NEUN
VOM UMSTÜRZEN UND VOM UMFALLEN

I.
Aufstandsnominalismus

So gut wie alle, die dieses Buch lesen, werden wissen, was eine Revolution ist.

Vielleicht wissen sie sogar zuviel: Was sie dafür halten, ist im ungünstigsten Fall eine recht disparate Menge von Ereignissen, die nicht alle von einem verantwortungsbewußten Gebrauch des Begriffs gedeckt sind (immerhin wird dann wohl nichts weggelassen, das wirklich darunter fällt).

Man hat das Wort, bevor es politisch aufgeladen wurde, für das gebraucht, was gewisse Himmelskörper mit anderen tun: Sie umkreisen nämlich. Hannah Arendt verdeutlicht in ihrer weit ausgreifenden Studie On Revolution, sicher der souveränsten nichtmarxistischen Abhandlung über das Thema im zwanzigsten Jahrhundert, daß der Begriff als politischer ursprünglich nicht die Errichtung eines Novums, sondern die Wiederkehr von etwas Altem, durch Niedergangserscheinungen außer Kraft gesetzten Rechtmäßigem bezeichnete. Es ist dies eine deutliche Entsprechung zum Schicksal der Naturrechtslehre, die ja ebenfalls etwas erst Herzustellendes als verlorengegangenen Urzustand malt. Das Weltbild, in dem die Revolution für die restitutio in integrum des Richtigen sorgen kann, sah die politische Sphäre damit als ebendie Sorte »beharrliches und zyklisches System«, in dem der Implex, wie wir im letzten Kapitel zitiert haben, für Valéry zu sich kommen konnte.

 

Zu der Zeit, in der Arendt den Ursprung des Revolutionsbegriffs in seiner heutigen Bedeutung lokalisiert, kam das englische Königtum in Bedrängnis, das französische auf den Müll, und schließlich dachten zwei Deutsche darüber nach, was man mit Gesellschaftsordnungen anstellen kann. Am vorläufigen Ende der langen Entwicklung steht erstens ein Autokrat wie Vladimir Putin, der in Interviews und Reden erzählt, er als Russe könne nur hoffen, daß das einundzwanzigste Jahrhundert keine Revolutionen mehr erleben werde, zweitens eine kapitalistische Produktwerbung, die jedes neue Gadget als anthropologische Erschütterung ausschreit, und drittens noch nicht ganz verblaßte Schriftsteller wie Peter Hacks, der einem Veränderungsenthusiasten wie Hans Magnus Enzensberger in den späten Fünfzigern und frühen Sechzigern des jüngstvergangenen Jahrhunderts vergeblich zu erklären suchte, was man unter einer Revolution versteht, wenn man die Klassiker gelesen hat: Keine Aufstände Unzufriedener, keine Ereignisse wie den berühmten 17. Juni, sondern Akte der Veränderung der Eigentumsverhältnisse, »das weiß«, scherzt Hacks grimmig, »glaube ich, selbst Sombart«143, also mindestens Bodenreform, Kollektivierung der Landwirtschaft, Vergesellschaftung der Industrie.

 

Die marxistische Linke ist an der Verwirrung, die mittlerweile um das Wort herrscht, und bei der vielfach hinter den Nominalismus auf einen mit viel Emphase und Dringlichkeit vorgetragenen Begriffsrealismus zurückgepurzelt wird, nicht unschuldig: Daß einem für die erste Groborientierung allemal hinreichenden Holzschnittschema zufolge Revolutionen nur da vorliegen, wo eine Klasse einer anderen die Macht entreißt, reicht als Sachbestimmung auch nicht mehr aus, seit mit dem Klassenbegriff Alfanzereien getrieben werden wie die einiger Trotzkianhänger, als ihr Idol beschloß, diejenigen Teile der Kommunistischen Partei in der Sowjetunion, die statt ihm und der linken Opposition lieber Stalin folgen wollten, »Bürokratie« zu nennen – sie erklärten die dann einfach zu einer neuen herrschenden Klasse, was nun allerdings Trotzki gar nicht gefiel, denn der war marxistisch gebildet (bei allem polemischen Furor entgleist sein Buch »Verratene Revolution« in dieser terminologischen Frage höchstens in Zwischentönen. Im Umfeld der Debatten um sein »Übergangsprogramm« der Vierten Internationale wandte er sich direkt gegen Anhänger, die sich gegen eine weitere Verteidigung der UdSSR aussprachen, weil die in jener die Staatsgeschäfte führende Bürokratie eine neue herrschende Klasse sei. Daß sie das werden könnte, mutmaßte er allerdings immer wieder auch selbst – der Gedanke muß für einen Marxisten tröstlich sein, daß seine Feinde nicht bloß Parteigegner, sondern richtige Klassenfeinde sind).

 

Ein Trotzkist war es jedenfalls auch, der das Durcheinander in den kapitalistischen Westen importierte und die Tür für eine in soziologisch und parasoziologisch parlierenden Kreisen bis heute nicht verstummte beredte Wirrnis aufstieß: Zu der Zeit, da auch in den Köpfen Adornos und Horkheimers die Theorie Gestalt annahm, das westliche und das östliche System müßten notwendig zu ein und derselben »verwalteten Welt« konvergieren, in der die Entscheidungsgewalt über Produktion, Zirkulation, Distribution weniger bei Eignern als vielmehr bei Reglern liegt, formulierte James Burnham, politisch erzogen in der auf Trotzki verpflichteten amerikanischen »Socialist Workers Party«, die These, das, was jene verwaltete Welt hervorgebracht habe, sei eine Revolution gewesen – die Managerial Revolution, wie das Buch von 1941 heißt, das die wenigsten gelesen haben, die heute glauben, das Geschick der Menschheit werde von Leuten mit Headsets im siebzehnten Stock von Bankgebäuden entschieden und die Befehlsgewalt übers große kapitalistisch-monopolistische Ganze habe sich, man weiß nicht, wie, vom Zylinder-und-Taschenuhr-Kapitalisten des Liberalismus über die Aufsichtsräte der großen Aktiengesellschaften zu den Managern (etwa denen der größten Hedgefonds) verschoben – was in vielerlei Hinsicht stimmt –, und damit sei eine neue herrschende Klasse an die Macht gelangt – was nur stimmt, wenn man den Klassenbegriff viel persönlicher faßt, als die Kapitalwirtschaft erfordert: Es herrschen nach wie vor diejenigen, die über Geld verfügen, das genügend Masse hat, um im Gesamtprozeß der kapitalistischen Produktion und erweiterten Reproduktion zu mehr Geld gemacht zu werden; daß auch ein paar Manager unter diesen sind, ist so trivial wie die Machtteilhabe des Klerus im Feudalismus, das europäische Mittelalter war keine kontinentweite Theokratie, sondern nach wie vor eine Ordnung der Landbesitzenden, und Geschichten darüber, daß die besagten Finanzmanager zu prassen und zu prunken verstehen – Louis Bacon, Gründer von Moore Capital, veranstaltet Fasanenjagden; Steven Cohen, Chef von SAC Capital, verschönert sein Anwesen mit einem Basketballplatz, einem Hallenbad, einer Eisbahn, einem Golfplatz, hängt sich Bilder von Van Gogh und Pollock auf und richtet sich ein Privatkino ein, an dessen Decke die Sternenkonstellation seiner Hochzeitsnacht aufgemalt ist; Cliff Asness, einst Jungstar bei Goldman Sachs, dann lone gunman, sammelt alle Superhelden-Action-Figuren, die er kriegen kann –, verschlägt nichts daran, daß im Kapitalismus die Schieber und Investoren Funktionäre eines automatischen Subjekts sind, das von »Revolutionen« wie der von Burnham erfundenen jedenfalls nicht auf die Guillotine geschickt wird. Auch die Satrapen früherer Souveräne wußten ihre Goldbadewannen und gegrillten Nachtigallenherzen zu schätzen. Wer indes unter »Kapitalisten« und »Monopolisten« einfach »reiche Leute« versteht, wird nicht tiefer in die Geheimnisse von ökonomisch vermittelter Herrschaft eindringen als der berühmte »Linke Flügel« der NSDAP um jenen Gregor Strasser, der sich einerseits »Sozialist« und »Nationalrevolutionär« nannte und andererseits brav Habacht stand, wenn die Industriellensponsoren der »Deutschen Führerbriefe« in die Hundepfeife bliesen.

