etwa den unvergeßlichen Meilenstein frankobelgischer Comictradition Tim im Kongo, worin schwarze Afrikaner, die aussehen wie verbrannte Holzpuppen mit rosa Gummiringen als Mündern, dem weißen Musterknaben in fraglos aus dem Original ganz vorzüglich ins Deutsche übertragene Sätze ins käsige Gesicht sagen wie: »Gnade! Ich dich wollen töten … erwürgen! Aber Schlange mich umringen … ohne dich ich tot … jetzt ich dein Dingsbums Sklave, für immer …«,39 und dem patenten Kläffer des weißen Musterknaben die Freude widerfährt, von diesen drolligen Männlein als »Massa Hund« geehrt zu werden. Inzwischen sind die Engelchen erwachsen und würden sich entweder gruseln, daß sie solches Gift einst zu sich genommen haben, oder aber die mäßig interessierte Umgebung belehren, das solle man nicht so wichtig nehmen, erstens handele es sich um Popkultur und zweitens sei die Geschichte ja in den frühen dreißiger Jahren in Belgien erschienen, aus welchem Zeitumstand sich der Ton, die Stumpfheit und Blödheit des Zitierten ganz zwanglos erklären lasse – daß einem mühelos Leserinnen und Leser einfallen, die 1930 am Leben waren, Witz besaßen und über den Dreck nicht hätten lachen können, gilt nicht (Karl Kraus gilt nie; er war kein Engelchen). Was im Engelchendiskurs hingegen stets gilt, sind die Ausreden und Besserwissereien der Engelchen; egal, wie alt sie sind und wozu sie sich jeweils äußern (unter Engelchengefahr steht man sofort, wenn man ein Buch wie dieses schreibt oder liest; dagegen kann man fast nichts unternehmen, außer sich nicht auch noch dafür begeistern oder es anstreben, sondern als Gefahr betrachten und jedenfalls die einzige Utopie, die diese Menschensorte kennt, nämlich »Alle werden wie wir«, schlicht verweigern. Wenn schon Transformationsutopien, dann solche mit ein bißchen mehr Potential zur Veränderung des Gegebenen, wie etwa die schöne »Welt, in der alle Menschen Mädchen wären« der Berliner Band Die Ärzte oder »Laßt uns alle Juden sein« von Oliver Polak).
Den Proleten steht solche Zungenfertigkeit, die man seit den einschlägigen Beobachtungen Victor Klemperers und Untersuchungen Hannah Arendts als intellektuellentypisch verachten gelernt hat, nicht zu Gebote; sie behelfen sich mit eher ordinärem Rassismus. Rassistisch, kolonialistisch, imperialistisch – wer mag die Auskunft erteilt haben, mit der dieses Kapitel beginnt? Es hätte ein Monetarist und Freihandelsdemagoge sein können, der Gewerkschaftsleuten Arbeitsmarktprotektionismus vorwerfen will, um die ihm genehme Sorte Einwanderung – die, mithilfe derer man Löhne drückt – durchzusetzen; auch eine katholische Dritte-Welt-Philanthropin mit Groll gegen alles, was sie noch vom Bolschewismus weiß; ein postkolonialer Foucaultianer auf der Suche nach Herrschaftsformen, die quer zum perhorreszierten Histomat stehen; vielleicht eine Wertkritikerin, die sich einen netten Abend am Computer damit macht, dem von ihresgleichen dreimal täglich abzuwatschenden »traditionellen Arbeiterbewegungsmarxismus« mal wieder sein Verlassen des systemsprengenden, transformatorischen Programms der Marxschen Fundamentalkritik warenförmiger Vergesellschaftung vorzurechnen.
Hätte man auf irgend etwas davon getippt, man hätte falsch geraten.
Der Zeuge ist ein französischer Berufspolitiker (sogar Berufsrevolutionär) mit dem klangvollen Namen Laurent Casanova.
Dieser Mann, der in den Diensten der Kommunistischen Partei Frankreichs stand, war während der Zeit des Algerienkrieges mit der unangenehmen Aufgabe betraut worden, den schmählichen Verrat, den seine Partei an den in einen verzweifelten bis heroischen Dekolonisationskampf verstrickten Algeriern geübt hatte, vor jungen Radikalen zu vertreten. Die französische KP hatte sich eben für eine »Union zwischen Frankreich und Algerien« ausgesprochen, den berühmten Mittelweg also, der in Gefahr und höchster Not bekanntlich den Tod bringt (in diesem Fall den der Aufständischen, nicht selten durch Folter), eine urbürgerliche, bestenfalls erzreformistische, jedenfalls aber verlogene Lösung nach Art des großbritischen Umgangs mit Nordirland. Casanovas Kommunisten können dabei nicht das allerreinste Gewissen gehabt haben und faselten nolens volens eine Zeitlang viel vom französischen Humanismus und Universalismus, die freilich bei den Aufklärern und während der bürgerlichen Revolution noch entschieden weniger nach einer frankophonen Übersetzung der white man’s burden geklungen hatten – für die Jakobiner war die Benachteiligung eines Menschen nach Maßgabe seiner ethnischen oder anders blutmäßigen Herkunft noch eine Beleidigung der menschlichen Vernunft gewesen; jetzt, in der Algerienfrage, überboten sich die erklärten proproletarischen Nachfahren Robespierres in Erklärungen, wonach man die Nordafrikaner nicht den in ihrer Heimat leider üblichen barbarischen Bräuchen, wilden Stämmen und atavistischen Formen der Vergesellschaftung überlassen dürfe, sondern in der Pflicht stand, ihnen das angebliche autochthone Mittelalter mit Waffengewalt auszutreiben.
Wären die natürlichen Freßfeinde der KP, die Trotzkisten, damals alert und vif genug gewesen, nach dem von Stalin inspirierten Vorbild der deutschen KP in der Weimarer Zeit, die der SPD »Sozialfaschismus« vorwarf, mit polemischen Wortneuprägungen ins Gefecht um Stimmen und Mitglieder zu ziehen, sie hätte Casanovas Partei mindestens »Egalitätsimperialismus« oder »Humanitätskolonialismus« vorwerfen müssen.
Rassistisch, kolonialistisch, imperialistisch – will man entscheiden, ob das harte Urteil des Arbeitervertreters (wenn schon nicht -erziehers) über seine Klientel wahr ist oder eine Verleumdung, muß man zunächst die Begriffe klären. Zwei der Attribute lassen sich entlang der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Geschichte vergleichsweise sauber definieren, das erste aber, »rassistisch«, lappt ins Mentalitätsgeschichtliche und bietet sich daher für Verwirrungen an wie die, in der etwa ein »Kapitalist« einfach – im Gegensatz zu einer Sozialistin – jemand ist, der an den Kapitalismus glaubt, ihn befürwortet, erhalten und bewahren oder in nichtkapitalistischen Gegenden erst noch durchsetzen will, anstatt einer, der über Kapitalbesitz verfügen kann.
»Imperialistisch« nennt man unter Marxisten, denen der zitierte KPF-Mann ja wohl angehört, die (praktische oder, hier grenzt schon wieder Mentalitätsgeschichte an, ideologische) Teilhabe an der militärisch vermittelten Markteroberung durch kapitalistische Nationalstaaten zum Zeitpunkt des Übergangs der liberalen Konkurrenzwirtschaft zur finanzwirtschaftlich geprägten monopolistischen.
»Kolonialistisch« nennt man (dies nicht nur unter Marxisten, sondern auch in den bürgerlichen Gesellschaftswissenschaften) die (praktische oder ideologische) Teilhabe an der zum Zweck der Ausbeutungserleichterung organisierten Unterdrückung von Menschen, die nichteuropäische und nichtnordamerikanische Erdteile bewohnen, also den abermals militärisch vermittelten ungleichen Tausch zwischen kapitalistischen und nichtkapitalistischen (nach einem historischen Stufenschema: vorkapitalistischen) Gemeinwesen.
Wenn Kolonialismus und Imperialismus also, wie von Casanova konstatiert, in der Arbeiterklasse Verankerung finden, dann kann einer wie er sich das nur so erklären, daß diese Klasse ihre eigene Unterdrückung und Ausbeutung leichter ertragen gelernt hat unter der Voraussetzung, daß die Kapitalisten die mittels Imperialismus und Kolonialismus erzielten Extraprofite in Teilen an die arbeitenden (und sogar die arbeitslosen) Besitzlosen weitergeben, etwa als höheres Lohnniveau, aufgestockte Sozialetats (die Extraprofite würden dann etwa zu einem gewissen Prozentsatz vom Staat als ideellem Gesamtkapitalisten eingesammelt und zur Ruhigstellung an die abhängigen Klassen im Innern der Zwingburg verteilt), lauter Schätzen mithin, welche die Arbeiterklasse andernfalls – wären sie nicht den Ärmeren anderswo abgepreßt und geraubt worden – durch riskanten Klassenkampf erstreiten müßte.
Intuitiv – geschult also weniger in politikwissenschaftlichen Seminaren als im täglichen Hin und Her der Meinungen unserer pluralistischen Info-Öffentlichkeit des frühen einundzwanzigsten Jahrhunderts – wird man sich sträuben, den »Rassismus« als dritten der von Casanova beschworenen Dämonen ähnlich makrobehavioristisch als ein bestimmtes kollektives Verhalten, das klar zu umschreibenden Zwecken folgt und dabei funktionale Mittel gebraucht, also ganz ohne Rekurs auf Einstellungen, Haltungen, Psychologisches zu definieren. Imperialisten führen Kriege, Kolonialisten versklaven Bevölkerungen, Rassisten, ja, was tun die und warum? Sie können irgendwen nicht leiden, das meint man zu spüren, und darin, daß sie dieses Gefühl, das keinen Denkvorgang braucht, ja diese in sein Joch zu zwingen vermag, dieses Vor-Urteil ist das Üble an ihnen, während der Imperialist und der Kolonialist seine Sache auch ohne Haß, als Technokrat, Söldner, kühler Dezisionist vertreten und besorgen kann. »Rassismus« schmeckt nach Subjektivität, nach dem Hegelschen »schlechten Besonderen«, aber diese Intuition vergißt etwas: Den Rassismus ohne große subjektvivisektionistische Eingeweideleserei zu objektivieren, ist gar nicht so schwer, man muß nur die Expertise derer zum Sprechen bringen, die er meint, die er verfolgt, die seinen Effekten (und den Handlungsweisen, deren Effekt er wiederum selber immer war) gegen ihren Willen und Nutzen ausgesetzt sind. Was das ist, Rassismus, wissen die besser als die Rassisten, welche es allzugenau gar nicht wissen dürfen, da von ihrer Seite her ein der Angelegenheit nicht äußerliches, sondern vielmehr unveräußerlich zentrales Element von Unterbestimmtheit, definitorischer (also nicht nur: moralischer) Unsauberkeit mitspielt. Denn wie bei jeder Sorte von Machterwerb und Machterhalt, Produktion und Verteilung, Praxis und Hexis, die sich auf Unrecht, das heißt auf eine nicht vertragsförmig von beiden Parteien ausgehandelte, aber auch nicht von interesselosen Dritten (etwa unbestochenen Ärzten, die einer Entmündigung und Vormundschaft zustimmen) eingerichtete Autoritätsbeziehung gründen, gilt auch bei der rassistischen Souveränität derer, die dafür markierte Menschen rassistisch betrachten und behandeln, die Daumenregel von Carl Schmitt, souverän sei, wer über den Ausnahmezustand entscheide. »Wer Jude ist, bestimme ich«, soll der antisemitische Wiener Bürgermeister Carl Lueger gesagt (und Göring ihm bei passender Gelegenheit nachgesprochen) haben. Das ist gar kein bloßer zynischer Witz, sondern es erhellt blitzartig ein wesentliches Merkmal von ideologisch aufbereiteten Machtgefällen unter Handelnden und Unterworfenen oder mit Unterwerfungs- bis Vernichtungsabsicht Bedrängten ganz allgemein: Rechtssicherheit ist mit Unrecht prinzipiell unvereinbar; sobald ich aber mit sauberen Definitionen arbeite, stelle ich die der Zurichtungssouveränität hinderliche Rechtssicherheit her, ob ich will oder nicht. Weil die Schreckensherrschaft und die Verfolgungskampagne nicht zu jedem Zeitpunkt jedes ihr unterworfene oder von ihr bedrängte Subjekt mit gleicher Intensität schurigeln, kontrollieren und niederhalten kann, bleibt sie nur so lange stabil, wie kein Individuum aus dem unterworfenen oder bedrängten Kollektiv sicher ausschließen kann, Objekt von Gewaltmaßnahmen zu werden. Allgemeines Wohlverhalten, Passivität, Eignung zum Verfolgtwerden der Machtlosen und Verfolgten ist in solchen Ordnungen oder Kampagnen (die, wie wir gesehen haben, keineswegs zwingend immer Binnenstrukturen oder -ereignisse von und in Gemeinwesen sein müssen, sondern auch deren Außenbeziehungen regulieren können) das Resultat unzähliger individueller Hoffnungskalküle (vielleicht komme ich noch mal davon), das heißt einer Art von statistifiziertem Blitzableiterkalkül (vielleicht erwischt es die anderen, wenn ich stillhalte), und genau das ist der soziale Sinn (wenn schon nicht immer der bewußt von einer Anstifterkabale gesetzte Zweck) solchen Terrors.40
Geht es mir als Imperialisten oder Kolonialisten darum, einen fremden Willen zu brechen, also den Algeriern die humanistische Irlandlösung aufzuoktroyieren oder den Südafrikanern eine betrügerische Handelsbilanz zu diktieren (statt die Algerier oder Südafrikaner etwa im vernünftigen, von Waffengleichheit geprägten Diskurs zu überreden), so muß ich meine Ausbeutungs-, Unterdrückungs- und Verfolgungspraxis zwar irgendwie begründen, weil sie nur als Kollektivanstrengung (nicht zuletzt einer Armee, die ich bei der Hand haben muß) funktionieren können und Kollektivanstrengungen ohne Kommunikation nicht unternommen werden; eine Kommunikation aber, die keine Begründungsbrücken zuläßt, das heißt ihre Sätze nicht miteinander verknüpft und keine Regeln kennt, wie man das tun könnte, kann sich keiner merken, koordinieren können wird man damit deshalb gar nichts. Rechtssicherheit aber, siehe oben, sollen meine Begründungen bitte auch nicht herstellen; was ich vorhabe, ist ja, andere mit Schrecken an die Wand des sozialen Raums zu drücken. Ich muß also einen Begründungszusammenhang finden, in den selber wiederum niemand eine vernünftige Kritik, im Gerichtsbild also (wegen des übertragenen Sinns von »Rechtssicherheit«) eine Verteidigungsstrategie einflechten kann, und ein solcher Begründungszusammenhang – in sich geschlossen genug, eine Kommandostruktur oder andere Koordinationsleistungen zu gestatten, aber auf keinen Fall vernünftig genug, daß eine Kritik sich daran festmachen ließe – kann nur ein Wahnsystem sein. Das tritt geschlossen auf und braucht keinen weiteren Tatsachenbezug als den der Motivlage; deshalb hat es beispielsweise auch noch niemals einen Rassisten im geringsten interessiert, daß die Varianz im menschlichen Erbgut oder wenigstens irgendeine Phänotypie-orientierte demographisch-ethnische Ordnung keineswegs auf die historisch beobachtbare Gewaltgeschichte abbildbar ist: Die Nationalsozialisten etwa fanden nicht erst mühsam durch Feldstudien heraus, welche Stämme des Ostens denn jetzt dem irgendwie schädelmessenderweise oder sonstwie anthropometrisch präzise zu bestimmenden Kollektiv »slawische Untermenschen« entsprachen, und leiteten dann ihre Feldzüge samt unterstützender Bündnispolitik aus den Ergebnissen solcher Nachforschungen ab, sondern die vom Ergebnis des Ersten Weltkriegs und den deutschen Kriegszielen für den Zweiten diktierte militärische Raumordnungspolitik sorgte umgekehrt dafür, daß bei der Vergabe von Lehrstühlen, Institutspfründen und Aufmerksamkeit diejenigen Rassenkundler auf dem Platz an der Sonne landeten, deren Ansichten zu den Eroberungshoffnungen und -verläufen jeweils am besten paßten.
