Man kann die Geschichte (»alle bisherige« jedenfalls, wie Marx und Engels mit weitreichenden Hintergedanken sagen) als ein bißchen zu gerade, ein bißchen zu freie, leider ohne Geschwindigkeitsbegrenzung eingerichtete Autobahn denken und den Implex aller Möglichkeiten, dem Verhängnis, der Naturverfallenheit, der Abhängigkeit und dem Unrecht ungeplanter Prozesse zu entgehen, als eine Serie von Ausfahrten, die zu Orten führen, zu denen man will.
Mit jeder verpaßten Ausfahrt beschleunigt das Fahrzeug, in dem alle sitzen.
Ist das Fortschritt?
Vielleicht für Leute, die das Ganze von oben sehen und darüber beruhigt sind, daß es die Ausfahrten, die verpaßt wurden, ja noch gibt – nur fehlt die Gegenfahrbahn, auf die man wechseln müßte. Außerdem meinen wir mit »Implex« nichts, was in einer räumlichen Ordnung etwa eine Untermenge von Tatsachen oder deren Verbindungen bilden würde. Die Menge, welcher der Implex implizit ist, möchten wir vielmehr als etwas Zeitliches denken, etwa so, wie wenn bei einem barocken Musikstück ein Generalbaß mitläuft. Daß der Implex für uns aber überdies reicher (auch, sit venia verbo, umfangreicher) ist als das, worin er eingebettet ist, meint einfach den Umstand, daß sich um so eine Baßlinie sehr viel mehr, auch ganz andere Musik denken und spielen läßt als die, zu der sie etwa jeweils empirisch »gehört«, das heißt: aus der man sie herausgehorcht hat. Man wird das, weil es kontraintuitiv ist, damit beantworten, die entsprechenden Partituren zu verlangen (»wie sieht sie denn dann aus, die Utopie oder Dystopie?«), auch wenn in dem Jahrhundert, aus dem wir stammen, ein beachtlicher Aufwand um das Bemühen getrieben wurde, einmal eine Musik zu spielen, die man nicht mehr aufmalen kann, die wenigstens andere Verräumlichungen als die zur Draufsicht aufs Notenblatt verlangt, die wirklich vorbei ist, wenn sie vorbei ist, auf daß endlich eine Kunst existiere, die, wo doch Kunst sonst zu allen menschlichen Erfahrungen spricht, zur Erfahrung der Unwiederbringlichkeit spricht – die wiederum selbst eine Illusion sein mag; es gibt Menschen, die an einer Religion, einer Philosophie oder auch einer Physik gebastelt haben, welche dies behauptet. Wir wollen da nichts präjudizieren, uns genügt es, wie den Improvisationsmusikerinnen auch, daß Einzelwesen Unwiederbringlichkeit erleben und Geschichtliches bis jetzt selten wiedergekehrt ist, allen Warnungen vor Farce und Tragik oder davor, daß, wer aus der Geschichte nicht lernen wolle, dazu verdammt sei, sie zu wiederholen, zum Trotz – vielleicht ist diese letztere Warnung ja gerade der größte aller Irrtümer: Vielleicht ist es gar nicht so, daß man die Geschichte wiederholen muß, wenn man nicht aus ihr lernt, sondern, und schlimmer, so, daß man eben deshalb, weil man sie nicht wiederholen kann, auch nur sehr schwer aus ihr lernt; bedarf doch jedes echte Lernen der Wiederholung.
Ein befreundeter Musiker konfrontierte uns eines Abends, in der frühesten Vorzeit der Arbeit an diesem Buch, mit der Frage, was überhaupt damit gemeint sei, wenn man, wie wir das in einer Skizze für ein Kunstkapitel taten, sagt, die Musik etwa von Cornelius Cardew stecke auf irgendeine Weise »in« den graphischen Anordnungen, die er als Leitbilder für Aufführungen von Werken wie Treatise oder The Great Learning angefertigt hat. Er wollte wissen, ob man diese implizite Musik bei Cardew oder auch bei den Bildklanginstruktionen von Kerry John Andrews, den Farbpunkten von Halim El-Dabh, den gemalten Logica von Douglas C. Wadle, den schriftlichen Ausführungen von John Cage anders (besser?) sehen könnte, als man etwa das Waldweben Wagners in einem Nibelungen-Klavierauszug wahrnimmt. Valéry, fiel uns ein, sagt von seinem »Implex« lauter Sachen, die ihn gerade so beschreiben, wie man das Eingebettetsein der Musik in den Glyphen und Graphemen der geschriebenen Tonkunst (neuer, also heute richtiger: Klangkunst, es gibt ja mehr Klänge als Töne) kennt: Er sei »der verborgene strukturelle und funktionale Rest (nicht das Unbewußte) einer Erkenntnis oder bewußten Handlung«126 – bei Plänen und Partituren also das, was gemacht werden soll, nach der Erkenntnis seiner Möglichkeit und der bewußten Handlung des Plänemachens, Musikkomponierens –, er sei das, »wovon wir wissen, daß eine bestimmte Erregung oder Anmutung es aus uns herausholen kann«127, er sei schließlich »eine Menge von Reaktions- oder Transformationsmöglichkeiten als Wirkungen beliebiger Ursachen, verbunden mit einem beharrlichen und zyklischen System« (also die Gelegenheit der Wiederholung bei gleichzeitiger Unvorhersehbarkeit ihres Anlasses)128. Alles das sind Versuche, etwas zu beschreiben, das Valérys biegsame und bewegliche Sprache nie ganz erhascht, vielleicht auch gar nicht festschreiben will – woran er gut tut; es trägt damit nämlich selbst einen Implex, der erlaubt, die Sache auf unterschiedliche Weise zu entfalten, zum Beispiel auf unsere.
Wir übernehmen, was er beschreibt, nicht fertig so, wie es ist, da es enger und zugleich in mancherlei Hinsicht abgelegener und weiter ist als das, was wir bezwecken – genauer:
Wir haben den bei Valéry gefundenen Implex-Begriff also um zwei Erweiterungen (alle Ereignisse anstelle bloß der subjektiven, alle anstelle bloß der bewußtseinsvermittelten) und eine Einhegung (nicht alles, was passieren kann, nur das, was gemacht wird) modifiziert, und daß er damit auch dazu taugt zu beschreiben, wie Musik in Glyphen steckt, ist letztlich nur ein Sonderfall der allgemeineren Bestimmung, der Implex sei das, was zu einem bestimmten Zeitpunkt gemacht werden könnte (das Musikstück, etwa, ließe sich aufführen, unter Verwendung der »Ursachen«, die das graphische, »beharrliche und zyklische« System anbietet – zyklisch ist es, weil man wieder vorn anfangen kann, wenn man aufgehört hat, auch zeitversetzt; in jeder Musik steckt mindestens ein Kanon).
Das Fahrzeug – nennen wir es, mit H.G. Wells, the Shape of Things to Come – frißt Zeit, hungriger noch, als es den Weg verschlingt, Scheitern ausscheidet und neuerdings auch die Erinnerung nicht mehr recht bei sich behält.
Dieses Kapitel fragt, was die Leute, die dieses Fahrzeug befördert, träumen, wenn sie, in der eigenzeitlichen Trägheit des Transportmittels nicht recht sicher geborgen, aber doch ohne Hoffnung auf Ausstieg darin eingeschlossen, schlafend durch die Nacht geschossen werden. Wir sind nämlich soweit, ein bißchen mehr als bisher darüber zu verraten, wie der Implex aussieht, den wir meinen, wenn wir von sozialem Fortschritt reden.
Für E.T.A. Hoffmann war das Gründungsverbrechen der kapitalistischen, der modernen, der bürgerlichen Welt nicht die ursprüngliche Akkumulation, nicht die Enteignung der Kleinproduzenten, das Ansaugen andernfalls Chancenloser vom Land in die Fabriken, die Kinder- und Frauenarbeit, die Schuldgefängnisse, die einkalkulierten Arbeitsunfälle, die entrechtete neue Arbeit in den schmutzigen, gefährlichen, giftigen hohen Hallen der Industrie, sondern die Vertreibung der Feen.
Zahlreiche romantisch gestimmte Seelen sahen das ähnlich und sehen es bis heute so. John Keats hat sich beschwert, Sir Isaac Newton habe ihm mit seinen Opticks den Regenbogen kaputterklärt, sehr viel ist überhaupt darüber geschrieben und geredet worden, daß die Aufklärung den Dingen die Rätsel ausgetrieben und die Unendlichkeit zur Berechenbarkeit verkürzt habe, daß die bourgeoise Selbstemanzipation gleichbedeutend gewesen sei mit der Auslöschung der Poesie und dem Siegeszug der Prosa. Max Weber hat den Vorgang die »Entzauberung der Welt« getauft und mit dem positivistischen Zug aller nachreformatorischen Weltaneignung gleichgesetzt. In Wirklichkeit aber beginnt die größte historisch je verzeichnete Blüte der unwirklichen Künste um 1750, als der neue Begriff der Wirklichkeit, den Bacon kodifiziert, Galilei und Newton operationalisiert hatten, allmählich die Weltwerdung der Welt ins Werk zu setzen begann. Erst als die erste Bürgerpflicht der Realismus geworden war, traten im Ästhetischen, von den esoterischsten Avantgarden bis zur Hollywood-Kulturindustrie, Irrealismus, Surrealismus, Subrealismus, Transrealismus in ihre Rechte, die sich zu denen des Mythos verhielten und verhalten wie das Naturrecht zur Natur. Die Massenkultur der Gegenwart, soweit sie Geschichten erzählt, stammt von Verne, Wells, Tolkien, Poe, Lovecraft.
Selbst die Romantik ist eine bürgerliche Erscheinung (und noch das reaktionärste, konservativste Denken seit der Französischen Revolution keine bloß beleidigt adlige oder ständische, sondern die Indienstnahme adliger und ständischer Attitüden durch Bürgerliches). Avantgarde wie Kulturindustrie gelangen an ihre narrativen wie symbolischen, ihre tropischen und diegetischen Quellen mittels Enteignung des Katzenjammers über jene »Entzauberung«. Der scheinbare Widerspruch (die Welt wird Sache unter Sachverhalten, die der Fall sein können, die ästhetische Weltbildnerei aber wird dabei alles andere als »sachlicher«) reicht bis in einzelne Werkbiographien, gerade der berühmtesten Phantasten: Was die USA seit 1980 waren, steht klarer als bei irgendwem bei Stephen King, der aber von Wirklichkeit nicht viel hält; wenige Realisten und Naturalisten haben mehr Daten darüber, wie die Industrialisierung die Welt veränderte, in Kunst aufbewahrt (also in Haltungen eingebunden, die sie für die seelische Weiterverarbeitung ergiebiger machen, als es jede soziometrische Aufstellung könnte) als Charles Dickens, der aber zugleich zu den größten Wiederverzauberern der Welt, die das hochbürgerliche Zeitalter gekannt hat (mit Hard Times schrieb er diesem Zeitalter sogar eine wütende, strenge Anklageschrift wider die realistische, ernüchternde Erziehung des Viktorianismus, wie sie kein Schwarmgeist empörter hätte entwerfen können).
Die Wahrheit übers »Verschwinden der Magie« unter bourgeoisen Vorzeichen läßt sich leichter denken, wenn man unserem Vorschlag folgt, die Ummantelung des Neuen durchs verjüngte Alte, das Aufgehobensein des Alten im auskristallisierten Neuen als Interpenetrationsverhältnis von Implikationen und Explikationen zu lesen. Das hieße, McLuhan mit Benjamin, Benjamin mit McLuhan zu denken: Sowenig wie das Fernsehen den Film oder dieser das Theater hat töten können, sosehr mediale Neuerungen als Implex stets die Aussicht nicht allein auf »schöpferische Zerstörung«, sondern auf skalierbare Menü-Erweiterungen bergen (und damit natürlich mit Verlusten für Aspiranten auf Monopole drohen, im Ästhetischen also etwa mit der Zerschlagung von Illusionen darüber, es gäbe vielleicht kunstfähige Gegenstände, für die nur eine einzige Kunsttechnik zuständig sein könnte; jedes Handwerk fühlt sich vernichtet, wenn andere Hände in seine greifen wollen, wie sich jede Religion verfolgt fühlt, sobald sie nicht mehr Staatsreligion ist, sondern weltanschaulicher Verein unter anderen), sowenig ist die Magie mit der Instituierung der kapitalistischen ratio »verschwunden«. Sie hat sich vielmehr vervielfacht und vervielfältigt (das ist nicht dasselbe), als Massenware und stilistisch-technische Proliferation unwirklicher Künste. Oper, Graphic Novel, DVD, Paperback, Download, Bildband, Computergame, Live-Action-Rollenspiel – mehr und nach Gattung, Genre, Form wie Medium breiter gestreute Tagträumangebote für immersiven Eskapismus hat es nie gegeben. Die Versuchung liegt nah, die wechselseitig einander explizierenden Implikaturen zwischen diesen Angeboten als Abhängigkeits- und Folgeverhältnisse teleologisch zu lesen: Ohne lebensweltlichen Positivismus kein Inner-Space-Symbolismus, ohne Konstruktivismus des öffentlichen Raums kein Gebrauchssurrealismus der Werbung und so weiter. Die weltadäquate Ineinanderschachtelung »A ist aus B und C, B aber aus A und C und C wiederum aus A und B zusammengesetzt«, die außerhalb der nur von zwecksetzender Verstandesleistung herstellbaren Teleologie liegt und darum ebensosehr an die das Phantastische tragenden Entstellungstechniken der Träume erinnert wie an Spencer Browns »unmarked space« der ausschlußlosen Ununterschiedlichkeit und den von Freud so genannten »Primärprozeß« des Psychischen, in dem die Kategorien und Anschauungsweisen noch nicht nach den Maßverhältnissen des Realitätsprinzips geschieden sind, dient uns daher als Gegenbild zur verkehrten Auffassung unidirektionaler Abhängigkeit oder gar eines memdarwinistischen Verdrängungswettkampfs zwischen mythischem und vernünftigem Erleben und Denken. Diese primärprozessuale Ineinanderschachtelung, die als Larvenstadium von »Bedeutung« erlebt wird, die ins Bedeutsame nur übergeht, wo die ausgeschlossenen Unterscheidungen wieder ins zu Untersuchende hineingenommen werden und sich dort, wie wir das in diesem Buch mehrfach nannten, »selbstähnlich reproduzieren« – Luhmann hat für denselben Sachverhalt beim Logiker George Spencer Brown den Ausdruck eines re-entry der Form in die Form entlehnt –, findet sich, sobald diese re-entry-Möglichkeit gegeben ist, bald nicht nur zwischen den beiden Polen Fantastika (so wollen wir, dem Kritiker John Clute folgend, in diesem Kapitel, und in diesem Buch überhaupt, die unwirklichen Künste nennen – nach geläufiger Untergattungstaxonomie also supernatural Horror, Science-fiction und Fantasy, sowie vieles, das »dazwischen« liegt) und Rationalität, sondern innerhalb der beiden propria selbst – gerade auch auf der rationalen Seite, sogar in der Physik: Wie immer letztlich die Supertheorie beschaffen sein mag, der es gelingen könnte, die Inkompatibilitäten zwischen der Geometrodynamik einerseits und der Quantenmechanik andererseits auszuräumen – etwa indem sich beide als Sonderfälle einer unter allgemeineren Gesetzen stehenden Naturordnung erweisen, oder indem eine von beiden sich als letztlich doch falsch herausstellt, oder indem eine andere, bis jetzt nicht ausgearbeitete logische Möglichkeit greift –, die Zuständigkeit jeder der einstweilen untereinander unversöhnlichen Theorien wird unmittelbar abgelesen an skalierbaren Mikro- bis Makro-Konstellationen, und Vermittlungsinstanz ist das zwecksetzende Menschenhirn, das sich zwischen Makro- und Mikrokosmos selbst als denjenigen Mesokosmos setzt, der erklärt, das heißt vermittelt, herauslöst und einbettet, unterscheidet und vergleicht (und gelegentlich dazu neigt, das wiederum zu ontologisieren, so daß der Mikro- wie der Makrokosmos plötzlich Teilmengen des Mesokosmos werden). Bei alledem stößt man immer wieder auf Paradoxa der Form »Das Späte steckt im Frühen, wie das Frühe bewahrt bleibt im Späten«.