 

Bekanntlich hat die auf Marx und Engels zurückgreifende Tradition für das einen Namen, was »Revolutionäre« wie Strasser betreiben, nämlich die gewalttätige Arbeit an der Befestigung des Bestehenden, indem man etwa in Strassers Fall die antagonistischen Klassen mit Propaganda (als Reichspropagandaleiter war Strasser Vorgänger seines Ziehsohns Goebbels, der ebenfalls mit Sozialistischem geflirtet hatte und, Groteske am Rande, noch in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs den Entwurf einer Steuerreform für die Zeit nach dem Krieg als »zu unsozial« ablehnte) und Peitsche zur Volksgemeinschaft zusammenfaßt: solche »Revolutionen von oben«, »konservative Revolutionen«, Gegenreformationen und andere militante (zum Beispiel im liberalen bürgerlichen Staat garantierte Rechte für bestimmte oder unbestimmte Ausnahmezustandszeiten einkassierende) Maßnahmen, die an alles rühren, was Demokraten lieb ist, aber die Besitzverhältnisse nur angreifen, wo, mit Freuds Worten, einmal eine Wurst geopfert werden muß, um den ganzen Kranz von Würsten zu erhalten: Konterrevolution. Hätte Burnham seine marxistische Bildung nicht, verführt durch Trotzkis schlechtes Beispiel, in auf Originalität mehr als auf Triftigkeit bedachten Einfällen verzettelt, wäre ihm womöglich aufgegangen, daß auch Neuorganisationen der Arbeitsteilung, wie sie die Delegation von Aufgaben und Abtretung von Rechten des großen Eigentums an die neuen Funktionseliten der hochmonopolistischen Ära darstellen, mit einigem Recht als Konterrevolutionen beschrieben werden können; vergleichbar der seit 1990 noch einmal beschleunigten Einbindung der wissenschaftlich-technischen Intelligenz ins Finanzwesen: In beiden Fällen werden Leute, die durchaus als organisatorische Träger ernster Versuche der Enteignung des Mehrprodukts und Umleitung desselben aus den Profitschlaufen in gesellschaftlich nützliche Bezirke der Produktivkraftentwicklung in Frage kämen, für Zwecke der Stabilisierung bestehender Akkumulationsregimes im selben Atemzug mit deren Modernisierung kooptiert, als hätten die Kapitalisten Marx nicht nur gelesen, sondern sogar verstanden, was mit den immer wiederkehrenden Formeln von der »neuen Gesellschaft, deren Keim im Schoß der alten entsteht«, eigentlich gemeint war, dasselbe nämlich wie mit der im Manifest der Kommunistischen Partei gemalten Metapher von der Bourgeoisie als Goetheschem Hexenmeister, der die Kräfte nicht zu beherrschen vermag, und der immer wiederkehrenden Versicherung, das Kapital sei gezwungen, selbst die Instrumente zu schmieden, mit denen es zerschlagen werden kann: Wenn ein Produktionsverhältnis so ungeheure Beschleunigungen im Wachstum der Produktivkräfte bewirkt wie das der freien Konkurrenz von Kapitalen auf dem Markt, dann vervielfachen sich auch die Ausfahrten, von denen unser Bild im letzten Kapitel redet.

 

Daß die begabtesten Konterrevolutionäre, Verbesserer und Modernisierer des Systems immer wieder Leute sind, die von der prinzipiellen Vergänglichkeit des Gegebenen mehr wissen als die braven Naturen, die sich im System eingerichtet haben, stimmt nicht nur auf der politischen Ebene – es mußten, als die KPD in den Großstädten bei Wahlen die Sozialdemokratie mehr als das Fürchten lehrte, schon Leute sein, die sich auf Terror und Straßenkampf verstanden und in Situationen entfesselter Gewalt aufblühten, um mit dem Erbe Luxemburgs und Liebknechts fertigzuwerden –, sondern auch auf der theoretischen (Keynes war kein Spießer) und schließlich der ökonomischen – die größte finanzoperative Neuerung der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, die für Konzentration, Zentralisation und zugleich Mobilität des Kapitals als Voraussetzung der sogenannten Globalisierung vielleicht ebenso wichtig war wie die Dampfmaschine für die Industrialisierung Englands im neunzehnten Jahrhundert, nämlich die Erfindung von Finanzmarktinstrumenten, die in schwindelerregenden Gewinn- und Verlustzonen operieren können, die Hitze der Sonne und die Kälte des Weltraums aushalten und mit Konstruktionen abgestützt sind, die den Geist der Dialektik atmen (man kaufe Wertpapiere, die im Wert steigen werden, mit geliehenem Geld und verkaufe zugleich solche, die im Wert fallen müssen, die man aber noch gar nicht hat, zu termingeschäftlich vereinbarten hohen Preisen, so daß man, da man sie sich erst holen muß, wenn sie billiger sind, Gewinn sogar an Verlustbringendem erzielen kann – Stichwort »Leerverkäufe«, short selling), also das moderne Hedgefonds-Wesen, hat ein Mann namens Alfred Winslow Jones erfunden, der, wie Strasser Sozialist war und Keynes Marxkenner, in den dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts für die »Leninistische Organisation« (später »Neu Beginnen«) gegen Hitler konspiriert, mit Hemingway Whisky getrunken und in Spanien auf der Seite der Republik gestanden hatte (seine geniale Erfindung werden wir im vierzehnten Kapitel des Buches in einen anderen Zusammenhang stellen, das hier Gesagte setzen wir dabei dann voraus). Wer von Revolutionen weiß, versteht sich darauf, sie zu verhindern, und kennt Mittel und Wege, die Effektivität der herrschenden Verkehrsverhältnisse zu erhöhen, mal mit feinen und klugen, mal mit groben und stupiden Mitteln. Daß sich diese Mittel in den Ahnungen der Konterrevolutionäre vom andernfalls erwartbaren revolutionären Geschehen selbst ebenso finden lassen wie umgekehrt diese Ahnungen aus der genauen Beobachtung des scheinbar alles andere als revolutionären, offenkundig ganz Stabilen deduziert werden können, daß also die Konterrevolution in der Revolution steckt wie diese im nichtrevolutionären Alltag aller Klassengesellschaften, ist der ubiquitären Zwiegesichtigkeit von Implexkonstellationen gemäß und macht sie, mehr noch als die kontraintuitive Nichtzuständigkeit von Maßgaben der Mengenlehre für diese großen Sachen, die in scheinbar kleineren stecken, so schwer zu denken.