Die Herrenrasse ist diejenige, die andere unterdrückt – es wird behauptet, sie herrsche, weil sie eine Herrenrasse ist, aber damit verhält es sich wie mit dem königlichen Geblüt, das auch nur so lange für königlich befunden wird, wie der betreffenden Dynastie noch jemand gehorcht. Vor den Opportunitäten und Notwendigkeiten der Fortschreibung der jeweiligen Unrechtspraxis hat noch jede szientistische oder juridische Kodifizierung einschlägiger Ideologien in die Knie zu gehen und sich modifizieren zu lassen.
Um uns also, wenn wir vom Rassismus sprechen, nicht an die Willkür und Wahnflexibilität der Täterseite ketten zu lassen, schlagen wir vor, den Begriff nicht unter Übernahme der von Rassistinnen und Rassisten selbst benutzten, multifungibel dezisionsbegünstigenden Vokabeln als »Negatives Urteil über andere, fremde Menschenrassen, aus dem das entsprechende Verhalten abgeleitet wird«, sondern umgekehrt als »Praxis- und Hexisbündel von Verfolgung, Ausschließung, Unterdrückung, Ausbeutung, das über flexible ethnocodierte Unterscheidungen systematisiert, koordiniert und gerechtfertigt wird«. Ethnocodiert heißt, daß die Leute, die wir im Sinn haben, ihre Schweinereien offen weder nach, beispielsweise, sexuellen oder standesmäßigen Sortierverfahren einrichten, sondern von mehr oder weniger kohärenten Kollektiven ausgehen, in denen es nach diesen anderen (gleichwohl für die rassistische Phantasieproduktion mit herangezogenen) Sortiersystemen obendrein Binnendifferenzierungen gibt (die sich dann etwa von den im eigenen Kollektiv eingerichteten auf eine Weise unterscheiden, welche es wieder sinnvoll erscheinen läßt, »die da« von »uns« zu sondern, am besten mittels irgendeiner Art Gewalt).
Phänomene, die man als heterogen betrachten und erklären müßte, wollte man sie rein rollen- oder handlungstheoretisch beschreiben, wie etwa einerseits die Jagd auf Pakistanis durch britische Arbeiterkinder in den Straßen von Manchester und andererseits die unfairen terms of trade im Rohstoffhandel Englands mit Staaten der sogenannten Dritten Welt, lassen sich mit der von uns vorgeschlagenen Definition zu einem (an den Rändern natürlich ausgefransten und intern nicht selten aufschlußreich widersprüchlichen, aber eben doch) zusammenhängenden Anschauungsobjekt bündeln, ohne daß man dabei gezwungen wäre, dem Irrtum aufzusitzen, man habe mehr und Tieferes erschaut als eben eine spezifische Symbiose von Ideologien eines bestimmten Typs mit Praktiken einer damit vermittelbaren Sorte.
Rassistische Kollektive, sagt dieses Rassismusbild, sind also nicht Menschengruppen, die vor allem aus irgendwelchen Gründen an bestimmten psychologischen Attributen und Dispositionen leiden, die sie daran hindern, bestimmte Mitmenschen als Menschen wahrzunehmen (wogegen etwa Sensibilisierungswochenenden, Ausflüge in die Dritte Welt unter Leitung geschulter Einfühlungsfachleute u.ä. helfen mögen), nicht Fremdenfeinde, die aus eigener Wurzelobsession etwa den Nichtbesitz von eigenem Grund und Boden bei Migranten zum Signal nehmen, diese zu verabscheuen (wie noch Georg Simmel glaubte41).
Wäre das eine geeignete Rassismusdefinition – wer kein Zuhause hat oder aussieht, als schätze er seins nicht, wird deshalb vom Fremdenfeind angefeindet –, so wäre völlig unverständlich, warum dieselben Rassisten denselben Leuten, wenn sie denn nun zuhause bleiben und sich redlich nähren, ihre Truppen auf den Hals schicken und das, wie Kipling, damit begründen, jene seien halb Kinder, halb Teufel, und man müsse sie erziehen (heute: Terrorbekämpfung, Menschenrechtsintervention). Das heißt, man will als Rassistin oder Rassist den als Opfer markierten Menschen nicht Bodenständigkeit beibringen (de facto treibt man sie ihnen ja eher aus), sondern einfach ungerecht mit ihnen verfahren: rauben, was sie haben, ein Recht nicht gewähren, das ihnen zusteht, wo der Rechtsbegriff symmetrisch statt nach Privilegien gedacht wird, und so weiter.
Der Verfolger ist keine Person mit fehlerhaften Denkprozessen, die ihn zwanghaft zur Gewalt verführen, sondern ein Goldjäger wie Cortez oder Pizarro, ein Opiumkrieger, ein Sklavenhändler, ein landgieriger Herero-Ausrotter, ein Handelserpresser, ein aufgrund der Überlegenheit seiner Waffen mit Begehrlichkeiten erfüllter, ein Protektionist leider auch bestimmter Errungenschaften der Arbeiterbewegung in den Metropolen schließlich, der sich all diese sehr verschiedenen Dispositionen unter Nutzung einer Ideologienfamilie zurechtlegt, die aus denen, welche da zum Arbeiten gezwungen, in ihrer Fruchtbarkeit reguliert, ausgerottet, abgeschoben oder sonstwie mißhandelt werden sollen, etwas zu machen, das solche Behandlung verträgt, weil es sich im Stande einer natürlich verminderten Rechtsfähigkeit befindet. Rassismus ist eine nicht allgemeine, sondern bestimmte Negation des Naturrechts zum Zweck der Verhinderung der Emanzipation spezifischer Menschen vom Naturzusammenhang. Sexismus ist eine andere: ein universal angelegtes Begründungsgeflecht wie das Naturrecht, welches selbst, wie wir gezeigt haben, keine deskriptive oder analytische Prägung, sondern ein normatives Konstrukt zum Zwecke der dialektischen, nämlich selbst über Naturbestimmungen laufenden Emanzipation vom Naturzusammenhang ist, bietet sich, eben weil es universal ist, für beliebig viele bestimmte Negationen an. Diese Beliebigkeit ist die logische der Gewalt selbst, ihr Willküraspekt, der sich um Rechtsgründe nicht scheren darf, soll sie Erfolg haben, und deshalb sind diese Negationen so hilfreich, wo Gewalt die Wirtschaft, die Politik, das Sozialverhalten bestimmt.
»Die Arbeiterklasse ist rassistisch, kolonialistisch, imperialistisch«, sagt der Mann von der KPF, als habe die Klasse ihm ihre Meinung gesagt, ob er sie hören wollte oder nicht. Richtig hätte er dagegen etwa feststellen können: Die Arbeiterklasse im imperialistischen, kolonialistischen und rassistischen Staat Frankreich macht dessen Politik mit, weil es offenbar niemanden gibt, der sie davon überzeugt, daß das (unterm Interessenkalkül) ein schwerer Fehler ist – eine Arbeiterklasse, die mit ihren Herren paktiert, behält ihren Handlungsspielraum in Konflikten mit diesen nicht lange –, daß das (unterm symmetrischen Vertragskalkül) ein Verbrechen ist; daß das ein Solidaritätsbruch und also ein Moment ist, in dem die Klasse sich selbst verkennt, weil sie sich aufführt, als wäre sie eine besitzende, nur weil die Herrschaft ihr vom Raub was abzugeben versprochen hat. Aber wer, könnte der Mann von der KPF erwidern, sollte so etwas denn leisten: Sie davon überzeugen, daß das ein Fehler, ein Verbrechen, ein Solidaritätsbruch ist, wenn sie die rassistische, kolonialistische, imperialistische Politik mitträgt? Die Gegenfrage hätte nur lauten können, wozu irgendwer eigentlich eine KPF braucht, wenn sie derlei nicht leistet, ja nicht einmal versucht – mehr Klarheit, als zwischen jene Frage und diese Gegenfrage paßt, kann sich niemand wünschen.
Belesenen könnte bei unserer Rassismusdefinition unbehaglich werden: Ihr stellt die Taten über die Ideologie und euch damit in die Tradition dessen, was man »historischen Materialismus« genannt hat – erinnert das nicht an Dimitroffs Faschismusdefinition und das nach 1945 zwei ganze Menschenalter hindurch auffallende Ungenügen aller Versuche, den Nationalsozialismus mit ökonomischen Herleitungen allein, mit dem theoretischen Besteck der Komintern zu zerlegen, zu begreifen? Verharmlost ihr nicht das Entsetzliche, schmiert ihr nicht die Brüche zu, die etwa zwischen dem gewiß oft ausreichend tollwütigen Antijudaismus der christlich-abendländischen Tradition einerseits und dem nationalsozialistischen Rassenantisemitismus andererseits auffallen, verschwindet nicht die Inkommensurabilität der Katastrophe unter euren umbrella terms »Unterdrückung, Verfolgung, Ausgrenzung, Ausbeutung«, die man alle noch verstehen kann, während das, was in Auschwitz geschah, nach dem Wort von Hannah Arendt vor allem wegen seiner »völligen Sinnlosigkeit« erinnert werden muß, die das Entscheidende, vorher nicht Dagewesene daran darstellt?
Im Gegenteil. Liest man uns richtig, werden die Unterschiede und Brüche, wird die Singularität gerade hervorgehoben, nicht zugekleistert. Das Singuläre war Auschwitz, die fabrikmäßige Vernichtung, die unzähligen operativen Einzelheiten ihrer Durchführung und (etwa militärischen) Begleitung, nicht der Verbaldreck von Streicher und Rosenberg, die Hetze oder die Tatsache, daß zur Vernichtung ein Kollektiv markiert wurde, auf das es früher schon andere Verfolgungen abgesehen hatten.
Man leugnet die Sinnlosigkeit nicht, wenn man darauf besteht, daß auch das Sinnlose seine Beziehungen zum Sinnvollen unterhält, etwa die, daß Schrecken zu verbreiten für ein Regime durchaus einen Sinn haben kann, der effektivste Schrecken aber einer ist, der sich nicht kalkulieren läßt, und der schlechtestkalkulierbare nun einmal der vollendet sinnlose. Die Logik ist nicht weniger zwingend, wo sie entsetzlich ist wie bei Kafka; auch der Wahnsinnige, hat Wolfgang Pohrt in diesem Zusammenhang häufig wiederholt, schläft, atmet und ißt, das ist nicht wahnsinnig.
Wenn man Erscheinungen wie den Nationalsozialismus in Begriffen denkt, wie wir sie hier bilden, verhält man sich wie jemand, der nicht an den Weihnachtsmann glaubt, aber zur Kenntnis nimmt, daß sich die Leute an Weihnachten Geschenke machen, gewisse Geschichten wiederholen, lesen, hören oder ihrer Aufführung beiwohnen, gewisse Lieder singen. Die Lieder gehören dazu; das, wovon sie handeln, gehört zu den (wahren oder unwahren) Möglichkeitsbedingungen des Festes in der Kommunikation (und im Selbstgespräch) der Beteiligten, weil es um etwas Soziales geht, aber dieses selbst ist ein Zusammenhang von Hexis und Praxis, nicht von Mustern, Strukturen, Ideen.
Wir glauben nicht nur die Aussagen im Mythus des 20. Jahrhunderts nicht, wir glauben nicht einmal, daß das Entscheidende an ihnen ihr Aussagecharakter ist, ihre propositionale Semantik. Daß sie so was überhaupt haben, ist die notwendige Bedingung ihres Gedruckt-, Gelesen- und Geglaubtwerdens, nicht die hinreichende.
Der erste Vorteil, der uns an unserer Vorgehensweise einleuchtet, ist ein praktischer: Etwas wie den Rassismus bekämpfen heißt, wenn man unserem Wortgebraucht folgt, die Gelegenheiten und Mittel zerschlagen, in rassistischer Koordination und Orientierung zu verfolgen, zu unterdrücken, auszubeuten, auszugrenzen. Was der Rassist auf dem Klo denkt, ist uns egal. Ans Verhalten der Leute kommt man, wenn man nicht Telepath ist, einfach leichter ran als an ihre mental erlebten Verhaltensdispositionen.
Der zweite Vorteil ist ein theoretischer: Wir müssen den Rassisten nicht glauben, ihr Zeug sei logisch, sondern können erkennen: Es ist historisch und daher nur insofern logisch, als Geschichte je nach Interessen und Zweckbestimmungen derer, die sie (bekanntlich »nicht aus freien Stücken«) machen, diesen adäquat oder inadäquat sein kann.