Kontraintuitiv – man erlebt hier gleichsam das Eingebettetsein des Großen ins Kleine, die Raumintuitionsverletzung des »Das ist innen größer als außen« – haftet diesen Paradoxa gleichwohl nichts Übernatürliches mehr an, sobald man verstanden hat, daß die Kausalität, der »Mörtel des Universums« (Donald Davidson) nicht verletzt wird davon, daß das Spätere, als Ausgewachsenes größer als das Frühe, in jenem gleichwohl enthalten sein kann und daß die Erkenntnis-, Wissens-, Empfindens- (und also Ästhetik-)Geschichte nicht anders kann, als diesem realgeschichtlichen Leitpuls zu folgen – die »richtige logische Abfolge« der Erkenntnisse ist ein von ihrem historischen Gewinnungsgang nezessiertes trompe l’œil. »Rein logisch« könnte man ja auch vermuten, daß man auf die von Darwin entdeckten Makromechanismen der Biogeschichte erst kommt, wenn der mikrobiologische Erbgang erforscht ist, aber für die stammesgeschichtliche Betrachtung reicht eben etwas Taxonomie und Paläontologie samt Züchtungserfahrung. Lamarck ist in Darwin begraben, Crick und Watson sind in ihm gezeugt; und daß Mathematiker und Physiker in den letzten Jahrzehnten Dinge sagen konnten wie die um Edward Witten gescharten Protagonistinnen und Protagonisten der Superstring-Theorie, es handle sich bei ihrer Theorie um eine Lehre, die man eigentlich noch gar nicht ausarbeiten könne, weil für diese Physik des späten zwanzigsten Jahrhunderts im Grunde die Mathematik des einundzwanzigsten Jahrhunderts vonnöten sei, ist – unabhängig davon, ob diese theoretischen Investitionen jemals amortisiert werden und die String- oder die aus ihr entwickelten M-Theorien halten, was sie Witten und Company versprechen – nur denkmöglich geworden, weil die Wissensgeschichte inzwischen, ganz nach Luxemburgs Kriterium, eben auch mehr Produktionsmittel – Gleichungen und andere Maschinen, die neues Wissen herstellen helfen und denkbar machen, daß man Dinge tun kann, die bis jetzt niemand tun konnte – produziert als bloße Konsumtionsprodukte – Gleichungen und andere Maschinen, die nur etwas zu tun erleichtern, was man eh schon tut. Als die Geometrie gekrümmter Räume im neunzehnten Jahrhundert durch Riemann und andere entwickelt wurde, war ihre Anwendung auf den Gegenstandsbereich der Allgemeinen Relativitätstheorie noch unvorstellbar, der umgekehrte Fall – eine physikalische oder auch biologische Intuition wird durch Formalisierung erst klar, etwa wie bei Mendels Gesetzen und ihrem Aufgehobensein im mikrogenetischen Erbgang – tritt ebenfalls immer wieder ein; die russischen Puppen der Erfahrungsgeschichte finden einander in Figurationen von Escher, der Implex ist mal das Formale (die neue Mathematik, die in neuen physikalischen Begrifflichkeiten steckt), mal das Narrative (die neue Geschichte der Welt, die in einer Gleichung wohnt), das »Innen« aber entfaltet sich, wie Merleau-Ponty den Valéryschen Implex-Begriff einmal ausgedeutet hat, »als System von Vermöglichkeiten« – das ungewohnte deutsche Wort, umsichtig gesetzt von Alexandre Métraux in seiner Übertragung der Untersuchungen über den dichterischen Gebrauch der Sprache soll ans »Vermögen« im Sinne des Besitzes wie des Etwas-tun-Könnens erinnern, damit man den Implex eben nicht für etwas Geistiges, etwas Abstraktes, etwas ohne Geschichte hält; betont Merleau-Ponty in diesem Text doch ganz zu Recht, daß Valéry den homme de l’esprit, dessen Welterschließung sich der Implex erschließt,
»kein reines Bewußtsein ist, das um so reiner ist, als es sich weigert, was auch immer zu sein. Denn unsere Einsichten erwachsen auf der Grundlage der Begegnung von Welt und von anderen Menschen; Schritt um Schritt konstruieren wir ein System von Vermöglichkeiten – Valéry nennt es ›Implex‹ oder ›Worttier‹ –, das als Misch- oder Zwitterwesen diesseits unserer Willensaktivität« (Primärprozeß – Unmarked Space – Unbewußtes – Traumlogik [K/D]) »den Bezug zwischen dem, was wir getan haben, und dem, was wir beabsichtigt haben, sichert«129,
und dieser Bezug ist eben der Schritt von der Konsumption zur Produktion wie das Maß des Fortschritts (Tun wir, was wir beabsichtigen? Kommen wir weiter?), und zwar in beide Zeitrichtungen lesbar, so wie die Gleichungen, die uns Naturvorgänge erschließen, in beide Richtungen lesbar sind und die Naturgesetze in diesem (und nur in diesem) keine Zeit kennen, das heißt gedacht werden können müssen, ohne ihnen einen Zeitpfeil einzuziehen (also multidirektional, was sogar für die absolut großräumigen Kosmologien gilt, also auch für die Allgemeine Relativitätstheorie, die, wie Gödel gezeigt hat, auch Lösungen ihrer Gleichungen zuläßt, in denen das ganze Universum »zeitlos« ist, zyklisch wie einst in den Mythen und in Valérys näherer Bestimmung des beharrlichen Systems). Der beobachtbare Zusammenhang ist »innen größer als außen«, wie die blaue Police Box in Dr. Who, der auffällig langlebigen (von 1963 bis heute) Science-fiction-Serie der BBC, die den Namen TARDIS trägt: Time and Relative Dimension in Space, oder, denn der Topos ist auffallend weit verbreitet in Fantastika, auch die »siebte Kammer« in einem aus der Zukunft in die Erdumlaufbahn geschleuderten Asteroidenartefakt in Greg Bears Science-fiction-Roman Eon von 1985, oder das verwunschene Haus in Mark Z. Danielewskis Horror-Roman House of Leaves aus dem Jahr 2000, oder schließlich das All als solches in John Crowleys Fantasy-Roman Little, Big von 1981.
Greg Bear, in einer Szene, die der Heldin, einer Physikerin, die Geometrie des Artefakts bewußt macht:
»Look straight ahead.«
She looked. The air was clear. Visibility was at least thirty kilometers. The northern cap seemed to be obscured, not nearly as obvious as the looming gray presence in the other chambers. She looked up and squinted, trying to make out the end of the plasma tube. It didn’t end. It went on, certainly more than thirty kilometers, getting dimmer and thinner until it almost merged with the horizon. Of course, on a non-curved surface – as the cylinders were, viewed parallel from the axis – the horizon was much higher. Given unlimited distance, the horizon would begin at a true vanishing point in the perspective … (…). The asteroid was longer on the inside than it was on the outside.
The seventh chamber went on forever.«130
Mark Z. Danielewski, in einer Szene, die das Filmteam des Regisseurs Navidson mit der unbegreiflichen Räumlichkeit des Hauses, in dem sie arbeiten, konfrontiert:
»In one continuous shot, Navidson, whom we never actually see, momentarily focuses on a doorway on the north wall of his living tomb before climbing outside of the house through a window to the east of that door, where he trips slightly in the flower bed, redirects the camera from the ground to the exterior white clapboard, then moves right, crawling back inside the house through a second window, this time to the west of that door, where we hear him grunt slightly as he knocks his head on the sill, eliciting light laughter from those in the room, presumably Karin, his brother Tom, and his friend Billy Reston – though like Navidson, they too never appear on camera – before finally returning us to the starting point, thus completely circling the doorway and so proving, beyond a shadow of a doubt, that insulation or siding is the only possible thing this doorway could lead to, which is when all laughter stops, as Navidson’s hand appears in frame and pulls open the door, revealing a narrow black hallway at least ten feet long, prompting Navidson to re-investigate, once again leading us on another circumambulation of this strange passageway, climbing in and out of the windows, pointing the camera to where the hallway should extend but finding nothing more than his own backyard (…).«131
John Crowley, in einer Szene, in welcher der Gelehrte Dr. Bramble seinem Publikum die für die Welt des Buches zentrale Idee »The further in you go, the bigger it gets« erläutert, weil sie wissen wollen, woher die Wesen – die »Vermöglichkeiten« – kommen, die nicht sind wie wir:
»›The explanation is that the world inhabited by these beings is not the world we inhabit. It is another world entirely, and it enclosed within this one; it is in a sense a universal retreating mirror image of this one, with a peculiar geography I can only describe as infundibular.‹ He paused for effect. ›I mean by this that the other world is composed of a series of concentric rings, which as one penetrates deeper into the other world, grow larger. The further in you go, the bigger it gets. Each perimeter of this series of concentricities encloses a larger world within, until, at the center point, it is infinite. Or at least very very large.‹ He drank water again. As always when he began to explain it all, it began to leak away from him; the perfect clarity of it, the just-seizable perfect paradox of it, which sometimes rang like a bell within him, was so difficult – maybe, oh Lord, impossible – to express. The unmoved faces before him waited. ›We men, you see, inhabit what is in fact the vastest outermost circle of the converse infundibulum which is the other world. Paracelsus is right: our every movement is accompanied by these beings, but we fail to perceive them not because they are intangible but because, out here, they are too small to be seen! Around the inner perimeter of this circle which is our daily world are many, many ways – call them doors – by which we can enter the next smaller, that is, larger, circle of their world. (…) And lastly, the vastest circle, the infinity, the center point (…) – that circle is so tiny it has no door at all.‹«132
Daß im von Danielewski abgeschrittenen Zeichenbereich des »Unheimlichen« (Freud) und der Nachtfahrten der kosmologischen Fantasy ebenso wie in der erzapollinischen »Scientifiction« (Hugo Gernsback), ja noch in den tageslichtgesättigtsten »Scientific Romances« von Leuten wie Wells, George Griffith (dessen Angel of the Revolution von 1893 das zwanzigste Jahrhundert konturengenauer vorweggenommen hat, als es bis jetzt von der Geschichtswissenschaft je irgendwo nachgezeichnet werden konnte) oder M.P. Shiel (der zu der Zeit, als Griffith wirkte, ein imperiales, rassistisches zwanzigstes Jahrhundert erfand, das zum Glück nicht wahr wurde) die materialen wie die inferentiellen Verweisketten organisiert sind »wie im Traum«, könnte bei flüchtiger Untersuchung dazu verführen, die raunende poststrukturalistische Renommierweisheit plausibel zu finden, das Unbewußte sei strukturiert wie eine Sprache (deren Plausibilität aber in jedem Fall daher rührt, daß denen, die sprechen, eben oft viele ihrer Motive dabei unbewußt sind). In Wirklichkeit aber spricht sich in Fantastika nichts aus, was man nicht weiß, sondern wird eine andere Art, Wissen (respektive: Erkennen) zu spielen, inszeniert als die zweckfreie der Wissenschaften und die zweckgerichtete der Technik: eine, die sich von Zwecken stören, irritieren läßt, ihnen aber nicht gefügig sein will.
Daher rührt eins der irritierendsten Momente in Fantastika, das scheinbare Auftauchen und Verschwinden von »epistemischen Brüchen« sensu Kuhn und Foucault, sowohl als Wissensverlust, Verwüstung, Vastation wie als plötzliche Erleuchtung, conceptual breakthrough (Clute), von Geschichtslosigkeiten, das unbesonnene Deutungen dieser Künste immer wieder in Gefahr gebracht hat, Fantastika mit dem Mythischen in eins zu setzen, bei dem doch die Geschichtslosigkeit ganz andere Ursachen hat, nämlich vorgeschichtliche. Wissen, was man noch gar nicht wissen, nämlich nicht erleben kann (in der Science-fiction zum Beispiel »die Zukunft«), vergessen, was man gewußt hat (in der Fantasy etwa den Schritt vom magischen zum vernünftigen Denken): Die Erfahrung wird aus der Geschichte gerissen, und das ist vor allem ein Schock – obwohl es keiner sein dürfte, wenn modische Fehldeutungen der Wissensgeschichte wahr wären, wonach etwa die Relativitätstheorie ein voraussetzungsloser, unterbestimmter, ja indeterministischer Bruch des wissenschaftlichen Bewußtseins mit der Newton-Galileischen Mechanik gewesen sei statt deren kühne Verallgemeinerung auf im Sinne dieses Buches technischer Grundlage (gemeint ist mit der Technik hier die Mathematik; ihre Maschinen sind Gleichungen, wir denken also nicht einfach an die Apparate, mit denen Michelson, Morley und Eddington ihre Beiträge zu Einsteins Arbeit und deren Validierung leisteten). Weggeschmissen wird hingegen in Wirklichkeit von der kollektiven Erfahrung sowenig wie von der individuellen je etwas, das irgend einmal tauglich war, Vorhersagen zu liefern oder das Handeln sonst anzuleiten – Flugbahnen werden auch auf dem höchstentwickelten Technikstand, den wir kennen, nach Newton und nicht nach der Relativitätstheorie berechnet; der Aufwand wäre andernfalls zu groß, ohne Nutzen, erst Leute, die verstehen wollen, wie die Merkurbahn zustande kommt, brauchen Einstein. Für die Magie hat der Bürger zu Mozarts Zeit die Oper, fürs Geschäft die Kalküle – den Satz kann man, soviel müßige Kritik hat die Moderne erfahren, schon gar nicht mehr hinschreiben, ohne daß er als Mäkelei gelesen wird, wir meinen ihn aber als Fortschrittstrittbrett, denn wenn zum Beispiel Kunst und Ritus, vorher schon Ritus und Glaube sich gegeneinander absetzen, wenn die fraktal selbstähnliche Reproduktion der Arbeitsteilung innerhalb vormaliger Arbeitszweige stattfindet, wenn es nicht mehr nur »geistige und körperliche Arbeit« heißt, sondern verschiedene Arten geistiger Arbeit sich in weitere verschiedene Arten geistiger Arbeit zerlegen lassen und diese wieder, entstehen Möglichkeiten der Rekombination, die das Noch-nie-Gesehene in die Welt holt, zu dem ja auch gehört, was Menschen sich wünschen, aber bislang nie hatten, das Leben ohne Angst und vermeidbares Leiden (dies, ein Vorgang in der Produktionsordnung, eine Selbstdurchdringung der Arbeitsteilung, steckt hinter Luhmanns berühmter »Ausdifferenzierung sozialer Subsysteme«: Für Künstler muß alles Kunst werden können, für Wissenschaftler den verfeinerten, verbesserten Baconschen Zugriffen erreichbar, wer die Tricks kennt, kann’s).
Am Beginn der bürgerlichen Selbstemanzipation geht es noch darum, dem Denken, der Kunst und anderen lateral zur Unterscheidung »privat und öffentlich« die Kommunikation leitenden, von dieser erfaßten Produktionszweigen Autonomierechte zu erstreiten, vor allem gegen die ständischen Ideologiebedingungen: Man soll irreligiös spekulieren, forschen, Kunst machen dürfen. Das nicht Religiöse, nicht Ständische, ob es nun die reale Plurimondialität der Neuen Astronomie ist oder die Phantastik artifiziell-virtueller »neuer Sterne«, tritt zu Beginn noch durch seine Heterodoxie vermittelt als Ungeschiedenes auf, bei Giordano Bruno etwa und der Renaissance-Esoterik; aus dieser Ursuppe aber schält sich die Wissenschaft, erhebt sich die Tropenlandschaft Fantastika und der um sie eine neue sinnliche Geographie darstellende Kontinent der bürgerlichen Ästhetik.
Wo Phantastik vorher, so sie nicht ohnehin verschweigen mußte, daß sie Phantastik war (und statt dessen behaupten mußte, sie handle von einer tieferen oder höheren Realität mit indirekter kirchlicher oder anderweitig mythotheologisch beglaubigter Lizenz), als eine Art ästhetischer Nachahmung des Traums, der Vision, der Schwärmerei und anderer kopfloser Ekstasen hatte auftreten müssen, trat in Fantastika das spekulative Element in den Vordergrund: Konstruktion, Ironie, bewußte Kalküle, positivistisch hergeleitete Logo-Offenbarung, aleatorisch gewitzigtes Möglichkeitsdenken im Abgeleiteten, kurz: gebrochene, ihrer Vermittlung durch die Immanenz innewerdende Transzendenz, die nicht nur das Irdische, sondern vor allem das Zeitliche überschreiten, überspannen helfen sollte, dem Historischen so imaginär überlegen wie dem Tellurischen. Auf diese Weise entstand im Vorlauf zur Aufklärung wie während deren kurzer Hochblüte eine umfangreiche und, was die ikonographisch und metapherngesäte Ausbeute angeht, die man bis in die heutige Kulturindustrie der Comics, Filme, Fernsehserien und Computerspiele aus ihr gezogen hat, offenbar abgründig tiefe Literatur. Die humanistischen Frühformen machten, wie in Giambattista Marinos L’Adone, interplanetarische Begegnungen zur Probe auf die These vom Menschen als Maß aller Dinge; bei Ariost, im Orlando Furioso, und bei Kepler, im »Somnium«, reiste man zum Mond; Cyrano de Bergerac beschrieb das Staats- und Gesellschaftssystem auf dem Erdtrabanten; Pikaresken, Satiren und Grotesken bereicherten die imaginäre Reiseschriftstellerei; der conceptual breakthrough eines lange vor den modalen Parallelweltuntersuchungen des Philosophen David Lewis und der Vielwelteninterpretation der Quantenmechanik durch Everett bereits multiversal angelegten Raumzeit- und Geschichtsbildes verfestigte sich zu Texten wie Pierre Borels Discours nouveau prouvant la pluralité des mondes (1557) (das Schlüsselwort im Titel dieses Werkes ist natürlich das verblüffende »prouvant«, die Beweiskette wurde zum Element des rhetorischen Arsenals der Fiktion, die Science-fiction war geboren) oder Bernard le Bovier de Fontenelles Entretiens sur la pluralité des mondes (1686).