Wechselseitige Durchdringung nämlich, als beherrschendes gesellschaftliches Moment, ist einem instinktiven Hordenaffen-Denken suspekt, das sich soziale Ordnung nur als »oben und unten« denken kann und die Unterdrückten in starrem Gegensatz zu ihren Unterdrückern, aber eben auch »jedes an seinem Platz« vermutet – es hilft daher, wenn man sich vergegenwärtigt, daß für Marx und Engels, aber auch noch für die Leute, auf die Lenin gewirkt hat, das Proletariat, die in und von der Fabrik zu einer neuen Sorte lebendiger Arbeit ausgebildeten Fabrikarbeiter (danach vom rechten Flügel der marxistischen Richtung, nicht zuletzt von vielen Gewerkschaften leider bald verengt auf: Facharbeiter) nicht bloß als Sklaven, sondern auch als eine Art Elite im Wartestand gesehen wurden, eine aufsteigende Klasse eben, wie im Hochfeudalismus die den damaligen Machthabern verächtlichen Händler, Krämer, Stadthandwerker, und daß von Eliten in jeder Klassengesellschaft einige Bedrohungen ausgehen, die der schönste Aufstand nicht mit sich bringt – alle kennen Spartakus, aber daß die revolutionärste Situation der Antike nicht dessen Bewegung, sondern die Zeit vom Volkstribunat des Tiberius Gracchus über Carbo und Flaccus bis zu den beiden Tribunaten des Gaius Gracchus und seiner Ermordung war, blieb den Revolutionstheoretikern schon der bürgerlichen Franzosen nicht verborgen; und wenn die Konterrevolution auf einfallsreiche Leute setzt, denen sie Muße und Mittel stellt, ihre Ansichten, Strategien und Taktiken zu entwickeln und bei den Truppen zu verbreiten, dann muß die Revolution das eben auch tun und darf sich dabei nicht vom Einwand abschrecken lassen, der jede Vorstellung von einer Avantgarde für im schlechtesten Sinn autoritär hält; das wäre nämlich wieder Oben-unten-Denken (und verführt auch manche in den Avantgarden selbst) einer Sorte, die sich »Rädelsführer« nur »oben« vorstellen kann statt einfach als Ergebnis der Arbeitsteilung (Avantgarde sind die, die anfangen, denn irgend jemand muß das sein – sich auszumalen, wer und wie, und die dem entgegenstehenden Zweifel und Hierarchiekonzepte aufzulösen, war Lenins Vorsatz, als er Was tun? schrieb; daß die dort entwickelten Konzepte sich keine zweihundert Jahre starr reproduzieren lassen würden, war ihm freilich klarer als allen seinen Nachfolgerinnen und Nachfolgern auf den verschiedenen Avantgardeposten, die er nahezu gleichzeitig innehatte).

In den funktionalen Eliten, in den Ausgebeuteten und in deren Schnittmengen, alle drei von der Schwere des Ganzen an ihren Plätzen gehaltene, für das zu revolutionierende System aber unerläßliche Ecksteine sozusagen, liegt die Sprengkraft beschlossen, die das Gebäude stärker gefährdet als irgendein Geschoß von draußen, sofern es ein »Draußen« überhaupt gibt.

Die Ecksteine zu beleben, sie gleichsam zur Einsicht ihrer Rolle, zur Selbsterkenntnis ihres Vermögens zu bringen – als wollte man den Hylozoismus wahrmachen, wonach alle Materie belebt sei und jedem Ding eine Tendenz zur Bewegung implizit –, ist die Beseelungsaufgabe revolutionärer Architekturkritik an den Gesellschaftsbauten.

 

Aber kann man sich einen Eckstein vorstellen, der, wenn man ihn anspricht, so reagiert, daß man unmittelbar weiß (nicht nur »sich vorstellen kann«): Der würde wohl auch fliegen, jedenfalls aber auf dem Wasser tanzen, wenn man ihn nur geschickt genug werfen könnte?

II.
Träge Hexis und Conceptual Breakthrough

»Beating Gravity is a big deal for a rock!«144 – ein Felsblock empfindet die Aufhebung der Schwerkraft als große Sache: Den feinen Satz läßt der Mathematiker, Science-fiction-Autor und (verbürgt biologische, nicht etwa banal geistige) Urururenkel Hegels, Rudy Rucker, einen seiner Helden im Roman Hylozoic sagen. Das erstaunliche Buch handelt, wie der Titel schon vermuten läßt, von Hylozoismus und Panpsychismus, das heißt den Lehren, wonach Leben wie sogar Denken Qualitäten sind, die kontinuierlich aus materialen Eigenschaften der Konstituenten der Wirklichkeit emergieren, statt diesen starr gegenüberzustellender, wesenhaft von Nichtlebendigem, Nichtdenkendem verschiedene. Damit ist in Ruckers Lesart gar nichts Mystisches gemeint, sondern die seit Konrad Zuse und Alan Turing eher selbstverständliche denn gewagte Feststellung, daß es keine vorstellbare Zusammenrottung und Konfiguration von Atomen (oder Elementarteilchen, tief unterhalb der Schwelle, welche die antik griechische Naturphilosophie noch für die Umrandung des Unteilbaren hielt) gibt, die sich nicht dafür eignet, Information zu speichern und zu verarbeiten (in jüngerer Zeit hat der Gedanke unter dem von Stephen Wolfram geprägten Namen des principle of computational equivalence zu der Vorstellung geführt, das Universum lasse sich im Kleinsten wie im Größten als ein Computer beschreiben). Rucker entwickelt aus diesen Ideen nun das Gedankenspiel einer Welt, in der Wesen von ursprünglich mehr oder weniger menschlicher Beschaffenheit ihr Kommunikationsvermögen mittels entsprechender technischer Hilfsmittel so erweitern konnten, daß die vormals für unbelebt und gedankenlos gehaltene Materie rings um sie beginnt, zu ihnen zu sprechen, und als Folge dieser Veränderung der Verhältnisse nun ihrerseits, einmal in Dialoge eingetreten, realisiert, daß sie lebt und daß sie denkt. Die Welt kommt in Ruckers Buch wörtlich zu sich – darin steckt, wie in den meisten der kühneren Konstrukte der Science-fiction, nicht bloß ein technisches und wissenschaftliches Bild vom Weltganzen, sondern die Chiffre eines sozialen Sachverhalts: Träge Materie, die erwacht, das sind die neuzeitlichen Menschen, die, bewaffnet mit der erleuchteten und erleuchtenden Selbsttäuschung des Naturrechts, ihre vormals bloß erlittene Geschichte jetzt selber machen wollen – beating gravity – und zu diesem Zweck umfassende, flächendeckende, tiefgreifende Maßnahmen, eben: Revolutionen in Angriff nehmen – a big deal. Die bei Rudy Rucker berichtete Erregung des Felsbrockens ist nicht die über seine mögliche Rolle als Eckstein, der ein Gebäude per Verlassen seiner Struktur zum Einsturz bringen kann, sondern eine glücklichere: Er freut sich, daß er als Bauteil eines geplanten Hauses Verwendung finden wird. Man wird sich von dem, was Rucker da erzählen will, nicht allzuweit entfernen, wenn man das, außer wörtlich, auch allegorisch liest: Menschen freuen sich, wenn sie merken, daß sie dem »Gewicht der toten Geschlechter« trotzen können wie der Stein, der sich beim Aufbau einer unnatürlichen Konstruktion, die »der Schwerkraft trotzt«, indem sie sich überhaupt vom Erdboden erhebt – das Gebäude des modernen Rechtsstaats, naturrechtlich verfugt, geplant, freizügig, wirtschaftsliberal, modern.