»Historisch«: Das Adjektiv packt die Verfolger anders an als etwa der Hinweis, ihre Verfolgungsbegründungen seien »sozial konstruiert«; die Erkenntnis, daß Rassenpolitik Sache des Gemeinwesens ist, hätte Hitler nicht beunruhigt, daß sie aber alles andere als eine übergeschichtliche anthropologische Konstante ausdrückt, sondern sehr konkrete Interessen- und Zweckbestimmungslagen geschichtlich gewordener und vergänglicher (also auch: abschaffbarer) Konstellationen im Gemeinwesen, hätte er mit aller Vehemenz bestritten.
Laurent Casanova steht von uns aus gesehen also auf dem Kopf: Er macht die Einstellung der Arbeiterklasse als mildernden Umstand für die verfehlte Politik seiner Partei geltend; wir werfen dagegen seiner Partei vor, daß sie der Arbeiterklasse jene Einstellung nicht saurer macht. Legt man die Elle des Historismus an, die wir einfordern, so ist es mit dem mildernden Umstand Essig: Gerade Kommunisten, vorausgesetzt, sie nehmen ihre Geschichte ernst, hätten wissen müssen, daß das Problem virulent war – und alles andere als neu.
Schon Marx und Engels hatten in den mittleren bis späten fünfziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts damit zu kämpfen, daß das englische Proletariat aufgrund seiner quantitativen und qualitativen Präsenz in den urbanen Zentren des Vereinigten Königreichs sowie seines politischen Bewußtseins- und Organisationsstandes (Chartistenbewegung, »Combinations« im Sinne Barbaulds etc.) einerseits das weltweit einzige schien, in dem Potential für eine sozialistische Massenpartei im Sinne des Programms der beiden vermutet werden konnte, andererseits aber das industrielle und koloniale Weltmonopol des Staates, in dem dieses Proletariat daheim war, massive koloniale Extraprofite abwarf, die schon zu diesem frühen Zeitpunkt das Überlaufen nicht weniger Teile der organisierten Arbeiterschaft zu opportunistischen Arrangements mit der landeseigenen Bourgeoise begünstigten.
Selbst so vergleichsweise integre Figuren wie der Chartistenpolitiker Ernest Jones verfielen abwechselnd in Kopfträgheiten und strategisch-taktische Schwankungen.
Hätten sich die beiden Begründer des theoretischen Kommunismus bei ihren Bemühungen, einen praktischen durchzusetzen, von den Launen und Denkschwächen des Proletariats beeindrucken lassen, so hätte sich die Spur ihres Wirkens nach ein paar Jahren sang- und klanglos verloren. Statt dessen entwickelten sie Perspektiven, geschichtliche vor allem.
Casanova scheinen sie im entscheidenden Moment völlig abzugehen; es ist, als kennte die Partei, für die er spricht, kein Gedächtnis. Noch vor dem Zweiten Weltkrieg hatte der sozialistische Internationalismus der organisierten französischen Kommunisten springlebendig ausgesehen: Die Pioniere der algerischen Emanzipation von der französischen Herrschaft, Leute wie Messali Hadj und Ferhat Abbas, erfuhren in den zwanziger Jahren nicht bloß propagandistische, sondern tatkräftig strategische und logistische Unterstützung von den Kadern der französischsprachigen Leninschen Avantgarde. Die wenig ruhmreiche Erklärung, die der KPF-Mann linksradikalen Studenten nicht öffentlich, aber doch hinter vorgehaltener Hand für den Schwenk anbot, und von der aus wir in diesem Kapitel der Interpenetration von historischen und politischen Makromaschinen auf die Spur kommen wollen, ist primär ein Reflex der Klemme, in welche sich der Weltkommunismus nach 1945 insgesamt gezwungen sah: Man war nicht mehr damit beschäftigt, ein Programm zu verwirklichen, sondern damit, Machtplattformen zu verteidigen, die man unter großen Opfern an Blut (und kleineren an kompromißverschobenen Inhalten) hatte erobern können. Kommunistische Politik in der Zeit zwischen Hitlers Niederlage und dem Zusammenbruch der Sowjetunion war weltweit weitgehend, wenn nicht ausschließlich, sowjetische Außenpolitik und daher diktiert von deren Imperativen. Wenn der Kreml die französischen Kommunisten als regierungstaugliche, in der sogenannten nationalen Verantwortung stehende, Verhandlungen mit den reformistischen und revisionistischen Sozialisten offenstehende Kraft brauchte, dann wurde sie eben eine solche Kraft. Was wog Verrat an den Autonomierechten der Algerier gegen, beispielsweise, die Auflösung der Komintern, die sich Stalin von den kapitalistischen Partnern in der Anti-Hitler-Koalition im Tausch gegen einen äußerst ärmlichen, instabilen, mitunter nur mit Panzergewalt aufrechtzuerhaltenden Ausbau der sowjetischen Einflußsphäre in Kontinentaleuropa hatte abhandeln lassen?
Eine detaillierte Schilderung, wie dies alles zuging und mit einem Vorspiel zusammenhing, in dem schon Hitler beinahe Erfolg dabei gehabt hätte, dem Generalsekretär, dem nicht nur seine Getreuen, sondern gerade auch Antikommunisten gern mythische Machtvollkommenheit und phantastisch unbeugsame Haltung andichten, die Einheit der kommunistischen Weltbewegung abzupressen, würde den Rahmen dieses Buches sprengen; da es kein antikommunistisches Interesse daran gibt, Stalin, der dämonisiert werden soll statt verstanden, gerade in seinen Schwächen realistisch darzustellen, und umgekehrt lange auch kein kommunistisches Interesse daran gegeben zu haben scheint, über diesen der Bewegung eher unangenehmen Mann überhaupt zu reden, ist hierzu bislang wenig Forschungsarbeit geleistet worden, was erste Überblicksversuche wie Harald Neuberts Die internationale Einheit der Kommunisten – ein dokumentierter historischer Abriß von 2009 nur umso wertvoller macht.
Ein Stalinbild, das seinem Gegenstand keine Zauberkräfte zuschreibt, wird sich so schnell nicht malen lassen, wer er war und was geschah, als er nicht mehr war, steht bei Isaac Deutscher und Kurt Gossweiler, die kaum jemand liest, verständlicher und klarer als in den Negativrepliken auf den hagiographischen Zeitstil seines unmittelbaren Herrschaftsbereichs, die den Personenkult beibehalten, das Vorzeichen wechseln und von allen gelesen werden. Der Defensivcharakter der fatalsten Stalinschen Appeasementmaßnahmen war freilich innerhalb der kommunistischen Bewegung selbst nicht so unbekannt, das Erschrecken über sie nicht so durchgreifend, wie Peter Weiss das anhand der Zustände seiner demoralisierten Helden anläßlich des Nichtangriffsvertrags zwischen Hitlerdeutschland und der Sowjetunion in Die Ästhetik des Widerstands schildert; es gab nüchterne, abgeklärte bis lange über Stalins Tod hinaus aufrechterhaltene Positionen gerade bei prosowjetischen Leuten42.
Der Widerspruch zwischen der Außenpolitik des sozialistischen Lagers und der sozialen Programmatik, der die politische Führung jener Staaten zu folgen erklärt hatte, schlug sich selbstverständlich nicht erst, ja nicht einmal in erster Linie in militärischen und raumordnungspolitischen Blamagen wie der algerischen nieder. Im Gegenteil: Die Unterstützung diverser, überwiegend nichtsozialistischer und allenfalls aus weltpolitischen Bündnisgründen sowie persönlicher Neigung einiger ihrer Schrittmacher oberflächlich sozialistisch getünchter, allzumeist kleinbürgerlich-nationalrevolutionärer Befreiungsbewegungen der geschundensten Regionen von Vietnam bis Angola, Mosambik bis Nicaragua, Südafrika bis Kuba wird man bis in die achtziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts zu denjenigen Handlungen zählen dürfen, bei denen die Sowjetunion und ihre osteuropäischen Alliierten und Auxilia den ursprünglichen Absichten Lenins und der Komintern, also etwa den Thesen zur nationalen und kolonialen Frage von 1920 oder Schdanows gleichgerichteten Erklärungen bei der Gründung des blassen Komintern-Ersatzes Kominform 1947, leidlich die Treue halten konnten.
Abermals Stalin bereits aber hatte Maos Rotchinesen während der frühen Machtkämpfe, in die jene verwickelt waren, im Stich gelassen, sich nach Maos dennoch erreichtem Sieg allerdings zu einem indes nicht sonderlich ehernen Bündnis bereitgefunden. Von dieser Unzuverlässigkeit nahm man bei den Nationalrevolutionären durchaus Notiz und verhielt sich entsprechend – Ägyptens Sadat setzte die Russen schließlich ebenso barsch vor die Tür wie der Sudan und Somalia (westliche Geheimdienste, Geschenke, Kredite und Versprechungen spielten dabei die erwartbare Rolle). Die antikolonial-revolutionären Aufschwünge in Indochina, auf den Philippinen, in Indien, Mosambik, Burma, Angola, Malaysia hielten nicht, was sie zu versprechen schienen, die arabische Schaukelpolitik machte aus Libyen oder Syrien Partner für die Sowjetunion nur in dem Maße, in dem die USA gerade bei beiden und ähnlichen Nationen schlecht angesehen waren, spätestens seit den sechziger Jahren und den Folgen des Koreakriegs konnte von einer Allianz zwischen der VR China und der UdSSR keine Rede mehr sein.
Als hätte die Weltgeschichte den Sowjetlenkern mit verbissener Hartnäckigkeit ausgerechnet Marxismus beibringen wollen, waren alle in diesen Episoden ausschlaggebenden Raumordnungs-, Militärberater- und Bewaffnungsfragen lediglich Begleitphänomene tieferliegender wirtschaftlicher Abweichungen jener Lenker vom kommunistischen masterplan; die Handelsbilanz der Staaten des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) mit den halbkolonialen, postkolonialen, der imperialistischen Handelserpressung entschlüpfenden oder ihr bereits entkommenen Ländern ebenso von der Absicht der Überschußerzielung gesteuert wie die der westlichen Staaten. Die Staaten des Vertrags von Warschau mußten sich vom Feind die terms of trade nicht nur mit diesem, sondern auch mit den Schwellenländern in einem Umfang diktieren lassen, die ihn nötigten, die je und je empfangene Tauschgewalt schlechter Westgeschäfte an die Abhängigen weiterzugeben, so gut es ging (auch wenn einige von diesen, wie Angola oder Mosambik, ihrerseits aus militärischen Erwägungen hier und da bezuschußt wurden; der größte Posten der sowjetischen Entwicklungshilfe war jedenfalls der zur Finanzierung von Kriegsgerät und Militärberatern).
Nationen sind, sobald es ihnen einigermaßen gutgeht, für Internationalismus weniger empfänglich als für Streit und Eroberung von Nachbarn; wo zwei aneinander angrenzen, kann man als Großmacht selten beide dauerhaft auf seine Seite ziehen; versucht man es, findet man sich bald in einer unbequemen und danklosen Vermittlerposition wieder.
Von der anderen Seite aus gesehen empfahl sich direkte Bündnispolitik in Gestalt der Herstellung neuer Abhängigkeiten auch nicht eben als Weg zum Heil; vielleicht war das einzig Gute an der Situation nach 1945 die Chance zur Schaukelpolitik für die berühmten »Blockfreien«. Die darf man allerdings nicht zu rasch in eins setzen mit dem noch viel berühmteren »Dritten Weg«, bei dem es sich vielmehr um allerlei unpraktikable Handwerkeleien zwischen treuherzig Sozialdemokratischem und pathisch Steinzeitlichem (man denke, als Extremrepräsentanten, an Allende und Pol Pot) handelte.
Hermann L. Gremliza hat dem proletarischen Internationalismus und Antirassismus, den der Osten verwaltete, im November 1989 einen Nachruf geschrieben, der als Appell an die SED zu groß gedacht war, um von den Adressaten verstanden zu werden, und der tragikomischen Geschichte eine erhabene Coda schreibt – die DDR, so riet er, den man »drüben« in Anerkennung seiner als KONKRET-Herausgeber und politischer Schriftsteller erworbenen Verdienste um die Bekämpfung westlicher Kalter Krieger an offiziellster Stelle einen »besonnenen BRD-Bürger« genannt hatte, sollte, da nun ihre Niederlage im Systemwettstreit mit der BRD weniger von der Geschichte als vielmehr von der Sowjetmacht beschlossene Sache sei, beschließen und verkünden:
»Ab 1. Januar 1990 steht es jedem Bürger der DDR frei, seine Staatsbürgerschaft abzulegen und in ein Land seiner Wahl auszuwandern. Zum gleichen Zeitpunkt öffnet die DDR ihre Grenzen für Verfolgte aus allen Teilen der Welt. Tamilen, Kurden, Ghanaer, Palästinenser, Chilenen, Panamaer, Iren, Armenier, demnächst auch ungarische oder lettische Kommunisten – sie und viele mehr sind eingeladen, die Plätze der Auswanderer einzunehmen und, wenn sie möchten, auf Dauer Bürger der DDR zu werden. Die Nationale Volksarmee wird aufgelöst. Da ohne den Rückhalt, den der Warschauer Vertrag bot, eine militärische Verteidigung unseres Staates gegen die westliche Übermacht nicht möglich wäre, können die der Rüstung und dem Kasernenleben gewidmeten Teile des Sozialprodukts für die Kosten aufgewandt werden, welche die Einübung der neuen Bürger an ihren Arbeitsplätzen verursachen wird. Die Kräfte der Staatssicherheit, die Volkspolizei, die Betriebskampfgruppen und die Justiz sollen eine neue, der Humanität verpflichtete Aufgabe erhalten: Sie werden dafür sorgen, daß dem auch in der Bevölkerung der DDR, denn es sind Deutsche, virulenten Rassismus keine Chance gegeben wird, daß Rassisten ausgespäht und zu hohen Strafen verurteilt werden. Wir wissen, daß die Bestrafung auch von miesester Gesinnung nur ein Notbehelf ist; zum Schutz unserer neuen Bürger wird uns aber zunächst nichts anderes übrigbleiben, als von diesem Mittel Gebrauch zu machen.«43
Man habe sich, so schließt die Erklärung, auf die »Pflicht besonnen, das humanistische Erbe der Aufklärung, der frühen Kommunisten, des Widerstands gegen Faschismus und Rassismus, das unsere Feiertagsreden bereichert hat, ohne Rücksicht auch auf schmerzhafte ökonomische Einbußen anzunehmen«44 – bessere Science-fiction ist nach 1945 auf deutsch nicht geschrieben worden; hätte der Vorschlag in der SED Leute gefunden, die ihn zumindest erwogen, diese Partei wäre ganz anders in die Geschichte eingegangen, als sie sich, reichlich ruhmlos, aus ihr verabschiedete.