Der kopernikanische Kosmos als Alternativweltenreservoir und die für Ptolemäer undenkbare Idee, daß ganz woanders ganz andere ganz anders leben, ließ sich, das war kein schlechter Nutzen, auf den irdischen Kontext zurückspiegeln in terrestrischen Alternativgemeinwesen wie Campanellas Sonnenstaat, Bacons Neu-Atlantis oder dem in Utopia von Morus geschilderten, dessen Name derjenige der betreffenden literarischen Gattung wurde (auf dieser Insel siedelte auch Rabelais Literarisches an, der erste Fall von franchising und shared world-Praxis, die in den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts dann sowohl im Swinging-London-Avantgardezusammenhang der »New Wave«-Science-fiction um Michael Moorcock wie bei den Pop-Kulturindustriellen von Marvel Comics wirksame Ergebnisse zeitigte). Die im Namen »Utopie« enthaltene Ausrede »Das geschieht nirgends« war fürs erwachende Gestaltungsbewußtsein einer Klasse, die eben erst zu sich kam und lernte, wie man Geschichte macht – Bacons Schüler sagten bald recht schön, wozu ihr Meister sie inspiriert hatte: die Neuzeit sei die Antike einer großen Zukunft –, allerdings bald zu quietistisch; statt »Das geschieht nirgends« wurde daher bald behauptet: »Das wird geschehen«; der neue Möglichkeitsfluchtpunkt für Untersuchungen von Wünschen, Hoffnungen, Befürchtungen zog neue Konstellationen des Sichausmalens des Niegewesenen zu sich ins Nochnichtseiende: Francis Cheynell baute seinen Aulicus: His Dream of the King’s Second Coming to London 1644 noch nach heilsgeschichtlicher Blaupause, Jacques Guttins Epigone, Histoire du siècle futur von 1695 aber dachte bereits in stark säkularen Kategorien über die Zukunft unter den »clodovistischen« Königen Frankreichs nach und wurde damit Quelle für Hochaufklärungswerke wie Telliamed von 1748, Benoît de Maillets weitgespannte Evolutionsgeschichte über das Auftauchen des Menschen aus dem Meer, das zurückweicht, während das handelnde und spekulative Geschöpf, das es gebar, zu den Sternen reist, oder Louis Sébastien Merciers L’an 2440 – Rêve s’il en fut jamais von 1771, das ein Frankreich vorstellt, in dem nach Aufklärungsprinzipien regiert und hochtechnisiert gelebt wird, samt interkontinentaler Luftschiffahrt – eines der ersten utopischen Werke, die in Amerika in englischer Übersetzung gelesen wurden, es erschien in der tatsächlichen neuen Welt schon ein Jahr nach der europäischen Erstveröffentlichung, und Mercier, ein kluger Vorfahr Vernes und Wells’, erlangte mit Vorhersagen gerade auch technischer Gadgets wie etwa der Kommunikation zwischen Erde und Mond mittels einer Vorrichtung, die an die spätere Lasertechnik erinnert, verdiente Aufmerksamkeit und Beliebtheit.
Die technischen, szientifiktionalen, begrifflichen, also nicht nur deskriptiven oder abenteuerlichen Voyages imaginaires luden schließlich auf der literarischen wie der darstellenden Kunst bisher bestenfalls als Nebenlustquelle erlaubte Weise zum Vergleich zwischen dem Wirklichen und dem (eben nicht nur Denkbaren, sondern) Machbaren ein; am Anfang hatte man diesen Vergleich noch rein kritisch, also meist satirisch aufgefaßt (die Kinderkrankheit alles Revolutionären ist das Sichverbeißen in die Kritik am Bestehenden), unverlierbare Höhepunkte dieser frühen Formen waren Swifts Gulliver’s Travels (1726) und die Contes philosophiques und außergewöhnlichen voyages Voltaires (eines Autors, den man, wenn man die Behauptung aufrechterhalten will, in der Aufklärung sei es primär um die Durchsetzung einer im pejorativen Wortsinn prosaischen Art des Empfindens, Denkens und Lebens gegangen, jedenfalls nicht gelesen haben darf; wer in einem Buch wie Micromégas einen fünf Kilometer hohen Außerirdischen vom Sirius und seinen besten Freund vom Saturn feiert, die über die Ideen der Descartes, Malebranche, Leibniz und Locke diskutieren, ist alles, nur kein Nüchternheitsasket). Diese Texte, wie auch Ludvig Holbergs Expeditionen ins Erdinnere und manch anderes, Vergessenes, bieten schon alle Gußformen der heutigen unwirklichen Genrekünste; vor allem aber belegen sie, daß die Gefahr der Verkümmerung des Möglichkeitssinns durch die Welt, die Bacon kommen sah und die Aufklärung zu sich bringen wollte, nur an die Wand gemalt werden kann, wo man die Spannung vergißt, unter der das bürgerliche Bewußtsein steht, wenn es sich etwas ausdenken soll – die Spannung nämlich zwischen Positivismus und Innovation, aus deren Zusammenbruch dann Legenden entstehen wie die vom Chef des amerikanischen Patentamtes Charles Duell, der dem Kongreß vorgetragen haben soll, die weitere Förderung des Erfinderwesens sei nicht rätlich, da nunmehr alles erfunden sei, was sich erfinden ließe – in Wahrheit hat der empirisch wirkliche Duell in seiner Adresse ans Parlament von 1899 nichts dergleichen Unsinniges vorgetragen, wenn er auch ähnlich wie manche Physiker der Epoche anklingen ließ, es sei vorstellbar, daß man in absehbarer Zeit dahin gelange, die Verbesserbarkeit des Menschenlebens und -wissens auszuschöpfen. Von Fantastika wurde und wird ähnliches immer wieder behauptet; John Clute erzählt seit einigen Jahren, »first science-fiction«, die Geschichte vom Aufbruch ins Unerwartete, sei zuende erzählt, an ihre Stelle trete inzwischen eine Zukunftsphantasie zweiter Ordnung, die weiß, daß zur zukünftigen Welt auch wieder Zukunftsphantasien gehören werden und daß diese zukünftige Welt den gegenwärtigen und vergangenen Zukunftsphantasien viel verdankt – aber das ist, wenn es nicht mehr heißen soll, als daß Genres zur Selbstvergeschichtlichung neigen, eine aufgebrezelte Plattheit, und wenn es mehr heißen soll, einfach falsch: Nichts wurde und wird wirksam und für immer verdrängt und vergessen, wo die Vorstellungen vom Unwirklichen (also etwa Zukünftigen) einer Zivilisation verraten, daß diese auch eine Vorstellung von Geschichte hat; die Rede vom Tod des Erfindens, Forschens, Phantasierens ist nicht mehr eine Art schaler Trost für Leute, die mit der Erschütterung ringen, die es mit sich bringt zu begreifen, daß man im Abendland beim Wahr- und Wachträumen seit spätestens 1660 von der Verpflichtung entbunden ist, den Schöpfungen des Mythos und den Versprechen der Religion Leben einzuhauchen, sie zu plausibilisieren – hier wohnt die Wahrheit hinter Adornos Satz, Kunst sei Magie, befreit von der Lüge, Wahrheit zu sein.
Befreit von der Lüge, befreit vom Vorwand »Das passiert nirgends« zur Feststellung: »Das könnten wir machen«, dem blochischen, zweiten Sinn des Wortes Utopie also – man vergesse nie, daß zu den drei Quellen, die Engels dem Werk von Marx im Rückblick als vorauszusetzende Möglichkeitsbedingungen abgelauscht hat, neben der englischen Wirtschaftsaufklärung und der deutschen spekulativen Philosophie auch die französischen utopischen Sozialisten gehören, Saint-Simons und Fouriers Science-fiction also. Es wäre wohl falsch (auch wenn es gerade von Lehrerinnen und Lehrern des dialektischen und historischen Materialismus immer wieder behauptet wurde) zu erklären, dieses spekulative Stadium des Sozialismus sei eine Angelegenheit allein der evolutionären Diachronie, es werde mit Notwendigkeit überwunden und stehe nicht in produktiver, sondern in reine Abschaffungsarbeit erfordernder Relation zum wissenschaftlichen. In dieser These äußert sich ein verschämtes und verklemmtes Verhältnis zu Modalität, Normativität, Deontik und sie alle bündelnder Programmatik, das die ganze Arbeiterbewegung inklusive manches Sowjetische entstellt; in Wahrheit bleibt der phantastische Impuls und Modus (ebenso wie der englisch rechnende und der deutsch spekulierende) auf jeweils höherer, selbstreflektierter Stufe dem lebendigen Sozialismus unverzichtbar – was sich im späten 20. Jahrhundert als eine der wenigen erfreulichen Folgen der jüngsten Niederlagen immerhin wieder herumzusprechen begann: Gelehrte marxistischer Schule wie Frederic Jameson widmen dem Verlangen namens Utopie kundige Abhandlungen, Künstler wie der britische Trotzkist und Science-Fantasy-Autor China Miéville oder Jamesons Schüler Kim Stanley Robinson nehmen SF als modales Fenster in berechnete Raumzeiten ernst, mal pessimistisch, mal optimistisch, mal als Verzahnung progressiver mit reaktionären Dynamiken, aus denen sich ergibt, was Zukunft heißen könnte – der Spagat wird anstrengender, aber auch wichtiger; leider hat man den Eindruck, daß Sozialistinnen seit Marx für dergleichen immer erst empfänglich werden, wenn man ihnen die praktischen und operativen Optionen aus der Hand schlägt. Dabei findet man bei nichtmarxistischen Linken, etwa dem alten Fabier H.G. Wells, zahlreiche politische Stellungnahmen, Analysen und Gleichnisse, die Marx und Engels sicher besser gefallen hätten als die weit überwiegende Mehrzahl der Prophezeiungen, Propositionen und Propagandabehauptungen des marxistischen Schrifttums. (Ein anekdotischer Schlenker mag verdeutlichen, was wir meinen: Als wir einmal in aufrichtig interessierter Runde in die Verlegenheit kamen, erklären zu sollen, was aus der Sicht emanzipatorischer Hoffnungen auf die Wirklichkeit menschlicher Freiheit eigentlich gegen ein bedingungsloses Grundeinkommen oder Existenzgeld spricht – gar nicht so viel, aber doch nicht Unwichtiges nämlich –, hatten wir zunächst unsere liebe Mühe, bei den Betreffenden mit der Arbeitswertlehre zu hantieren, die man uns, einer in dieser Runde vorherrschenden Sympathie für Marx geschuldet, als Grundlage der Debatte aufzwingen wollte; sofort aber fanden wir Verständnis und nachdenkliche Gesichter, als wir das kluge Denkbild aus der Beggars in Spain-Romantrilogie der Science-fiction-Autorin Nancy Kress zu Hilfe nahmen, wonach in einer Zukunft, die durch nanotechnische und verwandte Modifikationen am menschlichen Organismus den Leuten erlaubt, Energie direkt aus Dreck und Licht, also Nahrung von der Sonne, aus dem Erdboden und von der Müllkippe zu beziehen, nach der Abschaffung von Hunger und Not eine ganze Klasse von Vergessenen entsteht – glückliche, genügsame, tierhaft selbstvergessene Bewohnerinnen und Bewohner aufgegebener Randzonen des Sozialen, an keiner politischen Entscheidung, die sie betrifft, mehr beteiligt, Leute, die einfach aus der Geschichte fallen, weil sie zwar nicht mehr durch Lohnarbeit, aber eben auch durch nichts anderes mehr sozialisiert sind. Will man, fragten wir, solche Menschen züchten, die von Abfallprodukten der Natur und der Geschichte bedingungslos versorgt werden, aber so leben, als gäbe es sie nicht? Wie gesagt: nachdenkliche Gesichter; die Kresssche Verfeinerung und Überarbeitung des bei Wells aufgemachten Spiels zwischen Eloi und Morlocks eignete sich vorzüglich als Dämpfer der Begeisterung für Schlaraffenlandreformen.)
Daß man andere Welten betreten will, auch üble, sich wenigstens in sie hineinphantasieren, leuchtet natürlich selten mehr ein als in Zeiten, da, nach dem schon zitierten Wort Piwitts, selbst die Reichen mit ihrem Geld zwar überall hinkommen, aber nicht mehr raus. Auch die pluralité des mondes, erkannte man schließlich, ist leider selbst wieder nur EINE Welt: diejenige, in der die pluralité verwirklicht ist, und wenn das Ganze unwahr bleibt, hat man von der Vielfalt gar nichts. Eskapismus im emphatischen Sinn wird, sobald die induktive und die hypothetico-deduktive Methode einmal gefunden sind und so etwas wie Wissenschaft und Systematik existieren, logisch unmöglich, wenn damit das Entkommen, und sei es gedanklich, aus der Welt gemeint ist, wie sie sich von der Vernunft in Maßverhältnisse, in ratio, aufschlüsseln läßt: Sobald die Bürger von »vielen Welten« sprechen, und selbst dann, wenn sie, um diese wirklich inkommensurabel zu machen, das Gesetz aufstellen, jene könnten nicht miteinander wechselwirken, haben sie die Welt bestätigt, zu der alle diese Welten gehören müssen, damit man überhaupt von ihnen reden kann (es ist die bürgerliche). Was man vergleicht, selbst wenn man es damit grundsätzlich unterscheiden will, hat man in einen Zusammenhang gestellt, und wie sonst soll man den größtmöglichen dieser Zusammenhänge nennen als »Welt«?
Die Unentrinnbarkeit dieses Tatbestandes ist der tiefste Grund dafür, warum so viele Künstler des Phantastischen, also Erfinder und Erkunder anderer Welten, sich auf Ausweglosigkeit verstehen wie kaum je ein Realist oder Naturalist. Von Kafka bis M. John Harrison lautet die Lehre der Anderländerfahrer: Hau nur ab, du kommst nicht davon –, John Clute über the bound fantastic, die Subgattung also, die wir von Kafka bis Harrison reichen sehen, in bewußter Überspitzung, die sich bei den Foucaultianern die Idee der epistemischen Abfolge neu erfahrener, neu gemachter Immanenz borgt, aber daraus eine Metapher macht, mit der, das zu Ändernde geändert, auch wir uns anfreunden können: »The literatures of the fantastic began consciously to evolve around 1750, just as the planet itself began to be understood as a mortal engine; (…) these literatures can be understood – and the figures human and inhuman who fill their pages can be understood as utterands (…) – of that sudden apprehension of the earth beneath our feet.«133
Es kommt von der immer wieder (zum Beispiel von Existenzialontologie und Existenzphilosophie) anthropologisch hypostasierten Konstitution des bürgerlichen Subjekts, daß dieses dazu neigt, Wechsel des Weltzugangs als Verwandlungen der Welt als solcher zu empfinden und zu beschreiben, zu denen diese Zugänge gesucht und gelegt werden: Der Zugangswechsel bedroht die Integrität des (Ver-)Handelnden durch seine Teilhabe an Gesellschaftsverträgen und Märkten, deshalb werden seine Folgen verräumlicht und verzeitlicht, ontologisiert und ins Öffentliche projiziert; Freud diskutiert das dann als Topik einander operativ befehdender Erfahrungsweisen namens »bewußt« und »unbewußt«, Vulgärfassungen sprechen, noch deutlicher in Zeit und Raum abgeschoben, gleich vom »Unterbewußtsein« (die Öffentlichkeit als solche ließe sich dem dann als »Oberbewußtsein« entgegensetzen; keine ganz verkehrte Übersetzung dessen wohl, was Teilhard de Chardin mit seiner »Noosphäre« gemeint haben dürfte). Der Verräumlichungstrick gilt allerdings nicht nur »im« Subjekt, also fürs innerpsychisch Zugerechnete, sondern auch für mediale Erfahrungsweisen, zum Beispiel den Umgang mit von elektronischen Netzen verbreiteten, in ihnen sortierten Daten: Man surft, man bewegt sich im Internet, man besucht eine Seite – in Wirklichkeit bleibt man ganz brav sitzen (oder stehen), erfährt aber Weltfenster, Welttüren, modale Durchquerungen.
Verantwortlich für die Schwierigkeit, das Funktionieren von Fantastika als modales Schleusensystem im Kontrafaktischen, in sich aber gleichwohl als kohärent Vorgestellten anders als paradox zu fassen (zum Beispiel mit den Worten von Donald Davidson, der lehrt, Voraussetzung für die Bildung der in Fantastika unerläßlichen Metaphern sei, daß es so etwas wie eine genuin metaphorische Bedeutungsebene gar nicht gebe, oder mit den Worten von Peter Hacks, Metaphern bedeuteten nie nur anderes, sondern immer auch ein wenig sich selbst), ist die Neigung des dieses Schleusensystem analysierenden bürgerlichen Bewußtseins, die Verzeitlichung als von solchen Verräumlichungen unablösbares Komplement derselben zu vernachlässigen. Aber schon die Utopien sind auch Uchronien, alternative Welten sind alternative Geschichten: Supernatural Horror (Lovecraft) ist, wenn von einem Zustand erzählt wird, der alles beendet, worin ich mich je zuhause gefühlt habe; Fantasy ist, wenn von einem Zustand berichtet wird, wie er nie gewesen ist und nie sein wird, Science-fiction ist, wenn von einem Zustand berichtet wird, der aus dem gegenwärtigen hervorgehen könnte nach den Regeln von Transformationen, die sich im Vokabular der exakten Wissenschaften (oder, erweitert und verallgemeinert, irgendeiner Spielart des Positivismus, oder, noch weiter verallgemeinert: der Aufklärung) formulieren lassen.