 

Die Freude hat, wie Räusche oft, historisch allerdings ein Katernachspiel, denn wenn die Leute einmal von der Freiheit gehört haben, wird sie der Abschied davon, der ihnen im politischen und staatsbürgerlichen Alltag widerfährt, hart treffen – ein Sonderfall einer alten Wahrheit, die man für gewöhnlich an Erleuchteten und Schwerkriminellen sinnfällig zu machen gewohnt ist: Die Buddhistin und der Buddhist wissen, daß das größte Problem, die kognitive Achillesferse der oder des Erleuchteten, die oder der den Zustand Satori erreicht hat, der mit dem Allerkennen verbundene blinde Fleck ist, sich nicht mehr vorstellen zu können, wie es sich anfühlt, diesen Zustand noch nicht erreicht zu haben – once a thing is seen, it cannot be unseen sagt ein ab 2007 im Internet um sich greifendes Mem, dessen Ursprungsspuren sich in den Nebeln der Noosphäre verlieren; der Satz stimmt für Individuen (zu Gesellschaften kommen wir gleich) unter anderem deshalb, weil die Neuprägung, die mit wirklich bedeutsamen Selbstveränderungsschritten (a big deal) verbunden ist, nicht nur im Hirn, sondern im ganzen somatischen Ich Platz greift, sozusagen die gesamte Verdrahtung der Person unter Ausnutzung der bei hochorganisierten Lebewesen erheblichen Neuroplastizität re-orientiert. Wer, verführt von Psychosprech und anderen Plattitüden der Caring Industry, diese Neuorientierung nur als Selbstverbesserung denken kann und nicht auch als Selbstverschlechterung, sollte die Profiler- und Kriminologenbinse zur Kenntnis nehmen, daß das, was für die Erleuchteten gilt, ganz ähnlich auch an Mörderinnen und Mördern beobachtet wurde: Die erste Tat führt zu einem grundsätzlichen Nichtmehrverstehenkönnen des Tötungsverbots, selbst wenn es fürs restliche Leben der Täterin oder des Täters beherzigt wird – der Wert, wird das meist ein bißchen hilflos abstrakt beschrieben, des menschlichen Lebens fällt ins Bodenlose, wenn man einmal jemanden getötet hat; vielleicht aber steckt gar nicht mehr dahinter als der plötzliche Verlust der Erwartung des eigenen Todes bei Überschreitung des Tötungsverbots, einer Erwartung, die als eine Art instinkthafter (in Wahrheit wohl zu einem durchschnittlich recht frühen Zeitpunkt der Entwicklung der Kinder von den meisten Gesellschaften in diesen verankerter) Glaube an die universelle Gültigkeit des Talionsprinzips den sozialkonventionellen Respekt vor dem Leben der andern absichert.

Ich habe dies getan und bin nicht vom Blitz getroffen worden – wie kann es sein, daß irgend jemand sonst sich noch daran hält? (Bei Leuten, die aus den Massenschlächtereien des Krieges heimkehren, nennt die Sozialethik diese negative Erleuchtung »Verrohung«.)

 

Das Innewerden des big deal gehört als etwas Befreiendes wie als etwas Niederschmetterndes im Bereich der Kunst wie viele vergleichbare abrupte Erkenntnisweisen zum proprium von Fantastika; John Clute und andere benutzen dafür den Toposnamen conceptual breakthrough. In der Science-fiction findet man dieses Moment als Kristallisationskern oder Drehpunkt nicht weniger Erzählhandlungen; in allerlei Simulationsgeschichten zum Beispiel, die davon handeln, daß irgendwer blitzartig genötigt wird, den wahren Charakter einer künstlichen Umwelt zu durchschauen, von Daniel F. Galouyes Simulacron-3 von 1964 über zahlreiche inferiore Nachahmungen bis hinunter zu den Matrix-Filmen; aber auch als Fabel von den Provinzwelten, deren Bevölkerung plötzlich ihre Einbettung in einen größeren kosmischen Kontext erkennt (das Templat für diese Variante stellt unerreicht The City and the Stars von Arthur C. Clarke, erschienen 1956); die tiefste Spielart ist wohl die rein binnenkognitive Selbstthematisierung des conceptual breakthrough in Werken wie Daniel Keyes’ Flowers for Algernon von 1959: Der Held ist ein Lernschwacher, dem wissenschaftliche Mittel eine ungeheure Intelligenzsteigerung bescheren, die ihn bald nicht nur seinen Ärzten und Lehrern entfremdet, denen er in allen Belangen, die sie interessieren, schließlich weit überlegen ist, sondern ihn auch früher als alle anderen Figuren der Erzählung erkennen läßt, daß sie nicht von Dauer sein, er den errafften Vorsprung also wieder verlieren muß – der arme Mann weiß schließlich nicht nur mehr über sich als die, die ihn verändert haben, sondern auch über sie und ihre Motive, und zerbricht an diesem Wissen ebenso wie an dessen Verlust.