Neben dem realsozialistischen gab es ab etwa 1968 in den reichen Staaten noch einen anderen linken Internationalismus, den der Neuen Linken nämlich, der dann mit dem realsozialistischen etwa ab 1972 diverse unterm Kennwort »Antiimperialismus« laufende Legierungen einging. Direkte Inspiratoren der Neuen Linken wie Herbert Marcuse, beeindruckt von Staaten wie Indien, spielten eine Weile mit der Idee, es möchte möglich sein, Regionen, in denen die kapitalistische Entwicklung nicht nach Maßgabe der von Marx in den hochindustriellen Staaten gewonnenen historischen Stufenfolge stattgefunden hatte, aus dieser Logik ganz herauszunehmen. Hört man heute Radiodiskussionen mit Marcuse zu diesem Nexus45, vernimmt man darauf ein spätes Echo der ganz ähnlichen Ansichten von Marx und Engels über Rußland – anders als viele ihrer späteren Anhänger, die aus der Ableitung der Entwicklung des Kapitalverhältnisses, die Marx geleistet hatte, das starre Schema »Ohne vorangegangenen Kapitalismus kein Sozialismus« machten, hielten die beiden Begründer der Theorie den Verlauf für möglich, daß aus der russischen dörflichen Produktion höhere Formen kollektiven Wirtschaftens ohne den Weg über die kapitalistische ursprüngliche Akkumulation sich würden entwickeln lassen.
»Sehen wir für einen Augenblick«, schrieb Marx in einem Briefentwurf an die russische Sozialistin Wera Sassulitsch 1881,
»von dem Elend ab, das die russische Gemeinde bedrückt, um allein ihre Entwicklungsmöglichkeiten zu betrachten. Sie nimmt eine einzigartige Stellung ein, die keinen Präzedenzfall in der Geschichte aufweist. Als einzige in Europa ist sie noch die organische, vorherrschende Form im Landleben eines ungeheueren Reiches. Das Gemeineigentum an Grund und Boden bietet ihr die natürliche Basis der kollektiven Aneignung und ihr historisches Milieu, die Gleichzeitigkeit mit der kapitalistischen Produktion, bietet ihr fix und fertig dar die materiellen Bedingungen der in großem Maßstabe organisierten kollektiven Arbeit. Sie kann sich also die von dem kapitalistischen System hervorgebrachten positiven Errungenschaften aneignen, ohne dessen kaudinisches Joch durchschreiten zu müssen. Sie kann den parzellierten Ackerbau allmählich durch eine kombinierte und mit Hilfe von Maschinen betriebene Landwirtschaft ersetzen, zu der die physische Beschaffenheit des russischen Bodens geradezu einlädt. Nachdem sie erst einmal in ihrer jetzigen Form in eine normale Lage versetzt worden ist, kann sie der unmittelbare Ausgangspunkt des ökonomischen Systems werden, zu dem die moderne Gesellschaft tendiert, und ein neues Leben anfangen, ohne mit dem Selbstmord zu beginnen.«46
Es liegt hier der sehr seltene Fall vor, daß eine gutbegründete Erwartung sich gleichzeitig zerschlug (ein kaudinisches Joch gab es dennoch) und andererseits (nicht immer in erfreulichen Formen) bestätigte (das Joch war kein kapitalistisches), nämlich infolge der Oktoberrevolution.
Allerdings wußte Marx auch, wie es ausgeht, wenn diese Art »eigener Entwicklung« von unverständigen Leuten mit kolonialer oder imperialistischer Zielsetzung ohne Rücksicht auf die im indigenen Gesichtskreis gegebenen Bedingungen induziert werden soll: »Die Engländer haben solche Versuche in Ostindien gemacht; es ist ihnen nur gelungen, die einheimische Landwirtschaft zu ruinieren und die Anzahl und Intensität der Hungersnöte zu verdoppeln.«47
Die gesellschaftliche Riesenanstrengung, die auf Marx und Engels hatte hören wollen, erzielte bei ihren Versuchen, das wirtschaftliche und politische Entwicklungsgeschehen eines Drittels der Erde zu beschleunigen und zu steuern, nicht wesentlich größere oder ansehnlichere Erfolge als der britische Imperialismus.
Vier Jahre nach Leonid Breschnews stolzgeschwellter Deklaration auf dem 25. Parteitag der KPdSU 1975, sein Land sei noch nie in dessen kurzer Geschichte international angesehener und geostrategisch günstiger positioniert gewesen, marschierte die Rote Armee in Afghanistan ein und ließ sich damit in einen Konflikt ziehen, der als Stellvertreterkrieg der Blöcke auf postkolonialem Grund und Boden begonnen hatte und in gewisser Weise noch heute nicht beendet ist. Sie verlor ihn, schwächelte bald bei schweren Provokationen seitens der Amerikaner (Grenada, Libyen) und gab schließlich den internationalistischen wie überhaupt den sozialistischen Geist auf.
Bereits während der Niedergangsphase (die historisch vielfältig mit umfassenderen, vielfach kontingenten Bedingungen als bloß geostrategisch-militärischen vermittelt war – schon die Startposition des neuen Blocks nach dem Zweiten Weltkrieg nimmt sich im Rückblick, und wenn man weiß, wieviel Stalin nicht nur mit der Auflösung der Komintern für den neuen cordon hatte bezahlen müssen, keineswegs so berauschend aus, wie die östlichen Selbstmotivationsreden seinerzeit suggerieren sollten) verlor der Sozialismus als Mantelprojekt für allerlei Antiimperialistisches und Postkoloniales durch die mangelhafte Rückendeckung, die auf ihn eingeschworene Drittweltbewegungen von der Sowjetunion erhielten, die aus befreiungsnationalistischer Sicht flagrante Doppelzüngigkeit seiner offiziellen Vertreter also, stark an Attraktivität. So wurden andere Optionen der propagandistischen Vereinheitlichung und Absicherung organisierten Widerstands gegen den Westen und Norden in den post-, neo- und klassisch kolonial geschurigelten Regionen populär – citoyen-ethnische, das achtzehnte und neunzehnte europäische Jahrhundert imitierende nationalistische Legierungen (Baath) zum Beispiel, vor allem aber religiöse Programme, unter denen als wichtigstes sicher der politische Islam angesehen werden muß.
Algerien beispielsweise, das Land, das die rechten und linken Franzosen, ihrer eigenen aufgeklärten und Menschenrechtstradition zum Spott, so miserabel behandelt hatten, fand sich 1992, ein Jahr nach der offiziellen Auflösung der Sowjetunion, am Rand eines Bürgerkriegs: Die islamische FIS stand vor der Machtübernahme, es gab gigantische Demonstrationen, der Ausnahmezustand wurde verhängt, Präsident Boudiaf wurde ermordet, die FIS schließlich gewaltsam aufgelöst. Die terroristische Politik der Islamisten in der Region setzt sich, wie anderswo, seither in immer neuen Permutationen, Eskalationen und dann wieder Abschwüngen fort, und wer auf ihnen sein Süppchen kocht, ist spätestens seit Frühjahr 2011 nicht einmal für den scharfäugigen Putin mehr hinreichend zu erkennen. Mit dem Angriff auf Libyen und den Irren, der dort soviel irrer als Bush Jr. anderswo auch wieder nicht regierte, starb das Völkerrecht der bürgerlichen Epoche, selbstverständlich, im Dienste von Demokratie (aber hat man in den USA nicht die Al-Gore-Stimmen unterschlagen?) und Menschenrechten (wer das glaubt, glaubt auch: England und Frankreich schicken ihre Atom-U-Boote übern Atlantik, bis die USA die Todesstrafe abschaffen). Daß es in Nordafrika starb, wie die Solidarität der Kommunisten mit den aus dem Kolonialismus Strebenden, ist nur allzu passend.
Der Verlust des einstigen Schutzherrn oder wenigstens Ansprechpartners hat den meisten Befreiungsbewegungen den politischen und sozialen, bei einigen der religiös engagierten auch den moralischen Rest gegeben (emanzipatorische Hoffnungen an so etwas wie die Hamas zu binden, ist nur unter logischen Verdrehungen und intellektuellen Selbstgeißelungen möglich, die noch die Bizarrerie der knotigsten Brezeln verstiegenster Apologetik aus dem Schatzkästlein der Sowjetgläubigen übertreffen müssen).
Seit dem Fall der Berliner Mauer 1989 sind einige der alten Brandherde des rassistischen Unrechts, der schmerzhaften Entkolonisierung und des Kampfes der abhängigen und sonstwie benachteiligten Staaten um das Recht auf eine eigene sozioökonomische und politische Entwicklung gelöscht oder vom Militärstiefel ausgetreten, nicht wenige aber brennen beschleunigt, viele schwelen trist vor sich hin. Vom befreiungsnationalistischen Streben ist vor allem viel völkischer Furor übriggeblieben, in den und um die failed states bringen die »trüben Völker«, von denen Hegel sprach, einander ums Leben.
Die USA haben in Panama und im Irak ehemals von ihnen gestützte Regimes beseitigt, um die Bedingungen für neue Arten der Großraumpolitik in eine für sie günstige Richtung zu treiben. China, das die ehemalige Kronkolonie Hongkong 1997 von den Briten zurückerhielt, versucht sein Glück mit einer dirigistisch-monopolistischen Kapitalismusvariante und einem dieser zugrunde gelegten, atemberaubend aggressiven Sorte Akkumulationsregime, um sein Staatseigentum zu schützen, die erste Mischung aus Mega-NÖP48und Stalinschen Industrialisierungsnöten; das einst so stolz blockfreie Indien spielt mit Pakistan Nord- und Südkorea und hält den Deckel mit Müh und Not auf ethnischen und religiösen Explosionen, die Jugoslawien (ein zu Systemkonfliktzeiten vom Westen in ausführlichen Gebeten gesegneter Kandidat für den dritten Weg) mit tatkräftiger Unterstützung westlicher Balkanordner den Garaus gemacht haben; ein paar antiimperialistische Bewegungen und Organisationen werden staatsfromm und arrangieren sich (so die Sandinisten in Nicaragua und die FMLN in El Salvador); Zaire konnte sich 1997 Mobutu vom Hals schaffen; Indonesien befreit sich ein Jahr später von Suharto, ohne daß deshalb für die Menschen in beiden Staaten goldene Zeitalter angebrochen wären; Südafrika wählt 1994 den vier Jahre zuvor aus der rassistischen Zwinghaft entlassenen Nelson Mandela zum Präsidenten; Israel bekommt ein verschärftes Intifadaproblem; Brasilien und Venezuela wählen paternalistische linke Politiker an die Macht. Der Marxsche wie Marcusesche Wunsch, ein neues Leben anzufangen, ohne mit dem Selbstmord zu beginnen, das heißt die Idee, es könnten vom Weltmarkt einerseits an die Kandare genommene, andererseits aber von vielen seiner schönsten Segnungen durch Handelserpressung ausgeschlossene Regionen einen eigenen Weg zu menschenwürdigen Wirtschafts- und Verwaltungsformen finden, sieht sich mal sanftem, mal weniger sanftem Druck ausgesetzt, veranstaltet von Souveränitätsgrenzen nicht achtenden Megakonzernen, westlichen und nördlichen Armeen, der Weltbank, der Welthandelsorganisation, dem Weltwährungsfonds und anderen Firmen und Organisationen, deren Namen keine ausgebeutete Näherin und kein unterdrückter Reisbauer kennt.
Da wir nicht der Dühringschen Gewalttheorie anhängen, meinen wir mit »Handelserpressung« nicht, daß bewaffnete Abteilungen des Imperialismus Tag und Nacht beim Be- und Entladen von Im- und Exportgütern der armen Staaten Wache stehen, sondern vielmehr den allbekannten Umstand, daß die für Statthalterzwecke kooptierten Eliten der kolonial, postkolonial, neokolonial ausgebeuteten Gegenden verläßlich dafür sorgen, daß die Reichtümer des Landes nicht zu eigenständigen nationalen Kapitalien akkumuliert (wozu heute entsprechend der seit Cecil Rhodes’ Tagen verstrichenen Zeit wesentlich mehr gehören würde als damals) oder gar sozialisiert und zu einer anderen Sorte Akkumulation genutzt werden, die den Brutalitäten der »ursprünglichen« entzogen wäre, wie sie in den Ländern der industriellen Revolution stattfand. Die Unterentwickeltheit ist kein bloßer Zustand, sondern wie die Entwicklung der Kapitalgeschichte in den Zentren ein von Besitzenden aktiv vorangetriebener Prozeß, ein Wort wie »Unterentwicklung« in diesem Sinn zu verwenden, wäre nicht sinnlos. Die mittels konkurrenzloser Zirkulationslenkungseinrichtungen wie der Organisation von Bretton Woods etablierten weltweiten Verkehrsverhältnisse brechen nicht nur nationale Souveränitäten, sondern mehr noch jede Aussicht darauf, daß diese einmal anderen, von den heute ausgebeuteten, abgekoppelten, unterdrückten oder verlassenen Menschen legitimierten Souveränitäten weichen könnten.