Der Name für dieses Widerspiel von Raum und Zeit, für Dilatation und Stauchung, für alle dabei angewandten Traumtechniken, sollte am besten der sein, der die älteste Art des Verkürzens von Schlußketten, der Zeichenumfriedung des unmarked space benennt: Magie.
Magie, die der einflußreichste Okkultist des letzten Jahrhunderts, Aleister Crowley, Magicks schreiben wollte, weil er eine Wissenschaft darin sah (der Name spielt auf Newtons Opticks an), bedeutet in der unwirklichen Kunst niemals nur Wunscherfüllung.
Adorno hat in der Ästhetischen Theorie versucht, emphatisch moderne Kunst auch da, wo sie Unwirkliches darstellt, streng von der Phantastik zu sondern, und dabei etwas richtig gespürt – Kafka ist wirklich etwas anderes als Poe. Gleichwohl hat er sich geirrt, als er daraus eine Teleologie machte, eine Fortschrittskurve, auf der Kafka weiter geht als Poe und für die Kunst immer mehr gelten soll, was in den Minima Moralia steht – Kunst sei Magie, befreit von der Lüge, Wahrheit zu sein. In Wirklichkeit liegt der Fall komplizierter, und eigenartig bleibt, daß auch Adorno, wie allen Leuten, die über Fortschritt schreiben und denen er das oft genug vorgeworfen hat, im progressistischen Zungenschlag sofort die Dialektik verlorengeht, auf die es hier ankäme.
Seit der Surrealismus bei seiner Variante einer Abschaffung der Kunst als Ideologiefließband gescheitert ist, nämlich zu großen Erfolg hatte, weil seine anti-ideologische Wirklichkeitszersetzung zur Ideologie der Seltsamkeit der Warenwelt und zum Fertigbestand der Werbung wurde, darf Magie sich in den unwirklichen Künsten, wenn sie noch Kraft haben wollen, nicht mehr freudianisch oder metaphysikkritisch gegen die normale Erfahrung kehren. Das unverbindliche »als ob« aus der vorgeschichtlichen Traumzeit ist ihr Gegenteil.
Die Magie, von der die beste neue unwirkliche Kunst (und zwar die abgelegene wie die populäre) erzählt, die trotz ihrer häufigen Rückgriffe auf den früh- bis vormodernen Fundus alter unwirklicher Kunst moderner ist als der Surrealismus, präsentiert sich als eine der wiederauferstandenen Lüge, nämlich der wiederum kunstfähig gewordenen Wahrheit der alten, toten Lüge, die sie über sich selbst nicht hat wissen wollen. Diese neue populäre unwirkliche Kunst der phantastischen Genres hat eine Erfahrung in sich aufgenommen, die Adorno noch nicht gemacht hatte und die man voreilig »Postmoderne« genannt hat. Als das »Zergehen der großen Erzählungen«, nämlich der sogenannten Weltanschauungen, das heißt der praktisch-ontologischen Systeme der alten, von Leuten wie Adorno, Edmund Wilson oder Clement Greenberg geliebten Moderne, hat diese Erfahrung den Übergang jener alten Moderne aus ihrer progressistischen Kindheit in ihre skeptische, fusselige, komplizierte Pubertät begleitet.
Die Magie der neuen unwirklichen Kunst, von David Lynch bis Buffy, the Vampire Slayer, ist Kunst, befreit von der Wahrheit, jede Kunst sei immer bloß Lüge, und von der Prätention (ohne die Adorno, Wilson, Greenberg nicht hätten arbeiten können), nur ein Kommentar dazu könne deren Wahrheit finden. Sie nimmt den Kommentar in sich hinein, die Lektüremodelle, die Archive, die Seitenwerke, Randglossen, Palimpseste. Vielleicht hätte dem negativen Dialektiker diese Drehung sogar gefallen. Sie zeigt an, was die Stunde geschlagen hat: Mitternacht, das Land von Clive Barkers ewig verfinsterter Insel »Gorgossium«.
Daß Magie nicht mehr bloß Wunscherfüllung meint, liegt aber nicht nur an den neuen geschichtlichen Bedingungen. Der Umstand speist sich noch aus einer älteren Tatsächlichkeit, die in der neomythischen Verfahrungsweise einer nicht mehr naiven modernen Kunst allerdings mit Erfolg reaktiviert werden kann: dem Wissen darüber, daß Tropen und Figuren in der Kunst sowieso nie dasselbe sind wie in der Psychoökonomie von Individuen, genau wie Religion nicht bloß an Götter delegierte infantile Magie ist (wer, wie gewisse Freudianer, nur diesen Aspekt an ihr sieht, wird sie nie verstehen).
Das bedeutet, daß nicht nur (künstlerische) Magie keine (persönliche) Wunscherfüllung, sondern auch (soziale) Phantasie kein (privater) Traum ist.
Nicht nur kluge Menschen wie der Buffy-Schöpfer Joss Whedon oder Stephen King, sondern selbst aus Unvermögen oder Faulheit naive, das heißt schlechte, auf ihre Mittel nicht reflektierende Künstlerinnen und Künstler des populären Unwirklichen beherzigen die Regeln, welche die genannten Ungleichungen erzeugen, bei ihrer schöpferischen Arbeit, mal genau und reflektiert, dann »wie im Traum«.
In einem viel zu bekannten Buch des lange Zeit viel zu beliebten Michael Ende ist die Phantasie ein Land, »Phantásien« – und als der kleine Junge Atréju die »Windriesen« der vier Himmelsrichtungen fragt, wo denn die Grenzen dieses Landes zu finden seien, erfährt er, es sei »grenzenlos«.
Das Buch, in dem die Auskunft steht, heißt Die unendliche Geschichte, der Titel ist aber weit weniger ernst zu nehmen als die Mitteilung der Windriesen. Denn nach 428 ganz normal linear hintereinander herlaufenden Seiten geht dem unendlichen Erzähler dann doch die Puste aus, und er läßt die Unendlichkeit lieber wieder auf sich beruhen. Hätte Ende den Heimcomputer, die CD-ROM und vor allem die dadurch ermöglichten Pfade beliebig kombinierbarer Hypertext-Architekturen noch bei klarem Bewußtsein erlebt, wäre er der Realisierung des scheußlichen Traums eines Buches, aus dem man nicht mehr herausfindet, einen Schritt näher gekommen – daß er aber die Dialektik der Grundvoraussetzung seiner Epik spürt und also zwar einerseits grenzenlos (= magisch), andererseits aber doch geographisch bestimmbar (= nicht einfach eine Wunschwelt des Primärprozesses, kein unmarked space, sondern topisch bestimmbar, festgelegt) findet, zeigt, daß man das sogar ohne Denken merken kann. Trotzdem geht es besser mit Verstand statt ohne. Klares Bewußtsein ist nämlich der Name derjenigen immanenten Grenze, die man im Abendland seit der Aufklärung dem Land Phantásien gesteckt hat.
Zwar liegt der Grenzstreifen, ganz wie die Windriesen sagen, weder im Westen noch im Osten noch im Norden und auch nicht im Süden, dafür aber wird er von jenen flammenschwertbewehrten Cherubim bewacht, so da heißen: Vernunft, Argument, Deduktion, Skepsis, Plan, Grund, Sinn, Zweck und Wittgenstein.
Interessanterweise gibt es zahlreiche selbstreflexive Äußerungen populärer Phantasten, die sich mit einiger Funktionslust just auf dieses klare Bewußtsein berufen, wenn es ums Wie und Warum ihrer Arbeit geht. Begriffe wie Inspiration, Traum, Fieber werden zurückgewiesen, das Handwerk und die Klarheit der Maßstäbe werden betont.
Einigermaßen sachadäquat erscheint diese Berufung aufs künstlerische Rechnen, auf den wohlgesetzten Effekt, auf »Formvernunft« (Gottfried Benn) ja noch bei den Künstlern der Science-fiction, insbesondere in der meist hyperrationalistisch sowohl erzählenden wie argumentierenden »Hard SF«, also bei Leuten wie Greg Bear, Stephen Baxter, Gregory Benford, Nancy Kress oder Greg Egan.
Die Rhetorik der sachlichen Kompetenz ist jedoch nicht Exklusivmerkmal dieser Richtung, die mit Ingenieursethos die Erbschaft der Scientific Romance der Verne und Wells angetreten hat. Sie begegnet einem vielmehr gerade auch in der Fantasy und selbst in der dichtesten Dunkelheit: beim Horror.
Stephen King etwa polemisiert in seinen sämtlichen selbsterläuternden Texten, kaum mehr zu zählenden Vorwörtern, Interviews und Essays, bis hin zur großen Studie Danse Macabre, gegen ausnahmslos alle nicht- oder vor-rationalen, freudianischen, jungianischen, lerntheoretischen, soziopsychologischen oder psychobiologischen Erklärungen, wider jede Suche nach Traumata, Noxen, Komplexen, Archetypen, Heimsuchungen und Prägungen, Automatismen, Inspirationen und Besessenheiten: Sie alle seien unzuständig dafür zu erläutern, warum er schreibt, was und wie er schreibt.
Charles Dickens, der weiter oben bereits als Mythopoet erkannte scheinbare Naturalist reinsten Wassers, steht genau auf der Grenzmarkierung – er, der gegen die Zweckvernunft polemisierte wie wenige Romantiker, aber seine Bücher mit zunehmender Reife plante wie ein Bauhausarchitekt, spielt mit von ihm entwickelten (etwa seriellen) Formen wie Inhalten für die gegenwärtige Gestalt des Unwirklichen in der Popkultur und die individuelle Biographie der meisten seiner großen Künstler von King über den Comicautor Chris Claremont bis Whedon eine kaum zu überschätzende Rolle.
Die von ihm aufgestellten Maßstäbe und durch ihn kunstfähig gewordenen Tugenden des fähigen Geschichtenerzählers, noch angesichts der abgründigsten Stoffe, des kontrollierten Stilisten und klug kalkulierenden Erzeugers von Atmosphäre, der sich auf sein Vermögen verlassen kann, selbst alles die Alltagserfahrung Übersteigende oder Verletzende als konsumierbaren Text zu organisieren, sind King und seinen Standesgenossen heilig.
Trotzdem rühren diese Leute nirgends in irgendeinem Sinn die Propagandatrommel für Logos und Ratio als Welterschließungswaffen. Umgekehrt: Selbst die Freunde der striktesten, sich während langer Absätze wie wissenschaftliche Erörterungen ausnehmenden Hard Science-fiction sprechen, wenn sie die Vorzüge des Genres benennen sollen, das sie lieben, wiederum eher vom »Sense of Wonder« als von der wissenschaftlichen Exaktheit, auf die alle Hard SF doch sonst so stolz ist.
Wie schon Dickens in Hard Times mit jeder Zeile, die er über ihn schreibt, den Haß auf jenen positivistischen Herrn Gradgrind erkennen läßt, der den wehrlosen Kindern einbimst, sie sollten sich vor allem nicht wundern, nie staunen und auf keinen Fall anerkennen, daß etwas Unwahrscheinliches geschehen kann, so behaupten die Künstler des Unwirklichen durch den mit bürgerlichem Handwerkerstolz errichteten rationalen Bau ihrer Werke jederzeit den Primat des Möglichen vor dem Wirklichen.
Das tun sie sowohl defensiv – sie lassen sich in der Schilderung ihrer planmäßigen Unglaubwürdigkeiten durch keinen common sense beirren – wie offensiv: Derselbe Stephen King, der sich, wo immer er danach gefragt wird, seine unbedingte handwerkliche Gewissenhaftigkeit und insofern einen intakten Realitätssinn bescheinigt, verkündet im Vorwort der Erzählungssammlung Nightmares & Dreamscapes: »Reality can go take a flying fuck at a rolling doughnut.«134
Und Harlan Ellison, einer der zehn wirkmächtigsten und künstlerisch bedeutendsten literarischen amerikanischen Phantasten seit dem Zweiten Weltkrieg, nennt die bei taghellem Bewußtsein angefertigten Lügengespinste der Phantastik in seinem grundlegenden Essay blood/thoughts135 sogar die einzigen Momente der Wahrheit, die Menschen in einem Leben aus niemals abreißenden Lügen erreichbar sind.
Ellison verkörpert überhaupt den scheinbaren Widerspruch von technischem, instrumentellem Kunstverständnis einerseits, das sich angstlos dem Verdacht aussetzt, letztlich banausisch, vorkünstlerisch bloß zu funktionieren, und geradezu gnostischer Weltauffassung andererseits in seiner Biographie vorbildlich.
Leute, die sagen oder schreiben, er sei etwas anderes als ein »real writer«, der genau weiß, was er tut, überzieht er schon mal mit Prozeßandrohungen, in seinem essayistischen Schaffen verdammt er Unvernunft, Aberglauben und New Age-»Paralogie« schärfer als der schärfste Popperianer – und läßt doch, wenn’s an die Substanz geht, raunend wissen, daß man gar nicht erst anfangen soll zu schreiben, wenn einem der Funke, das transzendente je-ne-sais-quoi fehlt, welches eben den »real writer« ausmache, als der er angesehen werden will.
Wie die Figur Willow Rosenberg am Ende der sechsten Buffy-Staffel könnte so ein »real writer« von sich sagen, daß er die Magie nicht nur nutzt, sondern: »I am the Magicks.«
Wie ist der hier scheinbar vorliegende Widerspruch zwischen Priester und Klempner, Seher und Ingenieur aufzulösen, unter den die Künstler des populären Unwirklichen ihr Selbstbild setzen? Liegt überhaupt einer vor? Muß jede derartige Selbstbeschreibung nicht sowieso zusammenzwingen, was nur zufällig zusammenhängt: das gültige Kunstwerk samt den in ihm erkennbaren Arbeitsspuren einerseits und die zufälligen Menschen, die es geschaffen haben, andererseits?
Was immer sonst falsch gewesen sein mag am New Criticism, einer seiner Gedanken war wasserdicht: Das je-ne-sais-quoi ist zwar auf der produktiven Seite unerläßlich (Einflüsse, Einflüsterungen, Zufälle und Zaubertricks), aber für die Rezeption und die Analyse ist das alles vernachlässigbar.
Man muß nicht wissen, welcher Dickens-Roman Joss Whedon der liebste ist, damit man beim Fernsehen um Willows tote Freundin Tara weinen oder ihre Geschichte als Erzählstruktur untersuchen kann.
Zwar war es wirklich der empirische, von irgendeiner Lektüre oder Lebenserfahrung durchgeschüttelte Joss Whedon und nicht die Immanenz narrativer Strukturgesetze oder sonst ein Weltgeist, der beschlossen hat, daß Tara in der sechsten Staffel stirbt.
Aber vom Spinner und Träumer wird er, sich in den Dialog des künstlerischen Materials mit sich selbst begebend, im Moment der Schöpfung eben zu mehr: dem träumenden Klempner, zum rechnenden Spinner, und dieses Mehr verschwindet zugleich im Werk, sobald es aufscheint.
Klammert man, wie der New Criticism das wollte, die Seite des Genusses (des Publikums) ebenso aus wie die der Selbstbeschreibung der Künstler und schaut sich die Formdynamik allein an, fällt einem schnell die Stelle auf, an deren nicht zu übertreffender Wichtigkeit das objektive, berechnete Moment der Werke ebenso Anteil hat wie das persönliche, psychologische: die sogenannte Idee.
Damit gemeint ist im Phantastischen immer der »seltsame Einfall« der jeweiligen Geschichte, das »Monster der Woche«, wie man bei Fernsehleuten spottet.
Hier sind die Magicks zuhause.
Denn am Einfall muß der Zug »Wirklichkeitssinn« entgleisen, wenn er von der Erfahrungsschiene kommen will: Die unwirkliche Idee, das Bild, die Metapher, oder um im Schienenbild zu bleiben, die Weiche, muß gestellt sein.
Im Diesseits ist sie unsichtbar, weil sie ins Jenseits führt.
Tragende Einfälle dieser Art, gute, konventionalisierbare Ideen, also Bildinhaltsfestlegungen, Verschobenes, Verhängtes, Aus- und Eingefallenes sind derjenige Dreh- und Angelpunkt im Leib der unwirklichen Kunst, der Ort, wo ihr Zufälliges und ihr Notwendiges heiße Hochzeit feiern: ihr Witz, ihr Leben, ihr Salz. Man muß diese Vorstellung und die Begriffe, mit denen man sie eingrenzt, deshalb so genau fassen wie möglich.