 

In manchem erinnert der conceptual breakthrough augenscheinlich an Thomas Kuhns »Paradigmenwechsel«, den Kuhn als Metabeschreibung von etwas verstanden wissen will, das er »wissenschaftliche Revolutionen« nennt, also Dinge wie die Ablösung des geozentrischen Weltbilds durch das heliozentrische oder diejenige der Newtonschen und Galileischen Mechanik durch die Plancks, Einsteins, Schrödingers und Heisenbergs. Ein Begriffsschema, das einem anderen inkommensurabel ist, verdrängt dieses – daran, den neuzeitlichen social breakthrough aus dem Stehenden und Ständischen ins Offene, die Erleuchtung und den persönlichkeitsverändernden großen Gesetzesbruch mit der Kuhnschen Inkommensurabilitätsidee umstandslos zu identifizieren, hindern uns aber vier durchaus ernstzunehmende Dinge:

 

1. Die Wissenschaft, an der Kuhn sein Paradigma vom Paradigmenwechsel gebildet haben will, verfährt in Wahrheit anders. Die Aufhebung wissenschaftlicher Erklärungsmuster geschieht üblicher- und historisch verbürgterweise eben nicht über deren Unverständlichwerdung (à la: »Was haben wir/die denn uns/sich da eigentlich gedacht?«), sondern über den Doppelpaß einer neuen Erklärung des betreffenden Naturphänomens und der scheinbaren Geltung der jeweils abgelösten Theorie (»Es verhält sich in Wahrheit so und so, wir/die dachten aber, dies sei anders, weil …«), und zwar gar nicht allzu selten in der Weise, daß die abgelöste Theorie sogar weiterhin in eingeschränkter Geltung bleibt, nämlich als Sonder- und Grenzfall der neuen, deren Näherungen für irgendeinen mithilfe der neuen sehr präzise bestimmbar gewordenen Bereich korrekte (oder jedenfalls im pragmatischen Sinne hinreichende) Vorhersagen liefern (wieder sei an das Beispiel hie Fußball- und Raketenparabel, hie Merkurumlaufbahn erinnert; je und je sind die Effekte, welche die neuere Theorie erklärt, gar nicht auffindbar, und man kann es sich daher leisten, auch die sie erklärende Theorie zunächst weiterhin zu vernachlässigen).

 

2. Die eher romantische als epistemologisch durchdachte Theorie von einander grundsätzlich inkommmensurablen (und nicht etwa durch – prinzipiell immer mittels Übersetzung durchkreuzbare – Verständnisschranken getrennten) Begriffsschemata ist logisch gar nicht so leicht zu halten, ja sich inkonsistent, wie nicht nur Donald Davidson (in seinem grundlegenden Aufsatz »Was ist eigentlich ein Begriffsschema?«145) überzeugend dargetan hat – der an einschlägigen Überlegungen Wittgensteins angelehnte Beweisgang läuft etwa wie folgt: Will man zeigen, daß zwei Begriffsschemata (was immer das eigentlich sein soll, als eine Art vor-, neben- oder nachsprachliches Auffassungsraster von kantischer Undurchschaubarkeit) nicht ineinander übersetzbar sind und damit die zwei Welten, die ihnen gegeben sind, auch nicht aufeinander abbildbar, dann muß man zunächst wissen, was die beiden, deren Weltbesitz man angeblich nicht aufeinander beziehen kann, da eigentlich für Welten haben, denn nur das, was man auch kennt, kann man logisch als verschieden empfinden; wenn ich das aber kann, beziehe ich mich damit auf ein drittes, mir offenbar zugängliches Begriffsschema, in dem diese beiden als so strikt getrennt wahrgenommen werden können; sobald ich dieses habe, sind sie aber eben nicht mehr unübersetzbar, sondern nur zu übersetzbar, im Medium des ominösen dritten nämlich.

 

3. Von den Begriffsschemata abgesehen, handeln diese ja immerhin von irgendwas, das es gibt, von Sachverhalten also, aus denen ihre angeblich so grundverschiedenen Welten letztlich so gut zusammengesetzt sind wie jede Welt, von der man reden kann. Die Voraussetzung dafür, daß eine wissenschaftliche Theorie einen Sachverhalt entdeckt und erklärt, den ihre Vorgängerin »nicht sehen« konnte, ist, daß es den betreffenden Sachverhalt tatsächlich gibt (Kopernikus konnte nicht herausfinden, daß die Welt aus singendem Käse ist, weil das nicht stimmt). Diese Kleinigkeit leugnet der Kuhnismus zwar nicht direkt, aber sie spielt in ihm, vorsichtig ausgedrückt, keine hervorstechende Rolle, weil sich zu ihr zu bekennen bedeuten würde, daß man außerdem zugäbe: Eine Theorie, die einen Sachverhalt ignoriert, den es gibt und der in ihren Erklärungsbereich fällt, ist einer anderen, die ihn sieht und deutet, nicht bloß inkommensurabel, sondern unterlegen, nämlich falsch. Der Horror eines bestimmten Zweigs auch der analytischen und postanalytischen (wie vorher gewisser strukturalistischer und poststrukturalistischer) Philosophie vor allen »Korrespondenztheorien der Wahrheit« rührt zwar von der in der Tat schwierigen bis unmöglichen Vergleichbarkeit von Sätzen einerseits und Tatsachen andererseits, man kann sich diese Beschwernis aber zumindest ein bißchen erleichtern, indem man sich wissenschaftliche Sätze schlicht (und erzpragmatisch; Dewey hätte sich gefreut) als Aussagen darüber merkt, wie man sich verhalten muß, um ganz ohne Wertung bestimmte gewünschte Ergebnisse zu erzielen. Wer, sagen wir einmal, zum Merkur fliegen will und die falsche Bahnberechnung anstellt, weil er oder sie nichts von Einstein weiß und nur etwas von Newton, verfehlt den Planeten, wer die richtige hinkriegt, erwischt ihn. Die Vergleichbarkeit zweier Theorien mit »der Welt«, deren exemplum immer wieder eindrucksvoll daran scheitert, daß Theorien keine den Meßgrößen in der Welt vergleichbaren Attribute haben und die Welt jedenfalls keine Theorie ist, macht sich direkt einfach gar nicht nötig, solange man die Möglichkeit hat, statt Sätzen mit Tatsachen lieber erfolgreiche von erfolglosen Handlungen zu unterscheiden (wozu freilich wieder Zweckbewußtsein erforderlich ist; ohne Technik wird man wissenschaftliches Denken nie begreifen), und sich nicht so dumm stellt, als wüßte man nicht, was eine theoriegeleitete Handlung ist. Auflösen kann man in diesem Nexus natürlich alles; das sind aber wieder binnentheoretische, da binnensprachliche Desemantisierungseffekte, die mit evolutionär ganz gut erklärbaren und erklärten Hirneigenschaften zusammenhängen. Wer fünfunddreißigmal hintereinander »Teller« sagt, wird kaum noch glauben können, daß irgendein Ding in der Welt rechtmäßig so heißen soll; das liegt aber nicht an der Sprache und nicht am Teller.

 

4. Selbst wenn die Kuhnsche Theorie stimmen würde: Die soziale Revolution, die Erleuchtung und das Mordbewußtsein hätten mit der von ihr beschriebenen Art Paradigmenwechsel dennoch herzlich wenig zu tun, da die interessanten Daten und Merkmale bei allen dreien im normativen statt im von der Wissenschaft beobachteten metaphysisch-ontologischen Bereich zu finden sind. Herr und Frau Buddha finden etwas darüber raus, wie nah sie dem kommen können, was sie sein wollen, und empfinden den Durchbruch als ein Erreichen dessen, was sie sein wollen; das ist etwas ganz anderes, als zu verstehen, wie der Erbgang läuft, wie die Planeten sich drehen und so fort. Für die Mörderin und den Mörder gilt dasselbe, bloß unter anderen, sozial negativ sanktionierenden Vorzeichen. Revolutionärinnen und Revolutionäre schließlich sehen in revolutionären Situationen eine Handlungsmöglichkeit, die ihnen vorher unsichtbar war, und lernen damit über sich als soziale Geschöpfe etwas: Ich kann Gesetzen in Hexis oder Praxis nicht nur gehorchen oder sie brechen, sondern es gibt darüber hinaus die dritte Möglichkeit, neue Gesetze zu machen, ja die Institutionen zu ändern, die Gesetze machen, ihre Durchführung absichern, ihren Bestand schützen sollen.