Die Dekolonisierung, die das zwanzigste Jahrhundert mit sich brachte, hat man sich im Weltmaßstab so prosaisch und wenig erhebend vorzustellen wie die Verwandlung von Leibeigenen in Lohnarbeiter – dem einzelnen Handel gegenüber frei, nämlich jeweils mit der Entscheidung konfrontiert, ob man ihn eingehen soll oder nicht, sind die Bewohner der benachteiligten Regionen insgesamt unfrei gegen die Entscheidung, überhaupt mit den stärkeren Parteien im Welthandel Tauschverhältnisse einzugehen – tun sie’s nicht, droht unmittelbarer Absturz in die Steinzeit; bei der inzwischen erreichten Populationsdichte also Massensterben. So übernehmen denn die postkolonialen Regimes, selbst die besten, die Rolle des ideellen Gesamtkrämers, der den schwachen Nationalökonomien gegenüber die von den reichen Staaten gestellten Bedingungen durchsetzt. Wie anders als tragisch soll man etwa die Rolle Südafrikas auf dem afrikanischen Kontinent nach der Apartheid nennen, wenn dieser Staat über eine quasifreihandelsorientierte, wirtschaftsaufsichtspaktartige Übereinkunft namens New Partnership for Africa’s Development (NEPAD) ab 2001 die großflächige Privatisierung der Infrastruktur und die Eingliederung der afrikanischen Ökonomien in die nordwestlich dominierte Weltwirtschaft vorantreibt wie nur je ein imperialistischer Einpeitscher, »regardless of the decline in terms of trade and the continuation of subsidy regimes in the Atlantic economies to the detriment of African commodities«49? Noch während der Nach-Apartheid-Staat Deregulierungsdruck auf seine afrikanischen Partner ausübt, erwischt es ihn selbst, und zwar in Bereichen, die für jede Industrie (und, wesentlich wichtiger, für jeden künftigen Versuch, nachhaltig, postindustriell, vernünftig zu wirtschaften) lebensnotwendig sind, den wissenschaftsaffinen nämlich: Das Budget des südafrikanischen Forschungs- und Technikministeriums für die Förderung der nationalen theoretischen und angewandten Wissenschaften ist, während wir dies schreiben, unter Breitenstreuungsgesichtspunkten wesentlich geringer als erforderlich, weil der Versuch, zu den reichen Nationen aufzuschließen, und die in diesem immer schon beschlossene Abhängigkeit von deren Forschungspolitik beispielsweise eine Zuteilung von Ressourcen für Big Science-Vorhaben nezessiert, die für den Westen und Norden anschlußfähig sind – als bekannt wurde, daß die geplante Radioteleskopieanlage Square Kilometre Array (SKA) entweder in Australien oder in Südafrika gebaut werden würde, schob das Ministerium einem Fonds 1,9 Milliarden Rand zu, der zwischen 2009 und 2012 unter anderem das Teleskop MeerKAT bauen soll. Volle 14 Prozent des Jahresbudgets der Behörde werden damit gleichsam als Wetteinsatz verwendet – wenn Südafrika den Zuschlag erhält, hat es sich gelohnt, wenn nicht, ist das Geld zwar nicht verschleudert, fehlt aber in der Breitenforschung.
Solche Zustände erzwungen und da, wo sie einmal etabliert waren, mit allen Mitteln gefördert und stabilisiert zu haben, ist die historische Schuld der reichen Länder, ist Kolonialismus, Imperialismus und ein Rassismus, der den ungerechten Tausch vom zwischenstaatlichen Handel mit Rohstoffen, Gütern, Arbeit bis in den binnenstaatlichen der reichen Länder mit der menschlichen Arbeitskraft nicht nur von Migrantinnen und Migranten übersetzt hat, und an Laurent Casanovas bösem Urteil ist soviel wahr, daß es die Nichtbesitzenden der reichen Staaten selbst waren und sind, welche die Anwesenheit der Konkurrenz aus den armen als Arbeiterinnen, Kleingewerbetreibende oder Unterstützungsempfänger bekämpfen und damit den bad cop im mit verteilten Rollen arbeitenden Schmierentheater des Ansaugens und Abstoßens von Migranten durch Kapital und Staat übernehmen, als perspektivlose Büttel der bestehenden Eigentumsordnung, die nicht einmal die Ausrede der südafrikanischen Regierung aufsagen können, die Dienste, die sie dem transnationalen Kapital leisten, seien wegen der Fürsorgepflicht für eine andernfalls vom Weltmarkt komplett entkoppelte Bevölkerung unabdingbar. Spricht man diese Dinge aus, wird man moralistisch mißverstanden. Wir wollen aber nicht das karitative schlechte Gewissen wecken, sondern den Konnex aufzeigen, dessen Sonderfall die Dummheit der Besitzlosen der reichen Gegenden im Blick auf die der armen bloß ist; wir hätten dafür auch einen anderen Sonderfall bemühen können, etwa den Kampf um die Sklavenbefreiung in Nordamerika im neunzehnten Jahrhundert: Die aus Irland eingewanderten Arbeiterinnen und Arbeiter in den nördlichen Vereinigten Staaten, in Städten wie Boston, New York und Philadelphia, waren alles andere als für die Sklavenbefreiung, erstens aus dem vulgärökonomischen Grund, daß befreite Sklaven aus dem Süden mit ihnen um Jobs im Billiglohnsektor konkurrierten, zweitens aber aus einem ideologisch vermittelten, den man mit den Worten beschreiben könnte »Mir geht es, auch wenn es mir besser geht als jenen, immer noch mies genug, ich fühle mich nicht in der Pflicht, mich für das Elend anderer zu interessieren, das ich als mit meinem nicht zusammenhängend empfinde, nur Lehrerinnen und Pfarrer sagen mir, ich hätte mich drum zu kümmern, und diese Gutmenschen verachten mich sowieso, das zeigt mir alles, was sie tun« – als Katholiken und Kelten waren die Iren den großzügig sich ums Sklavenlos der Schwarzen sorgenden Yankees ja wirklich unheimlich50; man erinnert sich an das gespannte Verhältnis zwischen den Schulhofrassisten und den kleinen Engelchen, die Tim und Struppi lesen, während ihre Eltern so voll der Milch der frommen Denkungsart gegen Migrantinnen und Migranten sind, daß sie sogar welche bei sich als Putzkraft beschäftigen.
Das Idiotische am irischen Arbeiterzorn und Vergleichbarem, jedenfalls aus der Sicht eines vernünftigen Interessenkalküls, ist allerdings, daß eine Arbeiterklasse, die es versäumt, zur Arbeiterbewegung zu werden und gegen Leute, die besser leben als sie selbst, bloß Ressentiments, Neid und Groll entwickelt statt politischer Strategien – Ressentiments, die dann durch andere gegen solche, die schlechter leben als sie selbst, bloß supplementiert werden, zu doppelt genähtem Schwachsinn, der besser hält, weil er doppelt genäht ist –, sich nicht zu wundern braucht, wenn alles, was sie dafür bekommt, Brosamen, Almosen, jederzeit wieder einkassierbare Liebesgaben vom Herrentisch sind, und entsprechend schwach auf der Brust ist die nordamerikanische Arbeiterbewegung, deren Zwang, sich aus heterogensten, leicht gegeneinander ausspielbaren ethnischen Pools zusammenzuraufen, ihr wie andere lokale Besonderheiten schlecht bekam, denn auch immer gewesen. Solidarität ist unteilbar – sobald ich sie solchen, die noch tiefer im Dreck stecken als ich, verweigere, reißt die Kette, habe ich mich selbst zu etwas zugerichtet, das Solidarität nicht übt, also auch nicht einfordern kann, zerstöre ich also die Symmetriegrundlage jeder nicht gewaltförmigen Vergesellschaftungsform und verliere den Anspruch darauf, den ungerechten Tausch zu kritisieren. Die klügeren Stimmen der Neuen Linken und ihrer ersten Zerfallszeit haben das früh artikuliert und waren doch zu schwach, zu denen durchzudringen, die um kurzzeitiger Friedensphasen im zermürbenden Kampf willen alles preisgaben, wofür sich zu kämpfen lohnte – Pohrt meinte schon 1974, die Vereinsamung der radikalen Linken in den Metropolen auch und gerade da, wo sie kleine Grüppchen, Kaderparteichen, Sekten bilde, resultiere
»daraus, daß die historischen Voraussetzungslose, unmittelbare Solidarität in den Zentren der Welt zerbrochen sind. Noch die ärmsten Teufel sind tendenziell nicht nur Opfer, sondern auch Nutznießer und – wo sie sich nicht wehren – Kumpane der Unterdrückung und Ausbeutung in deren zeitgemäßer Form. (…) Die Menschen in den Metropolen haben guten Grund, einander nicht leiden zu können und zu verachten. Als Schurken, die sie objektiv sind, tun sie gut daran, einander mißtrauisch zu belauern. (…) Die Unmöglichkeit unvermittelter Solidarität (…) macht sich gerade dort geltend, wo diese unmittelbar vorausgesetzt wird: in der Gruppe. Im objektiven Schuldzusammenhang schwebt über den Emanzipationswünschen, von denen die Gruppe lebt, die Angst vor dem Verlust der Privilegien. Unter dieser verwandelt sich Solidarität in ängstliche Vereinsmeierei. (…) Solidarität der Unterdrücker ist ein Widerspruch in sich selbst. Als Ersatz für gemeinsame Arbeit fungiert wechselseitige Hackerei. Weil keiner auf die Sache schaut, blickt jeder eifersüchtig nach dem anderen; weil keiner sich an einer Tätigkeit behauptet, behauptet sich jeder am andern.«51
Der allgemeine Nexus, dessen Sonderfall diese Scheußlichkeiten sind, läßt sich wie folgt bestimmen: Emanzipiert sich ein sozialer Zusammenhang von irgend etwas naturwüchsig Überlebtem (die französische Nation vom Feudalsystem; die französische Arbeiterklasse per Gewerkschaft und Partei von der unmittelbaren Knechtschaft des ungezügelten Kapitalismus; die Sowjetunion von ihrer halbfeudalen Vergangenheit und dem kapitalistischen Weltsystem; Südafrika vom Erbe der Apartheid), so gewinnt er dadurch einen Platzvorteil vor anderen, weniger emanzipierten Gruppen (die bürgerlichen Franzosen etwa vor den Deutschen der Kleinstaatenzeit; der französische Arbeiter vor dem algerischen; die Sowjetunion vor Indien; Südafrika vor den weniger großen, also nicht mit den Segnungen eines von Rassisten durchindustrialisierten Flächenstaates ausgestatteten Regionalkonkurrenten), einen Platzvorteil, den er sofort (und nicht einmal immer freiwillig, sondern getrieben von der Dynamik, daß ein verschenkter Vorteil schnell zum Nachteil wird) nutzen wird, was ihn aber einer neuen, darwinistisch regulierten Naturwüchsigkeit ausliefert.
Der Tatbestand ist abscheulich, aber immerhin geeignet, von den Napoleonischen Kriegen bis zu dem, was die Sowjetunion so alles getan und unterlassen hat, nicht wenig zu erklären, was auf dem Erdball vorgekommen ist.
Daß gerade erfolgreiche Befreiungsbewegungen ihren weniger erfolgreichen ferneren oder näheren Nachbarn zum Alptraum werden, läßt sich nirgends herzwürgender studieren als auf dem amerikanischen Doppelkontinent – während im achtzehnten Jahrhundert, als der organisierte Antikolonialismus seine ersten großen Erfolge erlebte (auf den dann hundert Jahre harte Reaktion und schließlich weitere hundert Jahre Breitendekolonisierung folgten), indem sich der Norden von den Engländern befreien konnte, emanzipierten sich, von diesem Erfolg motiviert, die im Zuge der spanisch- und portugiesischsprachigen Eroberung des Südens dorthin gelangten oder von jenen selbst auch wieder gewalttätigen Siedlern abstammenden »kreolischen« Bevölkerungen zunächst von den europäischen Mutterstaaten, bekamen aber rasch die auf eine stabile Hegemonie abzielende Raumpolitik des erfolgreicheren Nordens zu spüren und beließen ihrerseits gleichzeitig die indigenen Bevölkerungen ihrer bald als »Lateinamerika« geläufigen Gegenden im Zustand weitgehender Rechtlosigkeit52. Wie der Erdteil bald aussehen würde, erkannte als erster Simon Bolivar, der süd- wie mittelamerikanische George Washington und Großkolumbianer (Venezuela, Kolumbien, Panama, Ecuador sollten zum um Peru und Bolivien gruppierten »bolivarischen Block« gehören), die Vereinigten Staaten, bemerkte er, seien »von der Vorsehung dazu erwählt, Amerika im Namen der Freiheit zu quälen«.53 Der erfolgreiche Selbstbefreier tritt nicht nur die weniger erfolgreichen in den Dreck; er bedient sich ihrer obendrein für alle nur vorstellbaren eigenen Selbstbefreiungszwecke, weil er ohne levée en masse (nicht nur materielle, sondern auch ideologische Aushebungen sind mit diesem Wort bezeichnet) seine im Namen des ja nicht nur schimärischen, sondern immer wieder auch echten Fortschritts (Code Napoléon für Europa!) geführten Schlachten gar nicht gewinnen kann. Die französischen Bourgeois stützen sich auf ihre Armen, um dem Adel einen Schrecken einzujagen, die nordamerikanischen Dekolonisierer setzen land- und anderweitig besitzlose Truppen gegen die Engländer in Marsch, und alle bürgerlichen Befreiungsbewegungen tragen als eins ihrer wichtigsten Feldzeichen der Naturrechtslehre den »edlen Wilden« vor sich her, als hätten die rousseaugläubigen Franzosen keine Sklaven in Saint Domingue gehalten, als hätte Jefferson, der »Nature’s god« anbetete, nicht die Indianer als Mündel betrachtet, sondern als Bundesgenossen (und während wir dies schreiben, heißen amerikanische Raketen »Tomahawk«, amerikanische Hubschrauber »Apache«).
Die Selbstkritik am ethnischen Selbstmißverständnis der white man’s burden ist bei den Intellektuellen der Metropolen seit der Neuen Linken häufig als eine an der Aufklärung in Erscheinung getreten, die schließlich nicht einmal mehr dem Denkmodell »Kritik« über den aufgeklärten (und daher weißen, männlichen, eurozentrischen) Weg trauen will – dieses sei angewiesen auf ein »Kantisches Vermögen«, auf das sich die Herrenrasse samt Vernunft und Wissenschaft seit der Aufklärung ein bißchen zuviel einbilde, obwohl es sich nur um ein Symptom der »epistemische[n] Selbstmächtigkeit der europäischen Kultur« handle54, wogegen vielleicht nicht einmal eine (allerdings hin und wieder für aussichtsreich gehaltene »Indianisierung der europäischen Philosophien«55 helfe, weil, wie die Klügeren unter denen, die so denken, natürlich bemerkt haben, das Indianische, Afrikanische, Aboriginale, von dem da das Heil kommen könnte, selber immer nur von europäisch Aufgeklärten konstruiert wird.