»Idee« klingt luftig. Das Wort meint jedoch ein Ding, auf dessen Vorhandensein zum Beispiel in einem Skript man mit dem Finger zeigen kann, nicht ein bloßes Hilfskonstrukt zur Verlegung des Möglichen ins schwer Greifbare wie »die Phantasie«. Einfälle hat freilich auch der Wissenschaftler oder überhaupt jeder Interpret irgendwelcher Daten – das Äquivalenzprinzip der Relativität, die natürliche Zuchtwahl, der Satz des Pythagoras oder der Gedanke, daß alle bisherige Geschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen sei, sind Ideen, aber bis jetzt hat Buffy es noch mit keiner vergleichbaren zu tun gehabt. Um was für Ideen es beim künstlerisch Unwirklichen statt dessen geht, kann man an einer Auswahl von Werken aus dem Großreich Fantastika relativ unproblematisch illustrieren:
Diese Beispiele muß man sich nicht ausdenken.
Man kann sie freihändig der überall in den reichen Gegenden zugänglichen Lektüre, Kinobesuchen und Videoabenden entnehmen. Das Feld des gegenwärtigen populären künstlerisch Unwirklichen ist durch sie in einigen seiner besten, schlechtesten und – wenn der Superlativ erlaubt ist – mittelmäßigsten Exponenten plastisch vorgeführt.
Ein Caveat macht sich hier unerläßlich: Über die Dignität der Werke entscheidet nicht die Originalität oder Wucht, ja nicht einmal die Lebensfähigkeit der betreffenden Ideen.
Man denke, wenn man versucht sein sollte, etwas Derartiges anzunehmen, nur an einen der Größten: Stephen King. Mit Gleichmut wagt er sich immer wieder an just die schwächsten, dünnsten und verbrauchtesten Ideen und rettet sie vor der bleichen Blödheit nur dadurch, daß er mit ihnen anstellt, was als Phantast seines Amtes ist: Er erstreitet ihnen das Terrain »Erzählablauf«, kämpft sich für sie durch technisches Gestrüpp, loyal wie nur je ein eingefleischter Monarchist gegenüber seinem debilen Monarchen, der ebenfalls Produkt generationenlanger Inzucht war, wie Kings Ideen.
Niemand, am wenigsten King selbst, wird je behaupten, diese seien irgendwie aus sich selbst heraus dazu geeignet, irgendeinen Rang, auch nur irgendeinen Wert zu stiften. Oder soll das neu, gewagt und originell sein, wenn
Die zitierten Ideen, Kings wie die obigen von anderen, haben allerdings etwas Interessantes gemeinsam, so uninteressant sie im einzelnen und für sich genommen sind: Sie werden von ihren Exekutoren nie »für sich«, wohl aber ernst genommen.
Nie ist das »als ob«, das »angenommen, es wäre« der Witz der Sache, sondern dessen Fortsetzung: WENN es so wäre, DANN hieße das …
Die Idee ist in der unwirklichen Kunst eine bloße Funktion des Glaubens an eine Welt, die ihren metaphysischen Gesetzen in allen Aspekten rigoros gehorchen müßte – das, genau das und nur das, ist das Unwirkliche daran, denn diese Gesetze sind dem Erzähler bekannt, und er muß sich an sie halten, während »das Leben« seine Erzählgesetze bekanntlich umschreiben darf, während es an seiner Erzählung strickt.
Die ständige Abhängigkeit der Erzählabläufe des Unwirklichen von der Finalität, vom Telos der Gesamtkonstruktion (und der davon rückwirkend suggerierten »richtigen Geschichte« des Ganzen), teilt die unwirkliche Idee übrigens – merkwürdig genug – mit einer anderen Sorte Idee, ausgerechnet der traumfernsten, welche die Menschheit kennt: dem sogenannten »Ansatz« im mathematischen Beweis.
Gut oder schlecht, Kurt Gödel oder Mathelehrer an irgendeiner Realschule – die Technik des jeweiligen Beweises gehört zum Handwerk: Arithmetik, Geometrie, Algebra kann man lernen, und hat man sie erlernt, gibt es Verfahren, von der auf Giuseppe Peano zurückgehenden vollständigen Induktion und ihren Gewißheiten über die natürlichen Zahlen bis zum Beweis durch Widerspruch, um etwas sicherzustellen.
Der Ansatz aber, die Entscheidung, für welche Technik man optiert und was der Knackpunkt am zu Beweisenden ist, bleibt dem, der nicht drauf gekommen ist, ein Geheimnis, das nicht dadurch weniger geheimnisvoll wird, daß er sich, einmal gefunden, wörtlich »von selbst versteht« und auch nicht originell noch wertvoll sein muß, um seinen Zweck zu erfüllen: I am the Magicks.
Ellison, King und andere haben sich beschwert, daß die penetranteste, von ihnen am wenigsten wohlgelittene Frage, die bei Autorenlesungen und Signierstunden gestellt wird, lautet: »Wo haben Sie Ihre Ideen her?«
Mathematikern wie Schriftstellern kommen die meisten Beweise für die meisten Sätze ebenso wie die meisten Geschichten über die meisten Ideen – auch dann, wenn sie diese Dinge im einzelnen so noch nie gesehen haben – »irgendwie bekannt vor«.
Die Welt der unwirklichen Genres hat noch in keinem Jahr, in dem wir ihre Entwicklung haben verfolgen dürfen, irgend etwas hervorgebracht, das unvordenklich neu gewesen wäre.
In der Physik, der Biologie, der Astronomie und allen anderen, nach Popperschen Kriterien nicht beweisfähigen Wissenschaften ist das anders: Dort findet man noch immer, was keiner je gesehen hat.
Woher kommt dieser Unterschied zwischen der Ewigkeit und Wiedererkennbarkeit des Unwirklichen auf der einen, des Empirischen und Einzelwissenschaftlichen auf der anderen? Warum überrascht uns die Wirklichkeit, während uns Unwirklichkeit (und ewige Mathesis, in der die Lösungen schon in den Problemen enthalten sein müssen, damit die Deduktion überhaupt möglich wird) immer nur Dinge zeigt, die uns am Ende bekannt vorkommen (»einleuchten«), auch wenn sie uns selbst nie eingefallen wären?
Die Quelle des Unterschiedes ist, daß die Ideen in der Mathematik wie im Genre zwar aus Traditionen stammen und solche fortsetzen, aber zugleich nicht deterministisch, regelhaft, nicht reduzibel und algorithmisch gefunden werden, sondern augenblicksweise, als Setzung, Einschnitt, ohne Vorlauf. Es sind Kierkegaardsche Glaubenssprünge, wie die »suspension of disbelief« beim Publikum, und die fangen immer gleich an: Gesetzt also den Fall …
Sobald so etwas einmal gesetzt ist, spult es eine Welt von sich ab.
Erscheinung und Wesen fallen daher in Beweisansätzen und unwirklichen Ideen jeweils zusammen, ja dieser Effekt genau ist es, den die Mathematiker und Phantasten überhaupt suchen. Denn die mathematischen Sätze, wenn sie beweisbar sind, und die Ideen der unwirklichen Erzählungen sollen ja wie die inneren Gesetze der Magicks in ihrer Geltung durch nichts Erfahrbares mehr erschütterbar sein, frei von den Schlacken der Praxis, der Weltaneignung. Weltkonstruktion ist eben deren Gegenteil. Was die Konstruktion finden will, dauert an »für immer und unter allen Sonnen« (John Ferrar Holms).
Mathematische und unwirkliche Ideen sind, sagen wir daher, notwendig in etwas eingebettet, das wir, Harlan Ellison ebenso folgend wie dem späten Kurt Gödel, aufgrund dieser ihrer Irreduzibilität auf jede Erfahrung, jede Praxis, letztlich: jede Wirklichkeit nicht anders nennen können als: die Wahrheit.
Waren die guten, schlechten, lebenswichtigen Ideen eigentlich wenigstens irgendwann mal neu? Heißt die Moderne nicht deshalb so, weil ihr das Neue wichtig war?
Na gut: Bei Poe und seinem Verehrer Baudelaire hat der Zyklus, das Immerwiederaneignen, das Einleuchtendmachen und Neuschaffen sich noch anders angeschaut. Nix Nietzsche und ewige Wiederkehr, kein Joyce im Vicoschen Kreis.
Aber man wollte ja Geschichte machen, und damit hat man sich die grundlegende Antonomie des Neuen zugezogen. In informationstheoretischer Sprache – es wäre auch eine andere recht, da gibt es nichts hineinzugeheimnissen, aber diese ist handlich – geht diese Antinomie so: Einerseits ist nur das informativ, womit wir nicht schon rechnen, andererseits ist das schlechthin Unerwartetste der totale Unsinn, das entropische Geschliere, pure Rauschen, denn das hat keine Struktur, die sich vorhersehen ließe.
»Neue Ideen« können auf Dauer schon deshalb nicht Materialquelle immer neuer wahrer Welten für die unwirkliche Kunst werden, weil man irgendwann mit ihnen rechnet: Komm schon, überrasch mich, Künstler.
Wir haben in den letzten zehn Jahren diese Ermüdungsdynamik in Kino und Fernsehen ganz gut an einem technischen Spezialfall betrachten können. Der hieß »computergenerierte Effekte«: Man kann, zeigt die Erfahrung, nur eine begrenzte Zeit lang exklusiv davon leben, den Leuten etwas zu zeigen, was sie noch nie gesehen haben – morphende Gesichter, in Herden einhertrampelnde Saurier, Roboterarmeen –, dann fängt die Flucht vor dem Ennui in die Verfeinerung an, in die Sekundarität, den Zitatismus, die Mythenstiftung, und vielleicht muß man sich irgendwann sogar wieder darauf verlegen, Geschichten zu erzählen.
Schon die angeblich so neuheitsselige Beziehung Poe–Baudelaire legt für das Gebäude des Nicht-ganz-so-neuen-Neuen übrigens den Grundstein: Sie war eine der Wiederholung, nämlich des Imports. Neophilie ist fürs Moderne weniger konstitutiv, als die Modernen selber glaubten.
Als Edgar Degas sich schließlich beschwerte, er habe die Schnauze voll von all dem Kunstunfug, es liege weiß Gott nicht an fehlenden Ideen, daß ihm alles so sauer werde, davon habe er genug, ja übergenug, viel zu viel, konnte Mallarmé schon antworten: »Mais, Degas, ce n’est point avec des idées que l’on fait des vers … C’est avec des mots.«136
Das war sie, die Moderne, die Adorno und Greenberg liebten, und die noch in späten Äußerungen wie der des Malers Albert Oehlen, eine Idee sei ja etwas ungeheuer Elendes, weiterlebt: Besinnung auf die Arbeitsmittel ist das Moderne, die Idee etwas nur Krudes, Vorkünstlerisches, Archaisches. Dessen bewußte Wiederaufnahme, dessen Rückeroberung nach dem Verlust der Unschuld, wenn man bereits in dem Stadium ist, da die künstlerischen Arbeitsmittel (»des mots«) von der Kunst reflektiert werden, ist eine wesentliche Voraussetzung des neuen Phantastischen und unterscheidet es fundamental von Märchen, Sagen und Flunkergeschichten, von denen Kafka trotz seines mythischen Tons und seiner spukhaften Themen abzugrenzen Adorno deshalb jedes Recht hatte.
Wovon aber handeln die wiederauferstandenen Ideen, was ist ihr Gegenstandsbereich?
Noch mal in informationstheoretischer Sprache, geborgt bei Gregory Chaitin: Der »Gehalt« einer Idee läßt sich als der Umfang, der Komplexitätsgrad des künstlerischen Verfahrens definieren, mit dem sie dargestellt, simuliert werden kann.
Die Idee ist das, was man nicht weiter kürzen kann, ohne das unwirkliche Kunstwerk zu zerstören. Über die Ideen kommuniziert das unwirkliche Kunstwerk als tatsächliches mit der Bedingung seiner Möglichkeit – der Wahrheit, wie wir das polemisch genannt haben.
Diese Wahrheit ist also nichts Platonisches, nicht mal das Hegelsche »Ganze« der Gattung, die hier untersucht wird. Wenn man die gängig »postmodernen« Anstandsregeln der Ästhetik wie der Philosophie im weiteren Sinn unbedingt unverletzt lassen will, mag man sich diese Wahrheit für die Zwecke, um die es geht, sogar gut französisch als reine Verhältnisgröße denken statt als Sache oder Essenz. Sie erlaubt es einfach, die konkreten Einfälle noch von was anderem zu unterscheiden als nur der Sorte Sinnesdaten, mit der uns Wirklichkeit versorgt – von denen verschieden wäre ja jeder Gedankeninhalt, da würde die spezifische Differenz, die in der Hauptwort-Adjektiv-Kombination »unwirkliche Kunst« steckt, abgeschliffen.
Man kann die Schulter zucken über diese traditionalistische Wortwahl: Na und, was er da »Wahrheit« getauft hat, das sehen wir dann eben einfach als die »leitenden Strukturen« dieser Kunst an und kümmern uns nicht darum, daß er diesen Strukturen zusätzlich noch das für uns sowieso irrelevante »Kompliment« (Richard Rorty) macht, daß sie stimmen.
Für praktische Absichten bleibt es sich ja wirklich gleich; es ist wie in der Quantenmechanik: Die Rechnungen mit der Schrödinger-Wellenfunktion führen, ganz wie Bohr und Heisenberg, zwei physikalische Poststrukturalisten ante verbum, richtig festgestellt haben, auch dann zu korrekten Voraussagen, wenn man nicht »dran glaubt«, daß den Wellen irgendwas »Reales« entspricht. So sieht es analytisch aus, im Kontemplativen, Sauberen.
Sobald man aber, beispielsweise, selber unwirkliche Kunst produziert, sobald das Bild, das wir gezeichnet haben, praktisch wird, kann man diesen Quietismus nicht aufrechterhalten.
Zu streng verlangt die Wahrheit in Gestalt verbindlicher Formen der deshalb gern sogenannten »Genres« nämlich, daß man sie nicht verletzt bei dem, was man erfindet, daß man sie glaubt oder doch sich so verhält, als täte man’s, was zynisch, rein instrumentell wahrscheinlich nicht durchzuhalten ist (ein Roboterroman von jemandem, der künstliche Intelligenz »heimlich« für Quatsch hält, wäre schon eine ziemliche Leistung, aber nicht unbedingt gut, und als Erzähler müßte der Autor sich jedenfalls dann doch so verhalten, als fände er plausibel, was seine Geschichte voraussetzt).
»Science-fiction« ist so eine Wahrheit, »Horror« wäre eine andere.
Wer etwas filmen will, das als »Der Werwolf aus der Nachbarschaft greift an« aufgefaßt werden soll, oder etwas schreiben, das mitteilt: »Die kaputte Zeitmaschine schafft große logische Probleme«, darf nicht einen Schritt vom Weg abkommen, es sei denn so, daß er den Weg damit bestätigt, weil die Übertretung tödlich ist und man das auch sieht: hic sunt leones.
Die Dinge liegen da wie immer beim Konkreten und Allgemeinen, wie bei der einzelnen Zugreise und dem Fahrplan: Wahr ist ein Ensemble abstrakter Möglichkeitsbedingungen für das Auftreten von variablen Einzelereignissen, die dafür dann statt wahr im Einzelfall immer nur wirklich sein können. Wirklich ist das Werk, wahr seine Idee.
Wohlgemerkt: Was auftritt, damit das Werk existieren kann, sind Ereignisse, also nicht einfach Sachen, Objekte, Waren, Platten, Bücher, Tapes, DVDs.
Das Unwirkliche funktioniert wie das Wirkliche, dessen natürlicher Feind es ist, wesentlich dynamisch (auch ein Bildinhalt von Goya ist kein Zustand, sondern ein Ereignis, weil er nur wirkt, wenn man sich die Folgen vorstellt oder die Vorbedingungen – was ist passiert, daß sich uns dieses Bild bietet –, weil also die entscheidende Frage immer eine ist, die man mit einer Erzählung beantworten kann). Eine Ontologie des Erzählens – hier versagen die meisten Narratologien – muß eine Ereignisontologie sein.
An einer seltsamen Stelle in Adornos Ästhetischer Theorie kommt er aufs Phantastische explizit zu sprechen. Da behauptet er, es habe in der Moderne aufgehört zu existieren, weil durch die Ablösungvon der Mimesis der empirischen Welt die neue Kunst aufgehört habe, realistisch und dialektischerweise deshalb also auch: phantastisch zu sein.137
Aber auch die vormoderne Kunst hat jene »empirische Welt« ja nie besessen, nicht nur weil, wie die Poststrukturalisten lehren, Mimesis immer auch Verschiebung und Verweis und Trennung ist, sondern weil die Domäne der Kunst noch nie die Welt, sondern immer schon die Wahrheit war und es davon zwei gibt: die Wahrheit dessen, wie die Dinge sind einerseits und die Wahrheit aller möglichen Beschäftigungen damit andererseits.