 

Der big deal, die Erfahrung, daß man alles anders sehen, alles anders machen kann, als man bislang dachte, nämlich als Widerspiel zwischen Erfahrung einerseits und Natur der sozialen Dinge andererseits, sprengt die Voraussetzungen, unter denen er sich ereignet, überstrahlt sie sozusagen im Moment der Zündung – das ist der Grund dafür, daß Revolutionärinnen und Revolutionäre, als wunderliche Mischwesen aus erleuchteten und infamen Leuten, ab dem Augenblick, da das Denkbare ihnen machbar, das Machbare ihnen denkbar wird, die Vorstellung davon einbüßen, daß die Umwälzung der bestehenden falschen Zustände anderen Menschen nicht nur nicht machbar, sondern nicht einmal denkbar sind. Der billige Spott, den sich diverse Erlösungsreligionen für die offenkundige Enttäuschung ihrer Erwartung des nahen Weltendes eingehandelt haben, ist strukturell dem Spott, den man Marx und Engels in die Gräber nachgeworfen hat, weil sich ihre Erwartung der nahenden proletarischen Revolution in den entwickeltsten Industriestaaten ihrer Zeit nicht erfüllte, auf ganz andere Art verwandt, als die Spötter meinen: Wer einmal eingesehen hat, daß es so nicht weitergehen muß, wird schnell glauben, daß es so nicht weitergehen kann, wird also mit argem Eifer dafür eintreten, daß es so nicht weitergehen darf, und kann sich daher nur mit größter Selbstdisziplin davon abhalten, zu empfinden, daß es notwendiger- und unumgehbarerweise so nicht weitergehen wird. Was da in den revolutionären Köpfen schiefgeht, wenn die entsprechende Prognose dann nicht eintritt, ist also, darauf wollen wir hinaus, nicht einfach eine traurige Geistestrübung, ausgelöst durch sachfremde Euphorie, nicht schlichter Realitätsverlust, sondern ein nachgerade tragischer Denkfehler, der jener Euphorie überhaupt erst die Schleusen öffnet – die Propheten der Vernunft, von der sie glauben, daß sie die Massen ergreifen müsse, sind keine Schwärmer, sondern ihnen fehlt gleichsam die psychologische Fähigkeit, sich noch einmal dümmer zu denken, als sie sind, und das macht sie anfällig selbst für die Verkennung schwerer Niederlagen – Erich Mühsam glaubte, als die Nazis soeben im Begriff waren, die politische Herrschaft über Deutschland zu erlangen, dies sei ein positives Vorzeichen erwartbarer sozialer Kämpfe, da sich dieser nihilistische Pöbelhaufen an der Macht ja wohl nur würde blamieren können; Wilhelm Reich wurde zum selben Zeitpunkt aus der KPD wegen Defätismus hinausgeworfen, weil er sich mühte zu erklären, wie es zu der Katastrophe hatte kommen können, deren Vorhandensein von denen, die Reich loswerden wollten, nicht wahrgenommen wurde.

 

»Diese Revolution ist vernünftig, und an mir selbst habe ich erfahren, daß die Zwangsläufigkeit der vernünftigen Schlußfolgerung etwas unvergleichlich Befreiendes hat, also wird es allen so gehen«: Der Irrtum entfaltet seine Virulenz immer da, wo der Emanzipationserfolg im eigenen Kopf mit der politischen Lage verwechselt wird, weil die, die ihn errungen haben, sich nicht mehr in jene hineinversetzen können, die nicht wissen, was sie wissen, weil die Emanzipierten und Emanzipationswilligen nicht mehr vergessen können, was sie herausgefunden haben.

III.
Verstand und Affekt: Kleine Psychoökonomie des Umsturzes

Der soziale Revolutionsgedanke ist ein gedankenförmiger Verwandler ganzer Gedankenwelten, in dieser Eigenschaft aber erleben ihn alle, die ihm je historisch Wirkung zu verschaffen vermocht haben (nicht immer revolutionäre Wirkung übrigens), als Verstandesleistung, nicht als etwas Affektives, auch wenn sie dann von Robespierre bis Rosa Luxemburg meist einiges Feuer dabei aufbringen, ihn zu artikulieren. Viele, die diesen Gedanken nicht mit- und nachvollziehen können und wollen, müßten bei aufrichtiger Selbstbeobachtung allerdings bemerken, daß es Affekte und nicht Vernunftüberzeugungen sind, die sie hindern und hemmen – zum Beispiel die nur allzu plausible Angst vor Strafe, Gegengewalt, Reaktion. Die eigentliche Eroberung der Staatsmacht durch die Revolution vollzog sich sowohl in Frankreich wie später in Rußland, erst recht aber in Amerika, wo die Revolution darin bestand, daß sich auf in vielerlei Hinsicht betreffend die Reichweite der Entscheidungen des geographisch fernen Souveräns sehr rechtsunsicherem, ja fast gesetzlosem Kolonialgebiet überhaupt erst eine effektive Staatsmacht konstituierte, zunächst überwiegend unblutig; erst der Versuch verbliebener Reste angestammter, auch quasikolonialer oder quislingshafter, nicht immer im nationalstaatlichen Rahmen regierender und häufig ausländischer Feinde der Revolution, dieser den Garaus zu machen und die im Entstehen begriffene neue Staatsmacht zu zerschlagen, bahnte Bürgerkrieg, Terror und anderen im dramatischen massenmedial vermittelten Geschichtsbewußtsein der Gegenwart für wesentlich am revolutionären Geschehen gehaltenen Scheußlichkeiten den Weg.

 