Läßt man sich von soviel Ideengeschichte nicht blind machen, begreift man, daß das Entstehen des modernen Rassismus unter Rückgriff gerade auch auf aufgeklärtes, wissenschaftliches und pseudowissenschaftliches Gedankengut nicht etwa die in der Aufklärung selbst nistende Erbsünde des Herrenkollektivs belegt, sondern ein Ergebnis der keineswegs ideengeschichtlichen, sondern grausig realgeschichtlichen Gesetzmäßigkeit ist, die wir oben beschrieben haben: Die Aufklärung ist nun mal das Instrument einer erfolgreichen Befreiungsbewegung gewesen, die durch ihren Sieg einen Vorteil nicht nur über die geschlagenen Unterdrücker, sondern auch über andere, nun ihrerseits unterdrückbare Kollektive errungen hat, aber daraus folgt nicht, daß die Aufklärung (oder die Hüte der Pilgerväter mit ihren Schnallen, oder das Essen mit Messer und Gabel, oder Feuerwaffen, oder anderes, das Europäerinnen und Nordamerikaner kennen und gebrauchen) notwendig rassistisch ist, sondern nur, daß diejenigen, die ihr den Sieg über ihre Bedrücker verdanken, Rassisten waren oder wurden oder zeugten.
Dieselbe abstrus essentialistische Denkart, die sich nicht vorstellen kann, daß Wahnsinnige nicht durch und durch, immer und überall wahnsinnig sind, sondern manchmal auch ganz manierlich essen oder schlafen, kann offenbar nicht lassen, daß nicht alles, was eine Aufklärerin sagt oder tut, notwendig aufgeklärt ist und zwingend einer Essenz zugerechnet werden muß, die man »die Aufklärung« zu nennen hat – dabei gibt es doch wirklich wenig eindrucksvoller Unaufgeklärtes als Humes törichte Bemerkungen über »Neger« und Kants penible Systematisierung derselben.
Humes Schrift On National Character von 1753 gibt dem Unsinn die Richtung vor – da äußert der schottische Aufklärer den Verdacht, jene »Neger« seien, wie andere Menschensorten, den Weißen, zu denen er sich selbstverständlich zählt, von Natur aus unterlegen. Die Feststellung wird ganz nebenbei eingebracht, eher axiomatisch, als Prämisse und nicht als Konklusion, denn es geht darum, ein internes Problem der »Weißen Zivilisation« zu diskutieren: Es sei nicht gerechtfertigt, ärmere Menschen mit der Begründung von Bildungsgelegenheiten fernzuhalten, diese seien ohnehin blöde, wie man an ihrem Elend sehen könne (das teleologische Argument winkte noch aus der Sklavenhalter- und der Ständewelt herüber), im Gegenteil, so Hume, habe man immer wieder Beispiele dafür erlebt, wie Talent und Genie noch aus dem größten Elend emporgewachsen seien. Diesen sympathisch individualistischen Einwand gegen das Kastenwesen, den er, um nicht wie ein unverantwortlicher Radikaler auszusehen, der die evidenten Unterschiede des Lebensgenusses, der Hexis und Praxis bei verschiedenen menschlichen Großgruppen einfach leugnet, mit der abstützenden Versicherung stabilisiert, es sei ihm wohlbekannt, daß Menschenkollektive existierten, die noch niemals einen Shakespeare, Newton und ähnliche Riesen hervorgebracht hätten, beispielsweise das schwarze. Das Argument läßt sich zuspitzen zu: Wer nur einen einzigen Armen nennen kann, der nicht von Geburt an unrettbar blöde war und etwas dem Gemeinwohl irgendwie Zuträgliches geleistet hat, der muß die Bildungszulassungsbeschränkungen in Zweifel ziehen und jeder und jedem das Recht zugestehen, seine Mitmenschen von ihrem oder seinem Wert zu überzeugen.
Daß dieses Argument historisch ist, scheint sein Urheber nicht einmal zu ahnen, er hält es für ein überzeitlich-statistisches, etwa wie Mendels Erbgesetze, und darüber, was er gesagt hätte, wenn man ihm gezeigt hätte, daß sich die Population, die er als Gegen-Kontrollgruppe vorschlägt, seither als ebensosehr zur Hervorbringung von Leuten mit auf Leistung beruhendem Prestige erwiesen hat wie die armen Klassen Englands, läßt sich nur spekulieren – daß ihm keine »Neger« vorstellbar schienen, die von seinem Argument profitieren könnten, lag daran, daß er keine kannte, denen das möglich gewesen wäre, und das lag daran, daß sie zu ebenjenen Konkurrenzen wie selbstverständlich nirgends zugelassen waren, in denen er sie gewissermaßen a priori schlecht abschneiden sah.
Daß Hume selbst darüber nicht gestolpert ist, daß diese historische Grenze seiner Beweisführung ihre logische verdeckt, gibt mithin einen nicht unwichtigen Hinweis darauf, wie die Interpenetration von Normativem, Programmatischem einerseits und Analytisch-Deskriptivem andererseits, das den vielgeschmähten Universalismus der Aufklärung vom Naturrechtsgedanken her kennzeichnet, diesen je und je entlang von Bruchlinien zwischen Programm und Wirklichkeit in Partikularismen wieder aufzuspalten erlaubt, was zu tun seither denn auch keine Rechte auf der jeweiligen Höhe der Zeit unterlassen hat, assistiert dabei von zutiefst zweideutigen Gestalten aus zutiefst zweideutigen Abschnitten der bürgerlichen Emanzipation wie jenem Immanuel Kant, der in seinen Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen von 1764, welche das Ineinanderkollabieren von analytischen und evaluativen Vokabularen schon im Titel trägt, alle vorhandenen Unterdrückungs- und Unrechtsrealitäten zwischen von ihm als Rassen markierten Menschenpopulationen mit derselben Selbstverständlichkeit für naturgegeben erklärt wie jede Menge Empfindungsmuster anderswo – ein Verfahren, demgegenüber nun aber nicht in Neuauflage des Wiener Neopositivismus auf reinlicher Trennung dieser beiden Sphären zu bestehen wäre, die sowenig gelingen kann wie nur je die endgültige Scheidung von logischen und historischen Anteilen der Welterschließung bei einer Gattung wie unserer, deren Logik nun mal historisch ist und ihre stete Selbstverbesserung nur aus der Reflexion auf diesen Umstand gewinnen kann, sondern die normative und die analytische Seite der Aufklärung in ihrer wechselseitigen Ermöglichung zu erkennen wären – hätten sie nicht gewollt, was sie wollten, sie hätten nicht erkannt, was sie erkannten, eine Einsicht, die einen aber wiederum auch nicht davon dispensiert, in jedem einzelnen Aussagefall zu unterscheiden zwischen erstens Absichten, die richtig, und solchen, die falsch waren, und zweitens Erkenntnissen einerseits und Irrtümern andererseits, wofür sich als Maßstab aber wieder nichts anderes anbietet als der eigene Programm- und Erkenntnisstand, was nur beweinen oder auch bloß als unverrückbare Schranke jeder Aufklärung postulieren kann, wer vom menschlichen Handeln, Erkennen, Denken Wunderdinge erwartet, die uns die Aufklärung eigentlich hätte austreiben sollen.56 Wenn Michel Foucault in einer vieldiskutierten Volte in Die Ordnung der Dinge wie manch anderer aus der von Lévi-Strauss beeindruckten Strukturalisten-Generation, die in die erste Poststrukturalistengeneration übergehen sollte, Disziplinen wie der Ethnologie und der Psychoanalyse zutraut, die Vorstellung von wissenschaftlicher Objektivität, die im Gefolge Bacons von der Aufklärung vertreten und ausgearbeitet wurde, als »Gegenwissenschaften« durch die Konfrontation der Baconschen Induktionslogik mit aus deren Sicht a- und paralogischen Ordnungen wie dem Unbewußten oder nichteuropäischen Welterschließungs-Agencements zu erschüttern, so wird dabei geflissentlich übersehen, daß solche Erfolge diesen Disziplinen nur zugetraut werden können, wenn man diejenigen, die sich mit ihnen befassen, für fähig hält, aus der episteme herauszutreten, die sie als im europäisch-aufgeklärten Denken Erzogene doch nach Foucaults eigenem Bild gefangen halten müßte – Ethnologie und Psychoanalyse wären dann, man weiß nicht (und Foucault verrät nirgends), wie, in den Besitz jener Wertfreiheit, Objektivität (und wie die selbstlobenden Adjektive der hiesigen Forschungsgeschichte sonst heißen mögen) gelangt, die das Baconsche Forschen irrtümlich propagiert haben soll – irrtümlich, weil es so etwas wie Wertfreiheit, Objektivität etc. gar nicht geben kann, wenn der Strukturalismus (und mehr noch der Poststrukturalismus) recht hat (wobei dann noch die Frage aufbricht, was »recht haben« unter solchen epistemischen Spiegelkabinettvorzeichen überhaupt noch bedeuten kann). Das ganze Rätsel löst sich auf, wenn man die Dialektik zwischen dem Normativen und dem Induktiven anerkennt, die Bacon noch ignorierte, um das Induktive so absolut zu setzen wie später die Rousseaueaner das Normative. Die Wahrheit ist, daß Forschung und Wertung sozial nie unabhängig voneinander zu haben waren, Forschung vielmehr nur da Sinn produziert (in Luhmanns wertvoller Formel: Komplexität ihrer Umwelt reduziert), wo sie als Instrument verstanden wird, Wertung gegebenenfalls zu korrigieren, und Wertung nur da operationalisierbar (etwa mit Benjaminscher »Gesetzeskraft« aufladbar) wird, wo sie sich für Forschung, das heißt Informationsfluß von den Wertenden zum Bewerteten und umgekehrt, offenhält. (Wir werden das Problem im fünfzehnten Kapitel dieses Buches, das sich ausführlich mit der Frage der Normativität im Kampf um Definition und Wirklichkeit sozialen Fortschritts befassen soll, entsprechend vertiefen).
Bleibt man der eben begrifflich entfalteten Dynamik bei der genealogischen Auseinandersetzung mit der Ethnoperspektivik der Aufklärung eingedenk, kommt man dahin, den Unterschied herauszupräparieren zwischen einer aufgeklärten Position zum Rassismus auf der einen und dem, was der Autor Kant erzählt, auf der anderen Seite – ein Autor, der seine Gedanken in der Sprache der damals rückständigsten Region Kontinentaleuropas schrieb, der weiß Gott nicht zur Avantgarde zählt und dessen Rassenphilosopheme mit dem Programm der Aufklärung so wenig konform gehen wie sein Skeptizismus und Idealismus mit Spinoza oder den französischen Materialisten. Man kann ihn Aufklärer nennen, weil er sich nicht der Gegenaufklärung angeboten und ein paar vernünftige Gedanken über dies, das und das Vertragswesen gedacht hat, dann muß man aber Habermas auch einen Marxisten nennen, weil er von der Kritischen Theorie kommt.
Identifiziert man darüber hinaus aber den Rassismus auch noch als eine Unterströmung der Aufklärung, wird man das Bild plausibilisieren müssen, die conquistadores hätten in Amerika Hume und Kant gelesen statt das Kreuz aufgepflanzt, und am besten folgert man dann auch aus den Taten des Berliner Senats zu Zeiten der Koalition von PDS und SPD, der Sozialismus habe es wohl vor allem auf Sozialetatkürzungen abgesehen.
Kulturindustrie, lehrten Adorno und Horkheimer, sei der organisierte Umschlag von Aufklärung in Mythos, und was in Film, Fernsehen, Comic, Popmusik und populärer Literatur mit Rousseaus »edlem Wilden« geschehen ist, verleiht der These einen Anschein hoher Plausibilität. Rassistische, »orientalistische« (im Sinne Edward Saids), emphatisch projektive Imagines nicht durchweg abwertender Sorte spenden exotische Bilder, hier und da durchkreuzt von Erfolgen identitärer Repräsentationspolitik, derweil Minstrelsy und ihre Derivate nicht totzukriegen sind – Howard Keel, der Darsteller des urtexanisch-weißen Clayton Farlow in Dallas, begegnet einem plötzlich spät in der Nacht im Kabelfernsehen in War Wagon, einem Western von 1967 mit Kirk Douglas und John Wayne, als bärenstarker Indianer, und wenn man gerade glaubt, Hollywood und seine Kolonien hätten solche Unsitten inzwischen abgestreift, erkennt man, daß in letzter Zeit, das heißt seit das WTC-Attentat und die übrigen Anschläge vom 11. September 2001 den »Clash of Civilizations« zum kulturindustriellen Thema gemacht haben, vermehrt Leute indischer, pakistanischer, britisch-kolonialer Herkunft, deren Äußeres für weicher und dem kaukasischen näher erachtet wird, sympathische arabische Menschen spielen (etwa in der Serie Lost oder in Julian Schnabels Palästinadrama Miral von 2010). Der im Kino zu dem Zeitpunkt, da wir dies schreiben, kommerziell erfolgreichste Film aller Zeiten, James Camerons Avatar, tischt seinem Weltpublikum die Geschichte von den blauhäutigen Aborigines einer unberührten Welt auf, mit der sie, wie die alte Hippieformel säuselt, »im Einklang« leben, bis der rohstoffräuberische Kolonialismus mit Flammenwerfern, Raketen und Bodentruppen einfällt; der Fachmann Professor Paul Frommer von der University of Southern California hat für Cameron die Sprache der Wilden erfunden, die den fiktiven Mond Pandora bewohnen, während auf der Erde die Hälfte der 6.500 Sprachen, die Menschen heute noch sprechen, bis zum Ende des 21. Jahrhunderts verschwunden sein werden (der letzte, der noch Bo beherrschte, einen Dialekt, in dem einst die Leute auf den Andamaninseln in der Bucht von Bengalen miteinander redeten, starb, als Camerons Film die Kassen zu füllen anfing).