Die erstere ist die der unwirklichen, die zweite die der wirklichen, von Adorno bevorzugten Kunst, vom Naturalismus bis Beckett. Adorno überschätzt den Bruch zwischen den beiden Sorten von Künsten, wenn er ihn zu einem Epochenbruch macht – nur weil er, in Wien, bei Schönberg und Berg dabei war, als wieder mal eine ganz bestimmte Wahrheit der möglichen Beschäftigung mit der Welt sichtbar wurde, nämlich die, daß man sich auch mit den Darstellungsmitteln selber als Material begnügen kann, wenn man sich fürs Darstellen interessiert, und auf Abbildung wie Ausdruck verzichten darf.
Gegenstand der Wahrheit dessen, was Adorno für Moderne schlechthin hielt, waren also die Wörter (siehe das Mallarmé-Zitat oben), Noten (später: Klänge), Farben, Formen, endlich das Publikum, das Museum, die Kritik etc.
Seither wiederholt sich auch das immer wieder, genau wie die Wahrheiten der unwirklichen Kunst. Letztere konnten nur deshalb so wichtig werden und am vorläufigen Ende immerhin den gesamten Bereich der Gebrauchskunst dominieren, weil ihnen – das heißt ihren klügsten Praktikern – das mit der Reflexion der Kunst auf ihre Mittel in den wirklichen Künsten klar ist und sie es ihrer eigenen Praxis anverwandeln können, weil sie in den besten Fällen sogar explizit machen können, was die anderen nur methodisch ihrer Arbeit introjizieren, da die Phantasten sich von vornherein nur für Wahrheit, nicht für Wirklichkeit oder Welt interessieren.
Die unwirklichen Künste sind also nicht überholt, wie Adorno glaubt, sie sind aber auch nicht die Zukunft, wie manche Science-fiction-Fans denken, sie sind nur, wenn die Leute, die sie schaffen, wissen, was sie tun, über sich als Künste von vornherein aufgeklärter als die realistischen und die naturalistischen, die sich diese Aufklärung nur über emphatische Anbindung ihrer Werke an das Programm »Moderne« verschaffen konnten und können.
Das ist alles, aber nicht wenig.
Ein erster Schritt zu einer funktionalen unwirklichen Ästhetik, zu einer Wahrheitstafel der Wahrheiten, die Fantastika ermöglicht und die Fantastika ermöglichen, wäre, sich nicht mehr einschüchtern zu lassen von der erwähnten Adornostelle aus der Ästhetischen Theorie. Wenn man die Wertung (phantastische Kunst ist durch moderne überholt) nicht teilt, sondern funktionalisiert (Moderne heißt, daß sich die Arbeitsteilung zwischen realistischer und unwirklicher Kunst anders organisiert als vorher), kann man dann vielleicht auch wieder anerkennen, daß Adorno recht hat, wo er recht hat, nämlich auch an besagter Stelle, wenn er gegen den naiven, vorkritischen Versuch einiger Leute, von ihm geschätzte moderne Kunstwerke in einen gedachten phantastischen Kanon einzureihen, spöttisch schreibt, nur Literaturhistoriker könnten Kafka und Meyrink, nur Kunsthistoriker Klee und Kubin unter dieselbe Kategorie bringen.
Wenn bei der Begriffsarbeit, die wir uns da vorstellen, nicht herauskommt, daß Kafka besser ist als Meyrink und Klee wichtiger als Kubin, ist etwas schiefgegangen. Schließlich soll ja auch rauskommen, daß King besser schreibt als Koontz und Buffy, the Vampire Slayer besser ist als »Charmed«.
Ästhetik ohne Wertung ist Warentausch pur, auch wenn Ästhetik mit Wertung sich in die Gefahr begibt, Kaufempfehlung zu sein – das nimmt man in Kauf, der Wirklichkeit wegen.
Je nach Genre ist das Wahre, auf das die erzählerische Idee und das ästhetische Ereignis, in dem sie sichtbar wird, sich beziehen müssen, mal eher ein Mythenbestand, mal ein positives Wissen oder eine Hypothese aus dem Fundus der Naturwissenschaft, mal einfach die inzwischen entwickelte Tradition der Genres selber (Zeitmaschinenfiktionen beziehen sich ebenso eindeutig auf H.G. Wells wie auf die Zeitvorstellungen der modernen Physik) und, als Verallgemeinerung dieser letzten Option, irgendeine als ausreichend gegeben ausgewiesene moderne Tradition oder traditional gewordene Moderne, und schließlich spielt oft genug auch die persönliche Erfahrung und Erinnerung der Künstler an erlebte Inkongruenzen innerhalb der empirischen Welt in die Gestalt der Wahrheit mit hinein.
So zufällig das Wahre im Abgleich all dieser nach stattgehabter gestaltender Arbeit schwer voneinander zu scheidenden Spender von Ideenkristallen zustande gekommen sein möge: die Strafe, die darauf steht, es zu verletzen, ist der Zerfall des Gebildes.
Wie eisern eine Wahrheit dieser Art ein Subjekt auf sich festlegt, das sich in ihr bewegen und dadurch als ästhetisches Subjekt konstituieren will, zeigt allegorisch die Buffy-Folge Normal Again, in der Buffys Psychiater sie aus ihrer Wahrheit befreien will, die er »a fantastic world beyond imagination« nennt und verurteilt – mitsamt ihren »overblown, grand conflicts« sowie »an assortment of monsters, both imaginary and rooted in actual myth«.
Es sind »alternate realities, nitwit« (Buffys Vampirbekannter Spike), ereignisförmige Ausgeburten der Wahrheit, die aus Buffy erst Buffy machen, Wirklichkeiten, in denen, wenn der Arzt recht hätte, die handelnden Personen, die Subjekte des Erzählten, Buffy,Xander, Willow, die Monster der Woche, auch Spike, nach des letzteren Worten nichts als »little figments of Buffy’s funny farm delusion« wären.
Damit figments (Einfälle) sich in der Wahrheit (funny farm delusion) entfalten und verwirklichen können, müssen die Irren wie die Künstler beachten, was Sigmund Freud für Traum-, Fehlleistungs- und sonstige Verdichtungs- oder Verschiebungsprozesse im Symbolischen »das Entgegenkommen des Materials« genannt hat: die Macht der Analogien, das Gesetz »like affects like«, die zahllosen Entsprechungen zwischen Makro- und Mikrokosmos: das älteste Spiel der Welt, Animismus, Synthesis, konstruktive Verwechslung, Voodoo. Das heißt allerdings nicht, daß moderne unwirkliche Kunst sich, wie der Vulgär-Saussure der Seminare das von fast allem glaubt, als freies, nur durch sich selbst beschränktes Spiel der Zeichen ohne Bezeichnetes verwirklichen würde: Die Puppen, in welche die Nadeln gepikt werden, stehen nicht für andere Puppen – aber eben auch nicht einfach für Leute, die man kennt. Die Frage wäre: Ob sie überhaupt »für« etwas stehen, ob es nicht die Puppen selber sind, die schreien, wenn der Künstler/der Irre sie mit der Ideen-Nadel sticht.
Die Puppen: Übers Unwirkliche an den populären unwirklichen Künsten haben wir jetzt lange und breit geredet, und alles ist noch nicht gesagt. Es wird aber höchste Zeit, auch einmal übers Populäre daran zu reden – die Analogie-Puppen für die Sorte Voodoo, um die es hier geht, sind nämlich massengefertigt, Fabrikware.
Der intelligenteste Ungläubige in Sachen kritische (unterscheidende) Popkulturbegleitung, dem wir bislang begegnet sind (er soll, weil er in diesem Zusammenhang nicht zitiert zu werden wünscht, namenlos bleiben; wichtig ist nur, daß er einem öffentlichen, schreibenden Beruf nachgeht, erfolgreich übrigens), hatte außer Amüsement darüber, daß die Einführung von Wertungen in die Popbetrachtung doch tatsächlich den alten Unterschied »E« versus »U« reproduziert (aber natürlich, so ist er ja entstanden und immer reproduziert worden, spätestens seit Shakespeare, den Zeitgenossen mit Recht als »Fatzke«, »Budenbesitzer« und »Menagerieprolet« [Benn] beargwöhnten), vor allem einzuwenden, eine Einstufung »dieser Dinge« (Buffy, the Vampire Slayer, Pink Floyd, Archie-Comics) als Kunst ignoriere die beiden sehr wichtigen Kunstkriterien: a) Haltbarkeit (wir Heutigen kennen Homer, Leonardo und Wagner immer noch, obwohl sie, wie ihre minder geniale Konkurrenz, längst vergammelt sind), und b) Unwahrscheinlichkeit respektive Seltenheit (was ist das für eine Kunst, von der am Tag hunderttausend verschiedene Werke entstehen, und jedes dieser hunderttausend geht dann auch noch in Millionenstückzahl über den Sender oder in die Läden?).
Zu a): Ist religiöse Kunst wertvoller als profane Landschaftsmalerei, weil die Leute länger an Götter glaubten, als sie in der Natur lustwandeln konnten und können? Nein, lustwandeln konnten sie bloß nicht früher, als die Produktivkräfte so weit waren, Stichwort »Emanzipation vom Naturzusammenhang«, deren noch nicht ganz abgeschlossenes erstes Aufbruchsstadium die Götterei war, an die wir uns deshalb immer gern erinnern.
War Blake ein guter Künstler, als er lebte, ein schlechter, als er kurz darauf vergessen wurde, und dann wieder ein guter, weil ihn zufällig jemand wiederentdeckte? Das Kriterium »Haltbarkeit«, wollen wir damit sagen, unterschätzt den Zufall wie den Fortschritt.
Es ist, in seinem gewollten Historismus, selber unhistorisch und leugnet 1.) die Tragödie, daß es ganz sicher Kunst gegeben hat, die besser war als die erhaltene, aber eben irgendwelchen Bücherverbrennungen, Eroberungszügen und Künstlertodesfällen samt Hausratsauflösungen zum Opfer fiel, sowie 2.) die Tatsache, daß alles immer besser wird (wie wir das meinen, wird noch zu erklären sein, es muß jedenfalls geleugnet werden, weil ja auffällt, daß niemand etwas davon hat und man sich das irgendwie erklären müßte – wie kann alles immer besser werden und es allen dennoch nicht wirklich gut gehen, ja, wie können sich außerdem Zeichen finden lassen dafür, daß alles das, was da immer besser wird, zugleich auch immer schlechter wird, wie läßt sich dieses Paradox auflösen oder wenigstens verstehen? Aber da wird es gefährlich, und das Bestehende gerät in den Blick, nebst dem Umstand, daß es vielleicht gar nicht wert ist zu bestehen, wenn es die vorhandenen Verbesserungen auf Produktionsebene so schlecht nutzt).
Zu b) Ja doch, wir leben im Industriezeitalter. Auch die »Kulturindustrie«-These von Horkheimer und Adorno hat diesen Umstand, verwöhnten Gaumens, nicht recht schmackhaft gefunden, aber davon ändert sich daran nichts (die Produktivkräfte sind halt so weit, wie sie sind; der Schuster hat ausgedient, die Fabrik liefert den Schuh, und er könnte sogar haltbar sein, wenn ihn die Aktiengesellschaft nicht absichtlich schrabbelig machen ließe, um bald wieder neue verkaufen zu können).
Mit anderen Worten: Der Affekt, Popkunst von »richtiger« Kunst sondern zu wollen, ist – durchaus ehrenwert – einer gegen die Anerkennung des Standes der Produktivkräfte. Man will nicht zugeben, daß massenhaft und schnell für Massen und den Augenblick produziert werden kann und längst wird, sonst müßte man auch zugeben, daß Markt und Privateigentum an Produktionsmitteln dem besagten Stand der Produktivkräfte, die längst vergesellschaftet sind und nicht mehr privat, anachronistisch aufsitzen.
Die Exklusivität der Kunst wird verteidigt; die des Besitzes läßt sich gern mitmeinen, in der richtigen Ahnung, daß jenseits dieser beiden Exklusivitäten nur die Barbarei oder etwas sehr nebelhaft Besseres kommen können, und der noch richtigeren, daß die Barbarei einstweilen die besseren Karten hat. Wäre man der Meinung, daß das Bessere so nebelhaft nicht sein müßte, dann dürfte man schließen: Die beiden Argumente sind gegen dieses Bessere gerichtet, gegen den Gedanken, daß die Gesellschaft nicht nur aus ideellen, sondern aus bereits vorhandenen materiellen Gründen heraus sehr wohl verbesserbar ist – als solche sind sie stimmig und respektabel, schon weil sie intelligenter sind als der ganze real existierende Sozialismus, der die westliche Popkultur, die doch dem objektiven Stand der Vorbedingung jeden Sozialismus, bereits vergesellschafteter Produktion auf die Not eliminierendem Stand, korrespondierte, als »dekadent« verbellte. Wenigstens diese verkniffenen Möchtegernkleinbürger sind wir los.
Wiederholungen auf höherer Stufe im genannten Sinn sind mit einem bloß strukturalen Wiederholungsbegriff, wie das die deleuzianischen Filmanalysen unserer Tage immer wieder tun, deshalb gar nicht zu erfassen: Sie sind dynamisch, sie machen etwas nicht nur neu, sondern besser, was sie aus dem alten Wahren des Genres holen.
Wie schaffen sie das, wie nutzt man die Ressourcen, wie geht das methodisch?
Die älteren Muster werden zwar vorausgesetzt, auch beim Publikum, aber nicht (wie beim Plagiat) als abzupausende Vorlage oder (wie beim formelhaften »Hackwork«) als verläßliches Fahrgestell für ein oberflächlich neues Chassis, sondern als gültige Tiefenordnung der Welt, aus der man herausholt, was herauszuholen ist.
Was sich in der dann abspielt, ist ein Ereignis: Es schreibt diese Tiefenordnung nicht einfach aus, sondern zeigt, was passiert, wenn sie gilt und Leute trotzdem versuchen, ihre Freiheitsgrade zu finden und zu nutzen: Wieviel Freiheit hat ein Frankensteinmonster, kein Frankensteinmonster zu sein, wieviel Überraschung verträgt das zum Zerreißen gespannte Klischee? Die Wahrheit, die Struktur der Genre-Überlieferung, wird so als ein Agencement von Naturgesetzen und einer ihnen gehorchenden Naturgeschichte behandelt, als etwas, das man nur bei Strafe des Untergangs ignorieren darf.
Anders gesagt – und so allein sind wir überhaupt darauf gekommen, hier von Wahrheit statt nur von einer Struktur zu sprechen –, das Bekannte, auf das man sich bezieht, gilt dem wirklich verantwortungsvollen, dem guten Künstler dieser Sphäre eben nicht nur als vorhanden, sondern als richtig, als wahr: daß der Künstler es nicht verletzen darf, gibt er dadurch zu, daß er zeigt, daß seine Figuren sie nicht ungestraft oder kostenlos verletzen dürfen (und es doch versuchen müssen, damit das sichtbar wird).
Wie ernst große Phantasten diese Lage nehmen müssen, wie wenig sie sich einfach räuberisch und Elemente verschiebend beim Fundus bedienen dürfen, mag eine kleine Geschichte verdeutlichen.
Als Harlan Ellison einmal für eine große Filmfirma Drehbücher entwickeln sollte, wurde er am ersten Arbeitstag ins Büro des Produzenten bestellt, der ihm einen Riesenstapel alter SF-Heftchen zeigte und sagte: »Suchen Sie sich was aus, adaptieren Sie es, Sie haben das Talent und den Stil.«
Ellison wehrte wütend ab: »Das kann ich nicht machen.«
Der Produzent seufzte: »Das sieht doch eh alles gleich aus, wer würde es wissen?«
Ellison stand auf und verließ den Raum mit den Worten: »ICH würde es wissen, Sie erbärmlicher Idiot!« 138 – und mit »ich« meint er hier, im von der Kunst gedeckten Größenwahn des großen Künstlers: die Kunstgeschichte, die Autorität des Kanons.
Es ging Harlan Ellison, als er den dummen, ihn zum Plagiat auffordernden Filmproduzenten abgefertigt hat, nicht um Moral.
Er wollte auch nicht suggerieren, man – das heißt er – müsse, um dem Genre – in diesem Fall der Science-fiction – gerecht zu werden, erst auf Ideen kommen, die es noch nie gab.
Das geht nicht, um es noch mal deutlich zu wiederholen: Alle Storys sind, wenn sie zu etwas gehören, das man überhaupt als Genre erkennen kann, schon aus diesem Grund hinreichend »ähnlich«, Plagiatsverdächtigungen möglich zu machen, wie alle mathematischen Beweise »verwandt« sind.
Aber der schöpferische Prozeß zwischen Wahrheit und Unwirklichkeit, der das Kunstwerk ist, darf nicht willkürlich stillgestellt werden – Wahrheit ist für die Ereignisse, von denen erzählt werden soll, so etwas wie die Raumzeit in der allgemeinen Relativitätstheorie gegenüber dem, was in dieser die Masse ist. In Abwandlung eines berühmten Satzes von John Archibald Wheeler könnte ihr Gesetz lauten: Die Wahrheit sagt der Idee, ob und wie sie sich bewegen darf, während die Menge aller möglichen Ideen wiederum der Wahrheit sagt, wie sie »im Großen« geformt ist.