Alle einigermaßen aufgeklärten Menschen wissen, daß da, wo die Affekte sich bemerkbar machen, manchmal der Verstand stillsteht. Widerfährt das denen, die der Revolutionsgedanke erschreckt, dann versuchen sie oft, das, was sie nicht denken können, mit anderen Mitteln als dem Verstand zu beurteilen, etwa indem sie die in ihnen tobenden Affekte gefühlsmäßig gegeneinander abwägen oder projektive Vermutungen darüber anstellen, von welchen Affekten (Sozialneid, Trotz, Haß) nun wieder umgekehrt die Revolutionärinnen und Revolutionäre getrieben sein könnten, was oft den fatalen Nebeneffekt hat, daß die sie beobachtenden Revolutionärinnen und Revolutionäre zu dem Schluß kommen, daß der Revolutionsgedanke eine Schwelle darstellt, deren geistige Übertretung offenbar soviel Energie kostet und so sehr davon bedroht ist, daß man sich von Außenangst sofort wieder hinter jene zurückprügeln läßt, daß jener Gedanke sich überhaupt nur dann Geltung auf der wirklichen Welt verschaffen könnte, wenn die historische Lage der Eingeschüchterten ihn ganz und gar unvermeidlich mache. Zahllose schlechte, vulgäre, grobschlächtige Revolutionstheorien sind aus diesem Grunde Zuspitzungstheorien, die Verelendungstheorien aufsitzen. Naive Menschen, die zwar keine Rechenfehler bei ihrer Deduktion, wonach eine Revolution nötig sei, gemacht haben, sich aber etwa durch ungünstigen Geschichtsverlauf unter den Zwang gesetzt sehen, sich und anderen zu erklären, warum sie damit so vergleichsweise allein dastehen, also nicht nur die gegen sich haben, die aus dem morschen Bestehenden einen Nutzen ziehen, sondern auch diejenigen, aus deren Menge eigentlich das berühmte revolutionäre Subjekt zu rekrutieren wäre, kommen auf diesem Weg zu dem Schluß, Revolutionen würden nicht nur bloß in den allerärgsten Lagen von denen für nötig gehalten, die sie vollbringen müssen, sondern passierten überhaupt nur, wenn sie unvermeidlich sind – so hat man das marxistische (und nicht immer ganz Marxsche) Schlagwort von der »revolutionären Situation« auslegen wollen, dabei ist damit etwas viel Bescheideneres gemeint, eine Negation: Wenn die Revolution nicht drin ist, passiert sie nicht, über irgendwelche hinreichenden Bedingungen ihres Eintretens ist damit nichts gesagt (oder wie Peter Hacks einmal Marx paraphrasierte: »Wer in einer nichtrevolutionären Situation Revolution macht, ist ein Idiot«146).

Zusätzlich kompliziert wird die Sache freilich dadurch, daß der falsche Gedanke wieder mal einer von denen ist, die richtige Folgen haben können: Zwar passiert die Revolution nicht nur dann, wenn sie unvermeidlich ist, muß aber, wenn denn die geschichtliche Erfahrung überhaupt irgend etwas lehrt, offenbar von genügend vielen – und den richtigen – Leuten für unvermeidlich gehalten werden, damit sie passieren kann.

 

In Wirklichkeit geht es hier, wie so oft, um eine Wahrscheinlichkeitsfrage (wenn alle glauben, die Sache sei unvermeidlich, ihre Wahrscheinlichkeit aber unter 50 Prozent liegt, kommt meistens nichts Schöneres heraus als in Rußland 1905 oder in Deutschland 1919, aber vorher weiß man das nicht immer). In der Interpenetration von Fürwahrhalten und Handelnkönnen steckt nichts Geringeres als die Lösung des alten Voluntarismusproblems, also der Frage, ob man Revolutionen unter Verweis auf unabänderliche Geschichtsgesetze deterministisch beschreiben könne oder es umgekehrt eine reine (kollektive) Willensfrage sei, wann und wie sie stattfinden und verlaufen – das Voluntarismusproblem, in dessen Rahmen sich allerlei Parteien, Fraktionen, Sekten seit Olims Zeiten mal Blanquismus, mal Quietismus, mal Zentrismus und wer weiß was noch für -ismen vorwerfen, stellt meist eine hyperobjektive gegen eine ultrasubjektive Richtung und will dann zwischen beiden ein Spektrum aufmachen, in dem sich revolutionäre Agitation und Politik behaupten sollen. Das Problem ist also von vornherein falsch formuliert, wahrscheinlichkeitsvergessen, sozusagen vorbayesianisch: Wo es um Wahrscheinlichkeiten geht, geht es um große Teilchengruppen und deren Wechselwirkungen; der subjektive Faktor im revolutionären Geschehen ist nicht einfach subjektiv, sondern subjektiv in genügender Menge, über einer kritischen Masse (die überdies auch noch nichtnégligeable qualitative Merkmale hat), deren Vorhandensein oder Abwesenheit aber wieder kein subjektiver, sondern ein objektiver Tatbestand ist, für den es beobachtbare Kriterien gibt – zum Beispiel solche der je gegebenen Kommunikationslandschaft: In einem Flächenstaat ohne hinreichend gut entwickeltes Nachrichtennetz auf Umsturzseite, wenn also die Teilchen vereinzelt sind, die Systeme geschlossen und entropischen Prozessen ausgesetzt, unterlaufen leicht garstige Geschichten wie der vermasselte Aufstand der KPD 1923 (»deutscher Oktober«); Herrschaft, die sich gegen Revolutionen absichern will, wird immer Sorge tragen, daß die bayesianischen Prozesse nicht in Gang kommen, die wir meinen – und auch dieses »Sorge tragen« ist etwas Objektives, die entsprechenden Handlungen werden wirklich vorgenommen, die an der Revolution Interessierten müssen ihnen begegnen, sie brechen. Ob es mediale Plattformen gibt, einen öffentlichen und/oder klandestinen Apparat, eine Organisation in Betrieben, regelmäßige Treffen, ein leidlich verbindliches Vokabular, das die statistischen Prozesse zusammenfassen kann, all das sind objektive Gegebenheiten der Einfassung des subjektiven Faktors ins soziale und politische Gesamtgeschehen, ebenso wie die Frage, ob die Revolution das vorhandene Regiment der Produktion durch eins ersetzen kann, das die Versorgung sicherstellt (und mehr, wenn möglich), ob dafür Infrastruktur und revolutionäres Personal vorhanden ist – je konkreter man wird, desto eher zergeht die Binäropposition hie subjektiv, hie objektiv in etwas, das mehr als zwei Dimensionen hat und die bewährte Triangulation »programmatisch-strategisch-taktisch« erfordert:

 

Programmatisch: Bereitstellung »symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien« (Luhmann), allgemeine Zweck-Mittel-Ratio, Selbstkonstitution der Revolution als Revolution.

 

Strategisch: Wie sehen die gegebenen, zu übernehmenden oder zu zerschlagenden Einrichtungen der Staatsmacht aus?

 

Taktisch: Wann ist Aufklärungsarbeit nötig, wann werden welche Gebäude besetzt, wann stehen die Zeichen auf Vorstoß, wann auf Rückzug?

 