Daß die Geschichte von den Waldmenschen, die ihre Bodenschätze vor dem Zugriff der Herrenmenschen mit Waffengewalt bewahren, zahlreichen dem Opus äußerlich applizierten Anspielungen auf die jüngsten Irak- und Afghanistanfeldzügen zum Trotz eine reichlich altbacken-durchgekaute Anmutung abstrahlte, fiel in der Öffentlichkeit zumindest denen auf, die sich von der 3-D-Technik des Films nicht um ihr Unterscheidungsvermögen hatten bringen lassen, in der Tat knirschen die narrativen Gelenke von Avatar nicht zuletzt deswegen, weil die Gratiskritik an der neuen Weltordnung sich mit der großzügig beliehenen Anti-Vietnamkriegs-Science-fiction der sechziger und siebziger Jahre (unmittelbares Vorbild von Camerons Film dürfte Ursula K. Le Guins antikolonialistische Ethno-Parabel The Word for World is Forest von 1972 gewesen sein) so schlecht legieren lassen mochte, wie wiederum beide der noch wesentlich älteren rousseaunischen Mythopoesievom edlen Wilden schlecht und schief aufhocken.
Für den Kulturkreis, in dem die Losung der white man’s burden erfunden wurde und die zwischen dem britischen und dem nordamerikanischen Imperialismus für einige der geschichtsmächtigsten Ausprägungen des Rassismus verantwortlich ist, hat diese Mythopoesie sehr früh innerhalb der neuzeitlichen Vernunftgeschichte eine für mehrere Jahrhunderte (genau diejenigen nämlich, die das umfassen, was wir neuzeitliche Vernunftgeschichte nennen) genreprägende Gestalt in einem Buch gewonnen, das William C. Spengemann seines Schauplatzes wegen »the earliest American Novel«57 genannt hat. Virginia Woolf war der Meinung, »all women together« seien verpflichtet, der Autorin jenes Buches Blumen aufs Grab zu werfen, denn mit ihr »begins the freedom of the mind, or rather the possibility that in the course of time the mind will be free to write what it likes«.58 Vita Sackville-West nannte sie »a lovable creature, a born bohemian«,59 und von der Gegenseite bekam sie eine Sorte Haß ab, die unter den Auszeichnungen und Ehrungen ihres mutigen Lebens nicht die ärmlichste ist: Ein Bischof namens Burnett etwa fand sie »abominably vile«, ein Ungeheuer, das Religion und Tugend auf eine Art und Weise verhöhnt habe, die man nur »odius and obscene« finden könne.60
Diese Urteile, im Kontext und im Blick auf die Menschen, welche sie abgaben, charakterisieren die Dichterin Aphra Behn hinreichend; ihren Helden, den stattlichsten edlen Wilden der englischsprachigen Literaturgeschichte, charakterisierte sie selbst ebenfalls eindeutig:
»I have often seen and convers’d with this great Man, and been a Witness to many of his mighty Actions; and do assure my Reader, the most Illustrous Courts cou’d not have produc’d a braver Man, both for Greatness of Courage and Mind, a Judgment more solid, a Wit more quick, and a Conversation more sweet and diverting. He knew almost as much as if he had read much: He had heard of, and admir’d the Romans; he had heard of the late Civil wars in England, and the depolorable Death of our great Monarch.«
Sie meint Karl den Ersten, der bei der glorius revolution über die Klinge springen mußte – »and wou’d discourse of it with all the Sense, and Abhorrence of the Injustice imaginable. He had an extream good and graceful Mien, and all the Civility of a well-bred great Man. He hat nothing of Barbarity in his Nature, but in all Points adress’d himself, as if his Education had been in some European Court.«61Der »great and just Character«, der uns hier vorgestellt wird, ist die Haupt- und Titelfigur des Romans Oroonoko, or The Royal Slave, erschienen 1688.
Um ihn als den Nabel ihres moralischen Universums arrangiert die Verfasserin eine mehrsträngige Erzählung über politische, ökonomische, rassistische und sexistisch organisierte Machtbeziehungen: Oroonoko ist der Enkel eines afrikanischen Stammeshäuptlings (den sie in bewußter Analogie zur entsprechenden Institution des Gemeinwesens, aus dem sie kommt, »King« nennt). Der Alte und sein Enkel lieben dieselbe Frau, Imoinda, Tochter eines Heerführers in Häuptlingsdiensten. Sie wird in den Harem des Königs aufgenommen, will aber mit dem jungen Prinzen fliehen. Der Versuch scheitert, das Mädchen hat aber die Jungfräulichkeit verloren und wird als Sklavin verkauft, wovon Oroonoko indes nichts weiß, da sein Großvater ihm vorlügt, sie sei gestorben (dies sei, erläutert die Dichterin, ein schamhafter Versuch des Königs, die Ehre der Frau zu schützen, die er liebt, denn der Tod ist, wo die drei leben, eine geringere Schmach als die Sklaverei).
Als Aufständischer gegen die weißen Eindringlinge metzelt Oroonoko eine Weile ruhmreich vor sich hin, wird aber schließlich von den Engländern gefangen und nach Surinam in die Knechtschaft verschleppt, wo er Imoinda wiederfindet. Beide sind inzwischen christlich getauft (»Cäsar« und »Clemene«). Sie wird schwanger, er spricht als Bittsteller bei den Herren vor: Dürfen sie nach Hause? Das wird nicht gewährt, so wiegelt er die anderen Sklaven auf, deren Rebellion der Übermacht aber unterliegt. Der Gouverneur bricht ein Amnestieversprechen, Oroonoko beschließt, den Zwingherrn zu töten, weiß aber, daß Imoinda damit ihr Leben nach dem Sippenhaftungsprinzip verwirkt hätte, und schließt daher mit ihr einen Selbstmordpakt – er bringt sie um und wirft sich als Kamikaze in die letzte Schlacht, die er jedoch überlebt. Der Tod der Liebsten aber hat ihn gebrochen; die Engländer finden ihn bei ihrem Leichnam, ergreifen ihn und foltern ihn zu Tode.
Aphra Behn läßt den Edelmut ihres Helden nicht allein in den Taten, die er während seines kurzen Lebens vollbringt, und am stoischen Ertragen der Hinrichtung aufscheinen, sondern etabliert, wie unser oben aufgeführtes Zitat zeigt, seinen hohen menschlichen Wert auch – den aufgeklärten Werten der Literaturepoche gemäß, in der sie schreibt – übers Lob seiner guten Manieren und kosmopolitischen Gewandtheit im Umgang; die Karten dieses indigenen Übermenschen sind so gezinkt wie die des schottischen Insurrektionisten William Wallace in Mel Gibsons Braveheart von 1995, der Latein und Französisch spricht: Damit wir einsehen, daß er uns gleichgestellt sein sollte, muß er uns überlegen sein, denn er besitzt dieselbe Bildung, aber einen an seinen Handlungen ablesbaren höherentwickelten Charakter.
Der Typus ist sozusagen die personifizierte Naturrechtslehre – die pia fraus einer sehr sympathischen Menschenfrömmigkeit, die einem primitiven Stand der Produktivkräfte angemessen ist: Man lügt die Menschen so schön, wie sie erst sein können, wenn man die übelste Not von ihnen nimmt. Wir legen Wert darauf, daß man inzwischen weit darüber hinaus sein kann, insofern Produktivität und Verkehrswege inzwischen keine Not mehr als naturdiktiert rechtfertigen (»In Afrika sind die Verhältnisse eben so«) und noch in den entlegensten Winkeln der Erde nur dann Hunger herrscht, wenn die Hungernden dort der politischen Macht entbehren, Abhilfe zu schaffen – niemand muß (und niemand sollte) mehr, wie das etwa in der ersten Phase der Diskussion über die nordwestlichen Industriestaaten als »multikulturelle Gesellschaften« von wackeren Gegnerinnen und Gegnern der Xenophobie vertreten wurde, dem fremden Menschenschlag irgendwelche Fähigkeiten zur (kulinarischen, kulturellen, arbeitsethischen) »Bereicherung« der wohlhabenden Sozietäten andichten, weil man die, die ihm angehören, anders nicht aufnehmen und gerecht behandeln müßte. Wir sind reich genug.
Als Enkomiastin des Afrikanerhäuptlings hat Behn genau besehen daher auch nicht ein Plädoyer dafür geschrieben, die Spitzen der Gesellschaft der Wilden dazu einzuladen, bei den Zivilisierten charakterlich-seelische Entwicklungshilfe zu leisten, wie sie das Klischee der sehr viel späteren nostalgie-de-la-boue-Kunst von der impressionistischen Südseemalerei bis zu Mays Winnetou transportiert, als vielmehr mit Oroonoko eine phantastische Reflexionsinstanz für die liberale Subjektkonstitution jener Bürgerklasse geschaffen, der sie selbst angehörte. Behn war eine stolze, geistreiche Frau, und weil Frauen in vorbürgerlichen Zeiten so nicht sein sollten, bediente sie sich der Fiktion eines stolzen, geistreichen Außerbürgerlichen, um darauf zu insistieren, daß das, was nicht sein soll, dennoch sein könnte. Ein Exkurs über Leben und Werk dieser Frau, den wir hier einschieben wollen, ersetzt unserer Meinung nach lange Meditationen darüber, was für eine Sorte Mensch das ist, die freie Menschen unter Bedingungen aussichtsreicher Emanzipationsbewegungen träumen und ihre unfreien Menschen auf diese Weise für die Sache der Freiheit begeistern kann. Die folgende Abschweifung sei uns also als Vertiefung ins Problem gedacht, wie die Privilegierten dazu gebracht werden können, an der Brechung sozialer Hierarchien mitzuwirken und den Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit zu fördern.
Als Lyrikerin, die Frauen und Männer gleichermaßen zu bedichten wußte (»All trembling in my arms Aminta lay, / Defending of the bliss I strove to take, / Raising my rapture by her kind delay, / Her force so charming was and weak«)62 wußte sie genug darüber, wer sie sein wollte, schrieb von gegen- wie gleichgeschlechtlicher Sehnsucht, aber auch von Impotenz und Vergewaltigung und nutzte die im komplizierten England des siebzehnten Jahrhunderts allerwege aufbrechenden Spielräume der privaten wie der öffentlichen Politik, sich zu erfinden und zu behaupten, zwischen republikanischem Interregnum, monarchischer Restauration und – vor allem kolonialem – Handelsabenteuer. Die kulturelle Membran zwischen diesseitigem höfischem Machiavellismus und einem jenseitig-verfeinert-verspielten, modern lebensästhetischen Feenreich der erotischen Intrige war dünn wie selten irgendwann irgendwo anders.
Ein vom Charme der dadurch ermöglichten Künste eher vergrätzter als bezauberter, höchst widerwilliger Bewunderer der Schönheit von Liedern wie ihren, der züchtige Bischof Burnett, den wir oben schon Geifer spucken ließen, hat diesen Liedern 1682 in einem Brief an eine gemeinsame Bekannte nachgerühmt, sie seien durchaus nicht selten »sehr zart«, der Zusammenhang zwischen Regelverletzung und Verfeinerung, also Ausarbeitung neuer Regelsysteme, war den Reaktionären damals klarer als 1968 den Kulturrevolutionären.
Die feudale Ordnung jedenfalls, die biologisch-theologischen Geblütsrechtfertigungen, die den Adelsprivilegien so unverzichtbar waren wie seither jeder sexistischen oder rassistischen Unrechtsaffirmation, war fadenscheinig genug geworden, daß man im nachhinein nicht einmal ermitteln kann, ob Aphra Behn, 1940 als Aphra Johnson unweit von Canterbury geboren, selbst von hohem oder niederem Stand war – die Mutter jedenfalls diente als Amme einer nichtadligen, aber in dieser Aufstiegsära der Bürger hochangesehenen Familie namens Culpepper aus Kent. Neun Jahre war sie alt, als König Charles I. 1649 hingerichtet wurde und der »Lord Protector« Oliver Cromwell seine Commonwealth-Republik ausrief. Mit Anfang Zwanzig bereiste sie, vermutet man, mit ihrer Familie Surinam und machte dort jene Erfahrungen, die sie später in Oroonoko literarisch verarbeitet hat. Wenig später, nach Europa zurückgekehrt, heiratete sie einen holländischen – vielleicht auch deutschen – Herrn namens Behn, dessen Nachnamen sie berühmt machte und der während der Pest von 1665 gestorben sein soll.
Behns zweiter Mann war ein Abenteurer, sie selbst diente Charles II. als Spionin, überstand Dreck, Hunger, Krankheiten und brachte es schließlich als Theaterautorin zu Erfolg und Vermögen. Das erste ihrer fast zwanzig Theaterstücke, The Forced Marriage, war eine Tragikomödie, zu deren Titelthema sie den Zeitumständen und ihren besonderen emanzipatorischen Bestrebungen entsprechend immer wieder zurückkehrte; wenn auch zumeist eher in Gestalt von Burlesken. Kurz nach der Thronbesteigung des Restaurationskönigs Charles II. hatten die Theater unter den neuen Bedingungen wiedereröffnet, Frauen spielten jetzt Frauenrollen, und ein »Zeitstück« war fast zwangsläufig eine erotische, aber auch politische Intrigenkomödie.
Wie wir im vorigen Kapitel aus Anlaß des Schicksals von Olympe de Gouges und ihrer Feminogironde schon erwähnt haben, erscheint es Leuten, die eine identitäre Emanzipationspolitik vertreten, häufig nicht rätlich, den Autoritäten in mehr als dem einen Punkt entgegenzutreten, den sie durchsetzen wollen – so war Olympe de Gouges Feindin Robespierres, und Aphra Behn, die dafür lebte und arbeitete, die überkommenen Naturcodefesseln ihres Geschlechts abzustreifen, war treue Royalistin und Absolutistin, die zwar von den allgemeinen, durch die Rechte, welche das Bürgertum dem Adel abrang, geöffneten Spielräumen profitierte, sich paradoxerweise aber gegen ebenjene Bürger wandte, weil das prekäre Patt der die Gesellschaft im großen Ringen transformierenden Kräfte, zwischen dessen Vektorpfeilspitzen das oppositionelle Kulturschaffen in allen Epochen besser gedeiht als in eindeutig parteilicher, und sei’s umstürzlerischer Konstellation, nur von Seiten des Königshauses garantiert werden konnte. Dazu kam, daß das radikale Bürgertum seinem Arbeitsethos entsprechend – und aus berechtigtem Haß auf die sadomasochistische Herrschafts-und-Unterwerfungs-Erotik adliger Libertins – stark disziplinargesellschaftliche Neigungen hatte und das Sexuelle, also das Persönliche, unter Verschluß hielt, das für Leute wie Behn gerade die Schnittstelle zwischen ihren Autonomiesehnsüchten und ihren Kulturchancen bildete. So war denn ihre Literatur, ohne bürgerlichen Aufbruch unmöglich, schon so antibürgerlich wie späterhin das Treiben der Boheme, und ihre antipuritanischen Dramen machten ihren Namen nicht nur Landpfarrern, sondern auch Pfeffersäcken unangenehm. Den größten Ruhm erntete sie mit The Rover von 1677, der Geschichte des Rauhbeins und Herzensbrechers Willmore und seiner stürmischen Liebe zur selbstbewußten Hellena, die folgenlose Freuden sucht, aber statt dessen Katzbalgerei und Verwechslungsexzesse erlebt – man spielt miteinander, verwechselt einander, die Frauen ziehen Hosen an oder verkleiden sich als Wahrsagerinnen, Handlesekunst und andere Körperdeutereien werden durchdekliniert.