Die Pointe dieses Gesetzes ist eigentlich recht düster: Die unwirkliche Kunst benimmt sich offenbar mit Fleiß nicht wie Kunst in der modernistischen, antimimetischen Kunstideologie von Adorno bis Greenberg, sondern so, wie sich eigentlich die Naturwissenschaften nach dem Willen Bacons benehmen sollten. Die unwirkliche Kunst »hat« eine Welt, die genau so ist, wie sie eben ist, und das Thema der Erzählung kann dann nur sein, was für die Menschen oder sonstigen Subjekte daraus folgt, daß die Welt so ist, wie sie ist. Wenn also etwa der Werwolf Oz in der Buffy-Folge Gingerbread einen längeren erklärenden Monolog aus dem Mund des verzweifelten Erwachsenen Giles, der den jugendlichen Hauptfiguren klarmachen will, warum sie es plötzlich mit Hänsel und Gretel zu tun haben, mit den einfachen Worten zusammenfaßt: »Fairy Tales are real«, dann formuliert er damit das Grundgesetz der unwirklichen Kunst, an dem sich Tzvetan Todorov, dessen Bestimmung des Phantastischen als etwas, das von Ambiguität lebt, wir ablehnen, weil sie nur einen kleinen Ausschnitt der Künste erreicht, die Clute und wir »Fantastika« nennen (nämlich den vorsichtigen, an den hochmodernen High-Art-Kanon anschlußfähigen), noch die Zähne ausbeißen mußte, was er immerhin mit dem längeren Seufzer zugab, mit dem er für tautologisch erklärt, was – für einen Strukturalisten absolut unangenehm – ontologisch gemeint ist:
»Man könnte das Problem auf andere Weise eingrenzen, indem man von den FUNKTIONEN ausginge, die das Fantastische im Werk hat. Es ist angebracht, sich zu fragen: Was leisten die fantastischen Elemente für ein Werk?
Geht man von diesem funktionalen Gesichtspunkt aus, kann man zu drei Antworten gelangen. Erstens erzielt das Fantastische einen speziellen Effekt beim Leser – Angst oder Grauen oder einfach Neugier –, den die anderen literarischen Gattungen oder Formen nicht hervorrufen können. Zweitens dient das Fantastische dem Erzählen, es erhält die Spannung: Das Vorhandensein fantastischer Elemente erlaubt eine besonders gedrängte Organisation der Handlung. Drittens schließlich hat das Fantastische eine Funktion, die auf den ersten Blick tautologisch ist: Es ermöglicht die Beschreibung eines fantastischen Universums, und dieses Universum hat deshalb noch keine Realität außerhalb der Sprache. Beschreibung und Beschriebenes unterscheiden sich der Natur nach nicht.«139
Das Tautologische, das Todorov hier irritiert, ist ja einfach das Tautologische jeder Ontologie, die notwendig der Identität einen Vorrang über die Vermittlung einräumen muß – a ist bei ihr halt a, »jedes a ist selber dasselbe« (Heidegger). Für tautologisch, also irgendwie anrüchig, kann Todorov das nur halten, weil für einen Strukturalisten Kunst eigentlich keine Ontologie »hat« oder »voraussetzt« (sie gerät ihm dann an entscheidender Stelle seiner Untersuchung als »Semantik« aber doch in den Mittelpunkt: Offenbar bezieht sich das Fantastische dauernd auf irgendwas, das darin wichtiger ist als alle strukturell signifikant verfugten Teile seiner Erscheinungsweise).
Wenn die ontologische Art des Denkens Geltung für die verbindliche soziale Welt beansprucht, in der man lebt, zeitigt es bekanntlich genau jene Autoritarismen, die Adorno an Heidegger aufspießt. Ihnen entgeht Ontologie nur, wenn sie zugibt (und zunächst mal überhaupt weiß), daß sie aus Effektgründen eine ist, daß sie funktional, teleologisch funktioniert, daß sie der Ort innerhalb eines Behauptungsgeflechts ist, an dem das Erkenntnis- oder Darstellungsinteresse kodifiziert werden kann.
Die Wahrheit des »Diese Welt, in der meine Geschichte spielt, ist so, wie sie ist« ist nur um der Effekte willen wahr.
Das heißt, der Herr ist auch hier der Knecht des Knechts: Die Wahrheit der Unwirklichkeit ist ihre Mutter, aber auch ihre Dienerin.
Nicht Heidegger, sondern der christliche Phantast Clive Staples Lewis stellt seinem Märchen Out of the Silent Planet, das den schönen Sonderfall einer als Erzählung getarnten Polemik gegen einen anderen Erzähler – nämlich H.G. Wells – enthält, quasi entschuldigend die Vorbemerkung voran: »Certain slighting references to earlier stories of this type which will be found in the following pages have been put there for purely dramatic purposes.«140
Leibnizens Frage, Springquell aller Ontologie bis heute, warum überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts sei, ist in der unwirklichen Kunst also beantwortet: for dramatic purposes.
Daß eine ontologisch verfahrende Sorte Kunst auf Moral nicht verzichten mag, macht sie gewiß nicht schlechter. Daß Stephen Kings Werke durchgängig liberale, optimistisch-amerikanische, humanistisch-christliche Erbauungsliteratur sind, hat an vergleichsweise entlegener Stelle einmal kein Unerwarteterer als Jan Philip Reemtsma bemerkt.
Moral heißt auch in Buffys Welt: den Widerspruch zwischen der mythologischen Ontologie, dem vampiresken Kosmos, den alten Prophezeiungen auf der einen Seite und dem Bedürfnis, ein eigenes Leben, eine eigene Geschichte auf der anderen Seite zu haben, nicht einfach nur irgendwie auszuhalten, sondern ihn anständig auszuhalten: frei, aufrichtig, verantwortlich und freundschaftlich.
»There’s no ancient prophecy about a chosen one and her friends«, sagt Buffy gegen Ende der vierten Staffel bitter, als der Freundeskreis unterm Gewicht der toten und wiederauferstandenen Geschlechter auseinanderzubrechen droht. Daß er das dann doch nicht tut, daß man zusammenhält, ist »something heroic«: Buffy geht nicht in den vorbürgerlichen (und, wenn das pessimistische Geschichtsbild stimmt, das diese Betrachtungen grundiert: soeben beginnenden nachbürgerlichen) Erwähltheitszuständen und Gewaltverhältnissen auf, die ihre Welt ausmachen.
Alles um sie her, man könnte sagen: der Zusammenbruch der bürgerlichen Welt und sein Einsinken ins mythisch Unmittelbare, in die Titanomachien unerkennbarer »postmoderner« Götter des sterbenden Akkumulationsregimes der Neuzeit, ragt alt, böse und mythisch, noch im Fallen. Buffy spielt nicht einfach mit dabei, wie die brave, nach dem Slayer-Handbuch arbeitende Slayerin Kendra, die trotz allen Gehorsams (in Wahrheit genau seinetwegen) sterben muß, nämlich von der Vampirin Drusilla getötet wird.
Umgekehrt aber verweigert Buffy sich dem um sie regierenden Mythos auch nicht einfach: Die Ontologie ihrer Welt, die ja wahr ist, einfach autistisch zu verkennen, also wider besseres Wissen zu leben, wäre für sie schlimmer als die in Normal Again gezeigte Katatonie.
Was also tut Buffy, worin ist sie Vorbild, wenn sie weder einfach Zuflucht zu Auftrag und Ritual nimmt noch leugnet, daß es in ihrer Welt Vampire gibt? Was lehrt sie, wofür gibt sie ein Beispiel, indem sie auf einem modernen Leben mitten in der katastrophischen falschen Selbstaufhebung der Moderne besteht? Zuallererst, simpel und lebensrettend, für Sturheit.
Sie beharrt darauf, das Nichtautomatische, Nichterwartete, Negentropische herzustellen: die Liebe unter Freunden, die verstehen, »wie das ist«, in dieser Welt leben zu müssen.
Willow sagt, daß sie das versteht, in Goodbye Iowa: »Poor Buffy. Your life resists all things average.« Und Buffy läßt sich, weil sie solche Freunde hat, nicht unterkriegen.
Ihr Witz überlebt seine Gegenstände immer wieder, auf heroische Weise – in der Folge Amends hält das »Erste Böse«, körperlos ontisches Ungeheuer am Grund allen denkbaren Unheils, das in der siebten Staffel verheerend wiederkehren wird, einen drohenden Selbstdarstellungsmonolog: »I am something that you can’t even conceive. The First Evil. Beyond sin, beyond death. I am the thing the darkness fears. You’ll never see me, but I am everywhere. Every being, every thought, every drop of hate.«
Und Buffy antwortet diesem Urbösen nicht, was sie soll, sondern was sie will: »Alright, I get it. You’re evil. Do we have to chat about it all day?«
Von Leuten, die unterm »Studium der Popkultur« das Bemühen verstehen, möglichst amerikanisches Zeug möglichst europäisch aussehen zu lassen, muß man sich gelegentlich anhören, daß gerade die handlichsten und bündigsten taxonomischen Hilfsmittel für jede Diskussion der unwirklichen Künste, die der Genres nämlich, lauter böse kulturindustrielle Marktkategorien seien: von »Horror«, »Science-fiction« und »Fantasy« reden diese Leute höchstens in Notwehr, ein großes Aufatmen geht durch ihre Reihen, wenn sie hier ein Eckchen »Magischer Realismus« und da ein Messerspitzchen »American Gothic« finden, selbst »Surrealismus« wird immer noch gern genommen.
Natürlich – wir reden vom Kapitalismus, dessen Realität gilt auch für Leute, die zu oft Fight Club gesehen haben – sind die Marktbegriffe welche. Aber eben deshalb treffen sie auch, was sie treffen sollen. Kunst findet zur Zeit halt am Markt statt, und die beiden einzigen Alternativen, die historisch bekannt sind, der Fürstenhof und der Tempel, waren ihrer Entwicklung, gar ihrem materialen (und materiellen) »Fortschritt« so förderlich auch wieder nicht, daß man sie sich unbedingt zurückwünschen sollte.
»Science-fiction«, »Horror« und »Fantasy«: Diese Namen bezeichnen drei wirkliche Grundmodi der unwirklichen Kunst und tun das, soweit man so etwas vorhersagen kann und darf, auch historisch haltbar genug, um noch für den Gebrauch der etwaigen Nachfahren das zu sortieren, was da heute produziert wird.
Von Genres sollten wir sowieso unbefangen sprechen: Auch das Renaissance-Porträt war eins, die ganze Renaissance sogar eine »Mode«. Das Auffächern der grundsätzlichen Zustände des Unwirklichen, technisch bis moralisch, nach wahren Großformationen, also die Erläuterung der Charakteristika der einzelnen, hier als prinzipielle Wahrheiten firmierenden Genres, die bei hochentwickelten Werken wie Buffy, the Vampire Slayer zueinander dann in sehr komplizierte gegenseitige Leih-, Tausch- und Befruchtungsverhältnisse treten, mußte bislang, als etwas Abgeleitetes, aufgeschoben werden, bis das Gemeinsame dieser Großformationen, das sie überhaupt als unwirkliche Kunst ausweist, unmißverständlich präpariert war.
An diesem Punkt sind wir angekommen.
Wie sehen die Genres aus?
1. Fantasy funktioniert »wie ein Märchen«.
Was sie vom richtigen Märchen unterscheidet, ist aber, daß ihre Geschichten wissen, daß sie zu einer Zeit erzählt werden, die eigentlich keine Märchen mehr hat, weil richtige Märchen einer erstens oralen, zweitens traditionalen und drittens natürlich vormodernen Kultur gehören. Modern im hier gemeinten Sinn sind alle Gesellschaften, deren Produktivkräfte hinreichend entwickelt sind, um den Menschen das Heraustreten aus der Naturwüchsigkeit der Geschichte zu ermöglichen: die bewußte Gestaltung ihrer Gesellschaftsformen, auf der Basis ohnehin schon vergesellschafteter Produktion.
Modern nennen wir Gesellschaften, in denen die sogenannte »industrielle Revolution« stattgefunden hat, unabhängig von den Eigentumsverhältnissen, also der bislang fortbestehenden privaten Aneignung. »Postmodern« sind nach dieser Definition Gesellschaften, die nach wie vor modern sind, das aber vergessen haben, vergessen wollen, vergessen sollen: Die Moderne ist ein materieller Zustand, die Postmoderne ein ideologischer.
Moderne Kunst ist jede, deren Grundparameter sich der Existenz moderner Gesellschaften verdanken, unter anderem der Herausbildung einer gesellschaftlichen Autonomie der Kunst.
Die in den letzten fünfzehn Jahren zunehmend sogenannte High Fantasy – also alles, was mit Elfen, Drachen, Orcs und Zauberern, Nekromanten und Kristallkugeln zu tun hat – handelt von großen Suchfahrten; for dramatic purposes: der epischen Breite wegen, welche die dem eigentlichen Thema aller Fantasy, nämlich der Läuterung und Erlösung angemessene erzählerische Atemtechnik ist (die Fantasy-Kurzgeschichte ist aus diesem Grund, anders als die parallele Science-fiction-Kurzform, eher ein Kuriosum und berührt, wenn sie nicht sowieso schon eine Novelle ist und also doch wieder epische Formate aufspannt, meist auffällig viele Topoi der SF. Die spezifische Sorte »Wissenschaft«, die dem Bereich der Fantasykurzgeschichte angemessen ist, heißt dann eben Magie, anstelle etwa der Galilei-Newtonschen Hypothesenbildung. Rätsel werden gelöst, Bannflüche gebrochen etc.: verkleidete Technofiktion).
Die Fahrten und Abenteuer der High Fantasy müssen auf dem Weg zum Höheren und der Heilung durchlebt werden. Man liest also Pilgerfahrten-Reiseliteratur oder schaut sich deren Verfilmung oder Comic-Fassung an: Vorn ins Buch ist eine Karte gedruckt (selbst der Filmvorspann bildet sie manchmal ab, sonst wird sie später aufgerollt), auf der wir Mittelerde samt Auenland, Rohan und Mordor, Conans hyborisches Zeitalter, Terry Pratchetts Scheibenwelt oder sonst ein präzises Nirgends sehen können, zur Zeit des »Es war einmal«.
Auf Topik dieser Art, Dantesche Zirkel von Himmel und Hölle, also das mit bürgerlichen Mitteln geordnete vorbürgerlich-feudale Seelenleben dunkel vermuteter primordialer Weltordnungen und »Ländereien«, verläßt sich das Genre noch da, wo es davon mit kunsthandwerklich-aftermodernen Hintergedanken absieht: Endes Unendliche Geschichte darf zwar keine Karte haben, aber die Ortsnamen, die es darin dann doch gibt, sind nichtsdestotrotz Fixpunkte im Ununterschiedlichen, eben weil sonst der Fortschritt der Helden auf dem »Weg«, den sie beschreiten müssen, nicht meßbar wäre, um den allein es geht.
Damit die jeweilige Reise überhaupt in Gang kommt, brauchen wir eine Bedrohung, ein Rätsel, eine Prophezeiung, einen Fluch, zu beschaffende oder zu transportierende magische Artefakte (z.B. Ringe, Schlüssel, ein Buch, Amulette) und am allerwichtigsten eine entsprechende retrospektiv konstruierte vormoderne Moral, vorzugsweise archaisierend-christlich, kryptochristlich oder gezwungen naturreligiös: Der Bürger stellt sich vor, wie es war, als es ihn noch nicht gab.
Der Vater aller Fantasy ist Rousseau, aber als Theaterseele.
Am Ende des jeweiligen Pilgrim’s Progress wird dann etwas gefunden, zurückerobert, vernichtet oder befreit: Der Vorgang ist identisch mit Erlösung und Verklärung, das herrschende Finalmotiv die Heilung und die Hagiogenesis (einer Person, eines Landes).
Entwicklungsromane (oder -filme) sind das also, aber archaisierende. Es geht in ihnen darum, die eigentlich dämliche Maxime »Der Weg ist das Ziel« triftig aussehen zu lassen, ihr einen guten Namen zu geben. Genau in diesem Sinn übrigens ist das wagnerianische Hippie-Gesamtkunstwerk Star Wars nicht Science-fiction, sondern Fantasy – allerdings als Science-fiction verkleidet, aus schlauen Konkurrenzgründen, etwa so, wie Michel Foucault seinen »epistemischen« Geschichtsidealismus materialistisch drapiert (George Lucas und Michel Foucault: die beiden intelligentesten Idioten des zwanzigsten Jahrhunderts – sie spüren, was an der Zeit ist, um es dann erst recht nicht zu verstehen).