Das Arrangement verrät überall sowohl die souveräne, ironische Übersicht der ehemaligen Geheimagentin wie auch die formbewußte Leidenschaft der Lyrikerin. The Rover wird von Literarhistorikern gelegentlich als bloße Bearbeitung, ja Plagiat eines Zehnakters von Sir Thomas Killigrew bezeichnet, die signifikanten Veränderungen der Abläufe, der Figuren – vor allem der Frauenrollen – und des Tonfalls aber, die Behn am »Original« vornahm, machen diese Einordnung nicht weniger lächerlich als die Behauptung, die Fernsehserie Dallas beruhe auf geschickten Diebstählen bei Balzac.
Die Zeitumstände der Entstehung von Behns Dramen blieben ihrerseits durchweg dramatisch: Gesellschaftliche Spannungen im Gefolge der weitverbreiteten Angst, der katholische Bruder des Königs könne die Thronfolge antreten, führten zu Hysterien wie der um den Popish Plot 1678, eine angebliche Katholikenverschwörung thronräuberischen Ausmaßes – im Prolog eines Stücks von Behn heißt es bedauernd, all diese neumodischen Verschwörungen würden die Leute in unangemessener Weise vom Theater ablenken.
James, Duke of York, der katholische Königsbruder, der von den antikatholischen Gerüchten an der Thronfolge gehindert werden sollte, war Schutzherr der Theaterbühnen, an denen Behns Stücke aufgeführt wurden; deren Verweigerung jeder antikatholischen Zeitstimmung aber war kein »Wes Brot ich eß«-Opportunismus, sondern Ausdruck von Behns Überzeugung, daß der Krämergeist der Whigs dem höfischen Leben mit seinen erotischen und politischen Möglichkeiten den Garaus machen wollte und man das verhindern mußte. 1684 veröffentlichte sie die Love Letters between a Nobleman and his Sister, einen Brief-Schlüsselroman über einen aktuellen Whig-Skandal, und als James nach dem Tod Charles’ 1685 gegen den Widerstand der Antikatholischen wirklich König wurde, jubelte sie.
1687 schließlich fand die Uraufführung von The Emperor of the Moon statt, neben Mary Shelleys späterem Frankenstein ein zentrales Stück britischer Proto-Science-fiction, dessen befruchtende Wirkung über die »Scientific Romance« bis in die – wie Behns Stück – von der Commedia dell’arte beeinflußten Jerry Cornelius-Erzählungen reicht, in denen während der sechziger und siebziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts Michael Moorcock, den wir im vorherigen Kapitel als einen der wenigen männlichen Parteigänger von Andrea Dworkin kennengelernt haben, die von Godard über Harlan Ellison bis heute nachwirkend fruchtbare »New Wave« der Pop-Phantastik kodifizierte. Behns Harlekinade sucht unter anderem auch spielerisch die Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften – »Galileus und Kepler« treten auf (die Dichterin hat Fontenelles Entretiens sur la pluralité des mondes ins Englische übersetzt und eigene kopernikanische Spekulationen verfaßt). Ein Jahr später erschien Oroonoko, ein weiteres Jahr darauf, 1689, starb Aphra Behn. Die Geschichte ihres Lebens wurde, verfaßt von »einer Angehörigen des schönen Geschlechts« – vermutlich ihr selbst – erst 1698 im Vorwort eines Bandes mit ihren Erzählungen weiteren Leserkreisen bekannt und ist seither so vielen verschiedenen Deutungen zugeführt worden wie ihr Werk, darunter nicht wenigen sentimentalen, die nichts an ihr und ihrer Arbeit erkennen wollen als nur das philanthropische. Als bloßen Anti-Sklaventraktat in narrativer Form aber möchten wir Oroonoko gerade nicht verstanden wissen (was übrigens die neuere akademische Literaturwissenschaft ganz ähnlich sieht), sie selbst war schließlich auch mit einem Menschen verheiratet, der mutmaßlich vom Sklavenhandel profitiert hat. Der Witz an Oroonoko ist das besondere Spiel, das sie hier mit dem Naturrecht treibt, verdichtet in der Gestalt des wilden, aber herausragenden Individuums: Sie entwendet es den Bürgern und zeigt, wie seine Verallgemeinerung etwa über die von jenen Bürgern respektierte, ja vielfach (man denke noch an Kant und Hume) verstärkte Rassengrenze hinaus aussehen könnte. Politisch, wir wiederholen das, war sie keine citoyenne, stand sie gegen die Bürger, deren Herrschaft ihr als Sinn der Geschichte und Höhepunkt der Freiheit sowenig einleuchten wollte wie Shakespeare, Goethe oder Voltaire, die sämtlich Absolutisten, welche die Vorrechte des Adels sowenig schätzen wie die Macht der Kapitalbesitzer (den Hinweis auf diese Reihe samt Erklärung ihrer Binnenlogik findet man in ausgearbeiteter Form in den Maßgaben der Kunst ihres Dichterkollegen und späten politischen Nachfahren, des sozialistischen Absolutisten Peter Hacks). Sie alle postulieren den König als Autorität, der einfach Platzhalter ist für »Staatshumanismus« (Hacks), als verkörperte volonté générale im bewußt gesetzten Gegensatz zur vulgärdemokratischen, von den Partikularinteressen des je und je »schlechten Besonderen« fragmentierten volonté de tous. Die Programmatik, die sich aus der in Oroonoko verschlüsselten Utopie von Freiheit und Würde herauslesen läßt, ist also tatsächlich antirassistisch und antisexistisch, aber eben nicht gleichmacherisch und an der gleichmachenden Verflüssigung der gesellschaftlichen Verhältnisse durchs Geld demonstrativ desinteressiert, ja sogar leicht angewidert davon – wenn alles so liefe, wie Behn das wünschen läßt, lautet der Zustand: Alle sind König, wenn sie sich in die Vernunft schicken, alle halten ihr Wort, Locke und Rousseau geben einander die Hand, Hobbes wacht über beide, daß gilt: pacta sunt servanda, und summarisch kollektive Geschlechter- wie Rassenungleichheiten sind in einer von der Staatsmacht garantierten Meritokratie abgeschafft.
An Ideen wie der »von der Staatsmacht garantierten Meritokratie« und ähnlichen Konzepten, vom Sozialstaat bis zur Verstaatlichung wichtiger Produktionszweige, haben Linke seit dem Zusammenbruch der Staaten des Warschauer Vertrags in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts und dem diesem als eine Art Vorbeben im Rahmen einer allgemeinen Krise des sozialistischen Paradigmas vorangegangenen Aufkommen der »Neuen Sozialen Bewegungen« in den Siebzigern und Achtzigern (Ökologie, Frieden, Minderheitenbewegungen, Identity) breite und fundamentale Kritik geübt; die »multikulturelle Gesellschaft«, die in den reichen Ländern dann von ebenfalls staatlichen Garantien wie der doppelten Staatsbürgerschaft, geplanten Migrationsverwaltung et cetera abgesichert sein sollte, erwies sich aber in ihrer ersten aus den unterschiedlichsten realpolitischen und propagandistischen Gründen diskutierten und forcierten Krise als etwas, das sich auch vom rotgrünsten Staat nicht gegen gesellschaftliche Kräfte durchsetzen ließ, deren Interessen auch sonst vom Arbeitsmarkt bis zur Stadtplanung den Ton angeben.
Der Versuch fürsorglicher linker Repräsentationsspezialistinnen und -spezialisten, die Angelegenheit als Kulturkampf des Kosmopolitismus auszutragen, gegen allerlei Leitkulturpappkameraden, welche die Rechte auch bald bereitwillig aufstellte, wurde schließlich von geschickteren und zeitgemäßeren Rechten mit einer kulturalistischen Generalüberholung rassistischer Ideologien beantwortet; wenn die Gene denn nicht schuld sind an der Unruhe in den Problemvierteln und Banlieues, dann ist es eben der Islam, irgendwas paßt immer, Ideologien sind selten wegen Umbau geschlossen, und daß man da, wo die Leute keine Perspektiven haben, genügend Atavismen findet, um abermals seufzend the white man’s burden auf sich zu nehmen, die Barbaren zivilisieren zu müssen, ist weniger der Rede wert als die erstaunliche Tatsache, daß unter Massenmedienbedingungen Ungleichheitsmuster wie Rassismus und Sexismus offenbar historisch denken lernen, nämlich selbstreflexiv werden nach Art dessen, was wir »Rassismus und Sexismus zweiter Ordnung« nennen wollen, und was etwa so funktioniert: »Die klassischen Rassisten sagen ja, die Fremden seien schlechte Menschen, so einer bin ich natürlich nicht, aber das darf nicht heißen, daß ich sie nicht kritisieren darf« – und dann kommt alles das, was der klassische Rassist dumpf fühlte, als Ergebnis schmerzhafter Denkprozesse verwandelt, geadelt und als Unterfütterung derselben alten Erziehungs- und Aussonderungspropaganda, aber frisch wie am ersten Tag, ans Debattentageslicht.
Rassistische Ordnungen, Raub- und Feldzüge des Unrechts, der Ausgrenzung, Unterdrückung, Ausbeutung sind in Praxis und Hexis kanalisierte menschliche Verhaltensweisen, koordiniert über rassistische Kommunikation, die dialektische Interpenetrationen von einerseits naturwüchsigen und andererseits gesellschaftlich produzierten Identitätsbestimmungen vereindeutigt und auf Sortierschemata reduziert, die von angrenzenden ethnischen, klassengegliederten, religiösen, sexuellen, kulturellen, nationalen, biologischen Differenzen stabilisiert werden können. Eine davon herauszugreifen und für zentral oder völlig vernachlässigbar zu halten, wäre so dumm, wie die Bürger gewesen wären, wenn sie sich im Emanzipationskampf gegen den Adel nur »materialistisch, ökonomistisch« um den Freihandel oder »idealistisch, semiotisch« um die Religionskritik gekümmert hätten. Auf die Erzeugung von politischem Druck zur Durchsetzung menschenwürdiger Behandlung der vom Unrecht rassistisch Markierten wird Solidarität so wenig verzichten wollen wie auf das Studium des ideologischen Koordinationskleisters, auf Bücher wie Vijay Prashads The Darker Nations sowenig wie auf Theodore W. Allens The Invention of The White Race oder Nell Irvin Painters The History of White People.
Wo die alte, vorhandene, falsche Ordnung Risse hat, wird das Brecheisen mit dem spitzen Ende angesetzt; wo ihr materielle und, auf diesen notwendig aufsitzend, kommunikative Dispositive implizit sind, die ihr Anderswerden erlauben, werden sie explizit gemacht – so erzielt Emanzipationspolitik Ergebnisse.
Aufmerksame Pessimistinnen werden uns an dieser Stelle an unsere oben entdeckte, traurige Gesetzmäßigkeit in Erinnerung rufen wollen: Erfolgreiche Emanzipationsbewegungen neigen dazu, die mit ihren Siegen erzielten Platzvorteile vor weniger glücklichen Abhängigen, Unterdrückten, Ausgeschlossenen zum Ausbau des Abstands zu nutzen.
Wir haben das nicht vergessen.
Aber es gibt auch andere als erfolglose Emanzipationsbewegungen, und sie sind, solange die Menschheit nicht als freie und mit, soweit es die Natur der Dinge statt nur die der sozialen Verhältnisse zuläßt, gleichen Chancen für alle versehene konstituiert ist, die Mehrheit: die Geschlagenen, die Unvollendeten.
Marx war ein liberaler Bürger; das Proletariat als Bundesgenossen und Subjekt neuer Befreiungskämpfe entdeckte er systematisch erst, als seine liberalen bürgerlichen Hoffnungen in Deutschland zerschlagen waren. Die soziale Realität des arretierten Fortschritts zwingt dazu, die wechselseitige Abhängigkeit der Interessen aller von naturwüchsigem Unrecht Geschlagenen zu erkennen, die Universalität der verschiedenen atomisierten Partikularformen des Leidens an der gesellschaftlichen Welt nicht mehr als ideelle zu behaupten, sondern politisch zu erfahren. Wie etwas ein anderes, besseres werden soll als das, was es ist, das Werden als solches also, das keine metaphysische Flause ist, sondern positive Naturrealität in Elektrizität, Magnetismus, Chemie, läßt sich, so Paul Valéry in einem vieldeutigen Eintrag in den Cahiers63, ohne Potentielles, Virtuelles, ohne ein Implicitum im Vorhandenen nicht denken. Das, was dieses Implicitum ausmacht, der Implex, kann, wenn die Veränderung nicht eingetreten ist, verloren aussehen wie die virtuellen Vorfahrenlinien beim genealogischen Implex. Daß aber die auseinandergetriebenen Einzelbenachteiligten zu ihrem Vorteil das negieren können, was ihre Freiheitsmöglichkeiten, die der aufgeklärte Idealismus Naturrecht nannte, negiert hat, ist die anhaltende Gelegenheit der analytischen Verlängerung der Lage nicht nur ins Historische, sondern auch ins noch Ungeschehene. Der zu explizierende Implex geschlagener partikularer Emanzipationsbewegungen ist nichts anderes als die praktische Option antipartikularer Solidarität.