2. Science-fiction ist ästhetisch und ideologisch die natürliche (gemäß unserem Naturbegriff! – man kann es durch Definitionen und Deutungen nicht ändern), erbitterte Rivalin der Fantasy. Pack schlägt sich, Pack ergänzt sich: Während die Märchen-Macher die Welt wiederverzaubern, geht es den Wissenschafts-Fiktionalisierern um die Verweltlichung auch noch der letzten Residuen des Zaubers, notfalls mittels transzendentem Hokuspokus, in Gleichungen eingewickelt: Die spirituellen, lebensläuternden Höhepunkte der Werke von Olaf Stapledon, Greg Egan oder Arthur C. Clarke brauchen sich vor keinem Jakob Böhme zu verstecken.
Die SF ist ein legitimes Kind des bürgerlichen Fortschritts, das heißt: der oben auf ihre praktische Grundlage gestellten Vergesellschaftungs- und Abstraktions-Dynamik der Moderne. Sie hat in jedem ihrer Momente Anteil an der Ambivalenz der Dickensschen Fabrik-»Feenpaläste« aus Hard Times. Auch ihre Erzählmodi sind denen der Fantasy entgegengesetzt: Es geht ihr gerade nicht um den »Weg«, als den sich die externalisierte Küchenpsychologie der Fantasy die bürgerliche Individuation vorstellt, sondern um das Ziel: das Heraustreten des Menschen aus der Natur. SF stellt sich dieses Ziel als ein bereits erreichtes vor und verfällt dann in ihr patentiertes Staunen über die Maßverhältnisse zwischen Mensch und der Natur, die er verlassen hat: Maßverhältnisse, welche auszumessen die Technik und die Wissenschaften ihr erlauben. Wo die Fantasy ihre Themen illustriert, oft wörtlich bebildert (etwa mit Karten), will die Science-fiction die ihren daher, methodentreu wie nur je ein Cartesianer, lieber belegen und beweisen. Der technische Beweisweg dahin ist zumeist einer, den auch die fortschrittliche bürgerliche Philosophie zu ihrer besten Zeit im philosophischsten aller unglücklichen Länder, in Deutschland, mit nachtwandlerischer Sicherheit eingeschlagen hat: die Spekulation.
Das Numinose, dem das Staunen in vorbürgerlichen Zeiten exklusiv gegolten hat, soll dabei systematisch säkularisiert werden, verbürgerlicht und verwissenschaftlicht, hegelianisiert – deshalb sprechen angloamerikanische Science-fiction-Studies auch nicht von einem religiösen »Sense of Awe«, wenn sie das besagte Staunen thematisieren wollen, sondern von einem »Sense of Wonder«. Das Standardwerk zum Genre von John Clute und Peter Nicholls, die über 1000-seitige Encyclopedia of Science Fiction (mehrere Auflagen seit 1992), wundert sich über diesen Begriff, an dessen Export aus der Fanliteratur in akademische Texte der letzten zehn Jahre es andererseits selbst einen wesentlichen Anteil hatte: »›Sense of wonder‹ is an interesting critical phrase, for it defines SF not by its content but by its effect – the term ›Horror‹ is another such.«141
Dieses Staunen ist nicht unbedingt die helle Freude: Es kann auch in Entsetzen umschlagen, wenn die Künstler negative Utopien schreiben, filmen, zeichnen, malen oder (als Technomusik zum Beispiel) sonstwie aufführen.
Durch die verschiedenen Temperaturen von angenehm bis greulich hindurch aber bleibt SF immer – im Gegensatz zu Fantasy, die eine numinose Unwirklichkeit herstellt, und Horror, der viszerale Unwirklichkeit heißen könnte – die »spekulative Unwirklichkeit«, als die Harlan Ellison sie Ende der Sechziger auch marktoffiziell etablieren wollte. Auf von ihm als Herausgeber verantworteten, Epoche machenden Anthologien ließ er das Kürzel »SF« damals neu ausschreiben: »Speculative Fiction«.
3. Wenn wir »Horror« sagen, meinen wir den supernatural horror, von dem Lovecraft in seinem großen Essay spricht, Thriller interessieren uns nicht. Der Schlüsselbegriff für den Horror, von dem wir reden, ist – analog dem Staunen der SF und der Läuterung der Fantasy – der Begriff frisson, er bezeichnet das (nicht nur freudianische) Unheimliche.
Im Gegensatz zur Seele der Fantasy und dem Geist der SF, den thomistischen und cartesischen Landschaften also, geht es hier aber um etwas sehr viel weniger leicht ins Idealisch-Mentale Wegdiskutierbares – es geht dem Körper an den Kragen.
Die englische Doppelbedeutung von »Body« ist ein Glücksfall für Autoren wie King und Barker: lebendiger Körper und Leiche (The Body heißt auch die Buffy-Folge, in der Buffy und die Scoobies mit dem Tod von Buffys Mutter Joyce fertigwerden müssen – eine der besten überhaupt). Alles, was Horror will, geht den Leib an, selbst wenn es sich um den ektoplasmatischen Leib eines Gespensts handelt.
Denn Gespenster sind nichts als die entschlossene Verneinung lebender Körper aus Fleisch und Blut, und »die Umkehrung eines metaphysischen Satzes bleibt ein metaphysischer Satz« (Heidegger). Die Bedrohten der Horrorkunst zeigen daher auch in ihr alle Nase lang körperliche Reaktionen, vom Schweißausbruch bis zum Herzstillstand, und ihre Monster stinken, schreien, beißen.
Entgegen einer weitverbreiteten, vulgärpsychoanalytischen Bequemlichkeitsfloskel heißt »Körper« allerdings nicht, daß man alles, was das Publikum am Horror angeht – Gänsehaut, übler Geruch, Erbrechen oder Schlaflosigkeit –, zwischen die angeblich allein entscheidenden Pole »Sex und Tod« spannen, also nur als stufenlos verstellbare Zwischenschritte zwischen Orgasmus und peinvollem Abkratzen lesen darf.
Gerade daß Horror alle nur irgendwie greifbaren Körperregister ziehen darf, die obertonreichsten wie die reinsten, macht seinen Reichtum aus und erlaubt es beispielsweise, ihn als Klammer um verschiedene Gebrauchsweisen anderer diegetischer Wahrheiten – der von Fantasy und SF zum Beispiel – zu nutzen. Orgasmus und Tod sind nicht die manichäischen Doppelschlüssel zur Schreckenskammer – schon die Haut weiß mehr.
Worum es beim Horror ebenfalls nicht geht, ist eine »Wiederkehr des Verdrängten«, so nett sich das anhört. Im Gegenteil: Linda Badley, schlaue Horrorkritikerin und verdiente Populärkulturforscherin, hat in ihrem Buch Writing Horror and the Body über Stephen King, Clive Barker und Anne Rice sehr richtig bemerkt, daß ihrer Meinung nach moderner Horror nichts mit vulgärfreudianischen Dampfkesselmodellen der Libidodynamik, einiges dagegen mit dem zu tun hat, was Michel Foucault den »Verlust der Repressionshypothese« getauft hat. Dieses Schlagwort meint den Umstand, daß wir nicht mehr, wie noch zu Freuds großer Zeit, ohne weiteres daran glauben, daß es irgend etwas Unterdrücktes in uns gebe, das wir nur freilassen müssen, und schon ist alles in Ordnung beziehungsweise wenigstens doch psychisch gesund. Insofern ein Blick ins Nachtprogramm von RTL zeigt, daß da längst Dinge freigelassen werden, vor deren Hintergrund Freud wie ein wohlwollender Biologielehrer wirkt, der uns mahnt, es bitte nicht zu übertreiben, klingt die Idee, Repression sei von gestern, ganz einleuchtend (auch wenn man sich nun umgekehrt nicht gleich zum Foucaultschen Masterplan bekennen sollte, wonach Sexualität in abgeleitetem Verhältnis zu etwas steht, das der Franzose pauschal »Macht« nennt: »Ficken und Unterwerfen« ist als Blaupause des großen Ganzen auch nicht schlauer als »Eros und Thanatos«).
Daß der Glaube ans Ausleben und Freilassen in Zeiten von Bildzeitung und Aids nicht mehr so recht überzeugen will, leuchtet ein; von da aus geht nun Badley aber einen schönen Schritt weiter als ihr französischer Meister: Die Schwächezustände, Zuckungen, Spasmen, Übelkeiten und sonstigen körperlichen Erfahrungen der negativen, nach den Regeln des Hedonismus eigentlich zu vermeidenden Art haben, so meint sie, etwas Erlösendes und auf von der Freudschen Repressionstheorie nicht erfaßbare Art »Befreiendes« in Zeiten, da insgesamt nicht Schmerz, nicht Züchtigung und explizite Gewalt, sondern dumpfe Angst die Menschen bannt – etwa vor Dauerarbeitslosigkeit oder Arbeitsplatzverlust, vor neuen Krankheiten wie Rinderwahn, Ebola und Aids, vor Börsenkrach und anderen, immer gesellschaftlich vermittelten Weltuntergangsszenarien.
Davon, daß und wie der uncoole Schmerz (die Verletzung und Vergewaltigung) von dem alle glauben und täglich überall eingeredet bekommen, er lauere schon um die nächste Ecke, endlich wirklich kommt, davon also, was passiert, wenn der Mann unterm Bett endlich darunter hervorkriecht und mir endlich den Kopf abreißt: davon handelt Horror.
Der Gegenstand der Angst, den Horror präsentiert, ist gleichwohl immer schimärisch, metaphorisch in einem noch zu bestimmenden Sinn.
Er wird per Analogiezauber aus der frei flottierenden (und übrigens selbst wesentlich physiologischen, in körpergepanzerter Muskelstruktur bestehenden) gesellschaftlichen Angst gleichsam herausanalogisiert. Das ist »the First Evil«, »the thing that darkness fears« (BtVS: Amends), bei Bradleys Guru Foucault die inzwischen mindestens halbtotgeredete »Biomacht«, die alles durchdringt, das absolute Böse, das er nie beschreibt, immer nur beraunt: Das Geheimnis der ganzen Geschichtstheorie dieses Herrn ist ohnehin, daß sie – hierin eine ganz entscheidende Verschärfung des Strukturalismus, den sie so über sich hinaustreibt – magisch funktioniert statt wissenschaftlich. Entsprechungen, Korrespondenzen sind in ihr nämlich wichtiger als Kausalbeziehungen, sie denkt anti- und nachbürgerlich: priesterlich.
Das Geheimnis ihres Erfolges ist deshalb, kleiner Scherz der Weltvernunft am Rande, dasselbe wie das der Wirkmacht aller unwirklichen Kunst, am prominentesten, weil mitten in der äußersten Vermittlung auf unmittelbare, körperliche Effekte berechnet, des Horrors: Es ist die magische Macht der Metapher.
Metaphern nämlich sind sie alle, die Monster und Wundertiere der unwirklichen Künste – das glaubt man auch dann, wenn man nicht recht sagen kann, was das heißt, Metaphern müssen sie sein, weil es sie außerhalb der Kunst nicht gibt: der denkende Roboter, der schusselige Magier, der sprechende Drache, der Vampir mit Seele.
Wer eine rationale Theorie der Metapher besitzt, verfügt, denken wir, damit also über den vernünftigen Schlüssel zum letzten noch nicht besprochenen Moment der unwirklichen Künste, nämlich zu einer Mengenbenennung ihres figurativen Bestands, ohne den sie nichts wären.
So eine rationale Theorie der Metapher aber gibt es; Donald Davidson hat ihre konziste Form entwickelt.
Der Aufsatz heißt Was Metaphern bedeuten und stammt von 1978, eine der entscheidenden Stellen darin lautet:
»Nun möchte ich eine etwas an Platon gemahnende Problematik zur Sprache bringen, indem ich Metaphernbildung und Lügen miteinander vergleiche. Diese Gegenüberstellung ist durchaus angebracht, denn das Lügen betrifft – ebenso wie die Bildung einer Metapher – nicht die Bedeutung der Wörter, sondern ihren Gebrauch. Manchmal wird behauptet, aus einer Lüge folge logisch etwas Falsches. Das stimmt aber nicht. Zum Lügen ist keineswegs erforderlich, daß das, was man sagt, falsch ist, sondern daß man glaubt, es sei falsch. Da das, was wir glauben, gewöhnlich keine falschen Sätze sind, sondern wahre, sind die meisten Lügen falsche Aussagen; doch das ist jeweils nur durch Zufall so. Die Gleichartigkeit von Metaphernbildung und Lügen wird hervorgehoben dadurch, daß derselbe Satz zu diesem wie zu jenem Zweck verwendet werden kann, ohne daß sich an der Bedeutung etwas ändert.«142
Das sprachphilosophisch Revolutionäre an Davidsons Vorschlag, Metaphern zu beschreiben, steckt in der kleinen Nußschale des wittgensteinianischen Gedankens, die Entstehung einer Metapher berühre »nicht die Bedeutung der Wörter, sondern ihren Gebrauch«.
Wer je darüber nachgedacht und die entsprechende Literatur studiert hat, fragt sich ja irgendwann unweigerlich, was das eigentlich sein soll, »übertragene Bedeutung«, worin sie sich vom Vergleich unterscheidet, welche komische zweite, ganz im Sinn dieses Essays: unwirkliche Welt da angeblich aufgemacht wird, wo die – im Hirn und im Kosmos – eigentlich liegen soll. Wer sich das fragt, fällt mitten zwischen Probleme und kommt aus den Problemen nicht mehr raus, jedenfalls nicht mit Worten: Denn eine kognitive Sondersphäre von Zusatzbedeutungen für Metaphern macht die Welt einfach unnötig komplizierter. Gibt es, wenn man einen Mann ein »Schwein« nennt, auf einmal zwei Schweine, so wie es zwei Schlösser gibt (das fürs Burgfräulein und das an der Tür)? Warum hat man dann beide Male nur das eine, grunzende vor Augen? Gibt es also doch nur eins? Aber warum hat man dann trotzdem das Gefühl, einen Mann ein Schwein zu nennen, sei was anderes, als ein Schwein ein Schwein zu nennen? Davidson löst diese ganze gequälte Gewundenheit auf die denkbar eleganteste Art auf: Es ist beide Male dasselbe Schwein gemeint, die Bedeutung ändert sich nicht, nur der Gebrauch – im einen Fall will ich erreichen, daß meine Zuhörer eine Beobachtung über das Schwein erfahren, im anderen Fall, daß sie sich bestimmte Gedanken über den Mann machen.
Metaphern, heißt das, sind wörtlich so gemeint – sie werden nur nicht so benutzt, wie sie gemeint sind. Und genau in diesem Sinn sind auch die Schlüsselfiguren der unwirklichen Kunst Metaphern – »our vampires, ourselves« (Nina Auerbach).
Denn es stimmt eben nicht, was uns, als platte Behauptung sogenannter »Analysen« unwirklicher Kunst, wie sie eingangs dieses Essays erwähnt werden, immer so geärgert hat, daß der Außerirdische auf dem Schrottplatz in Star Wars, Episode 1 einfach »den Juden« meint oder die Gestrandeten in Alien Nation mexikanische Einwanderer.
Sie meinen, was sie sind: einen Außerirdischen und Gestrandete auf einem fremden Planeten. Nur die Konsumenten, die Betrachter, die Kritiker können sie dann verwenden, um soziale Phantasien zu entwickeln oder zu artikulieren, aber das ist etwas ganz anderes als »ihren Daseinsgrund aufdecken« oder »das Gemeinte entschlüsseln«.
So mag denn richtig sein, daß Vampire in neuerer urban fantasy für Arbeitslose, Obdachlose, Drogenabhängige stehen, wie sie bei Stoker für bestimmte Grauenhaftigkeiten der englischen Gesellschaft standen oder die Zombies in Romeros frühen Living Dead-Filmen für enthirnte Konsumenten; genauso richtig ist aber, daß in der besten urban fantasy, zum Beispiel den Sonja Blue-Vampirromanen von Nancy Collins, denen das modische Twilight-Zeug der jüngeren Vergangenheit atemlos hinterhergeschrieben ist, die Arbeitslosen, Obdachlosen und Drogenabhängigen neben den Vampiren durchaus vorkommen, ganz wie die zeitgenössische Gesellschaft bei Stoker und die Konsumenten bei Romero: Die Metaphern stehen in Vermittlungen, nicht einfach als Ersatz für etwas, das nicht selber ausgesprochen wird und nur »im übertragenen Sinne« vorkommen kann. Die mythischen Bilder stehen in einer Welt nach dem Mythos, der Kontrast macht ihre Kraft.
Das Verhältnis der unwirklichen Kunst zum sozial Wirklichen ist keines der Ersetzung, Abbildung oder Repräsentation, sondern eines der Gegenüberstellung von realistisch behandelter und metaphorisch selbstentfremdeter Welt in ein und demselben Kunstwerk.
Dies erfunden zu haben, war eine (nicht die einzige, vielleicht aber die wichtigste) Leistung der bürgerlichen Ästhetik; man kann sagen: eine Revolution.
Sagt man dies, so benutzt man ein Wort als Metapher für Ästhetisches, das man als Metapher für Politisches nicht geringschätzen sollte und dem (sowie dem damit Gemeinten) wir uns, in diesem anderen Sinn, daher jetzt zuwenden wollen.