Schlüsselt man das, was eine Revolution bedingt und was sie leisten muß, nach diesen Kategorien auf, verschwindet das Voluntarismusproblem wie etwa auf abstrakterer Stufe die Frage, ob die Tatsache, daß das, was morgen geschehen wird, morgen geschehen wird, nicht den Fatalismus rechtfertigt (sie tut es nicht, denn aus einer Tautologie kann man nichts ableiten). Der präfaschistische Ideologe Georges Sorel hat das Voluntarismusproblem statt nach dieser Seite der Konkretion, des Operativen und Instrumentellen (der sogenannte Wille der Aufständischen, sagen wir, ist eben auch kein transzendenter Revolutionsquell, sondern nur eine soziale Maschine unter vielen, die auch kaputt sein kann) bekanntlich in einer »antimaterialistischen Marxrevision« nach der genau entgegengesetzten Richtung aufgelöst, wonach der Wille alles, die tatsächlichen Programme, Strategien und Taktiken rein gar nichts seien; sein Schüler Mussolini hat sich das mit ebenfalls bekannten Folgen zu Herzen genommen, und Hitler war bis zum Schluß, bereits umzingelt von der Roten Armee, der eisern gegenaufklärerischen Ansicht, das zwanzigste Jahrhundert werde nun endlich mit dem seit der Französischen Revolution in der Politik verwirklichten »Zeitalter des Intellekts« brechen und an seiner Stelle das »Zeitalter des Willens« setzen (ein bißchen schlecht verdauter Nietzsche spielte da auch eine abgeschmackte Rolle). Daß man Lenin gelegentlich mit Blanqui verwechselt und die Revolution der Bolschewiki von 1917 für eine voluntaristische Veranstaltung gehalten hat, daß aber auch von Spontis bis zu den Autonomen Sorelsche Züge auf der Linken noch nach dem Zweiten Weltkrieg vorgekommen sind und in jüngster Zeit auch das vieldiskutierte französische Manifest Der kommende Aufstand passagenweise bis in einzelne Entscheidungen der Wortwahl nach Sorel schmeckt, sollte allemal zur vorsichtigen Einzelfallunterscheidung mahnen, bei der Propaganda und Interessen der bewußten und der bloß ihrer Schwerkraft erliegenden Hilfskräfte der bestehenden Ordnung nicht übersehen werden dürfen.

IV.
Eifer des Gefechts: Spontan prophetisches, paradox langfristiges Wissen

Once a thing is seen, it cannot be unseen: Es gibt für Leute, die eine Revolution machen, neben den affektiven, den erleuchteten und den gesetzesbrecherischen auch noch einen rationalen, die Richtigkeit der Überzeugung aber gleichwohl nicht garantierenden Grund, das, was sie da tun, für unvermeidlich zu halten: Meistens tun sie das nämlich erst, während bereits unumkehrbare revolutionäre Prozesse (im Kontext eines Gesamtablaufs, der aber trotzdem vielleicht nicht ans Ziel gelangt) im Gang sind – die Prophezeiungen, in denen das Unvermeidlichkeitsempfinden sich artikuliert, sind dann aber nicht solche, die etwas Nichtvorhandenes als bevorstehend beschreiben, sondern etwas Begonnenes als vollendet. Was daran richtig ist, muß niemanden optimistisch stimmen: Entwicklungen im Rahmen umfangreicher Antagonismen können eben immer nur entweder zu ihren impliziten positiven Resultaten fortschreiten oder einen schlimmeren als den status quo ante vorbereiten; arretieren lassen sie sich nie (der Katechon ist ein Schmittsches Märchen beziehungsweise eine Figur, die etwas als konservativ, bewahrend also, ausloben soll, das in Wahrheit einfach reaktionär ist, also herrschaftssichernd auch um den Preis der Nichtbewahrung sozial sogar den Beherrschten zuträglicher Aspekte des bestehenden Herrschaftssystems).

 

Selbst im aus heutiger Sicht so unangemessen siegesgewissen Manifest der Kommunistischen Partei schwingt davon eine Ahnung mit, in dem berühmten Satz, der als den die Alternative zur Revolution benennenden möglichen Ausgang von Klassenkämpfen den gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen anführt.

 

Dieser Zwang der Nichtarretierbarkeit gilt nicht erst für Straßenkämpfe, Guillotinierungen und Schießereien, sondern gerade auch für revolutionäre Geschehnisse, die so weitreichend (und daher in kurzer Zeit gar nicht vollendbar; das ist wie im Lichtkegel, wo eine bestimmte Signalausbreitungsgeschwindigkeit jede Definition von »Ereignis« bindet) sind wie etwa die Ersetzung der ständischen Welt durch die bürgerliche oder die Ersetzung dieser späteren durch eine sozialistische. Nach einer Art Pendelfluchgesetz des verpfuschten Fortschritts sind dabei Rückschläge oft verheerender, als es jedes bloße, aber eben sachlich unmögliche Zurückschnappen auf den blödsinnigsten status quo ante sein könnte – Wolfgang Pohrt über einige Folgen des Untergangs der Sowjetunion:

»Wie die auf halbem Weg steckengebliebene Aufklärung schlimmer als keine ist, insofern Millionen Analphabeten besser als Millionen Bild-Leser sind, macht jede mißlungene Revolution die Verhältnisse schlimmer, als sie waren. Daß vom Faschismus schweigen soll, wer vom Kapitalismus nicht reden mag, ist richtig, aber nur die halbe Wahrheit, denn die modernen Greuel setzen außer dem Kapitalverhältnis Massen voraus, die von den Versprechungen des Kommunismus hörten und daran Gefallen fanden. Hat die richtige Idee, daß es jedem besser gehen könnte und daß der Zustand der Welt insgesamt ein unerträglicher ist, sich einmal in den Köpfen festgesetzt, so stirbt man in der Not nicht mehr bloß am Hunger. Die Alternative Sozialismus oder Barbarei stellt sich dann, wenn die Massen ihr Dasein nicht mehr als gottgegeben hinnehmen und es eine Rolle spielt, von welcher Art Politik sie sich die Verwirklichung der in ihnen geweckten und ihnen nicht mehr auszutreibenden Wünsche versprechen.«147

Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und andere, die am Ende des Ersten Weltkriegs den Zeitpunkt für die sozialistische Revolution in Deutschland für richtig, diese nämlich in der oben beschriebenen Weise für unvermeidlich hielten, hatten es daher nicht nur mit der Aufgabe zu tun, Marxens Programm zu realisieren, sondern auch mit der vielleicht noch dringlicheren, ihnen aber ganz begriffsunzugänglichen, Hitler zu verhindern, dessen Name sie nicht kennen konnten, dessen Funktion aber ihr Geschichtswissen (etwa über das Ende der Pariser Kommune) sie richtig vorauszuahnen in die Lage versetzte.

Wer gegenüber Menschen, die sich an so einem Punkt wiederfinden, ex post factum von ungerechtfertigtem Optimismus tönt, hat vielleicht das schlimme Ergebnis, nicht aber seine paradoxen Voraussetzungen verstanden, und sollte vielleicht etwas bedachtsamer reden.

V.
Stille Feldpost der Revolution: Permanenz und Unterbrechung

Manchmal geht gesellschaftlich erstrittenes Wissen verloren; manchmal dauert es sehr lange, bis es sich herumgesprochen hat. Noch im Jahr 2009 kann sich ein amerikanischer Hochschullehrer und Erforscher der Politikwissenschaften namens Jack Fruchtman Jr., dem es obliegt, seinem Publikum The political philosophy of Thomas Paine auseinanderzusetzen, nicht begreiflich machen, wie es möglich war, daß jener militante Aufklärer, als die ersten Ereignisse sich zugetragen hatten, die das überkommene Verhältnis zwischen monarchistischen und ständischen Institutionen in Europa und Amerika zu verändern begannen, eine globale Revolution mit dem Ergebnis der völligen Abschaffung der alten Ordnung binnen sieben Jahren voraussagte148 – der verdutzte Ideengeschichtler nennt diesen Einfall tollkühn und kann ihn sich nur mit dem Bild der Trunkenheit erklären: »The very idea of revolution became like wine to his head«149 – die Übervernünftigkeit, der die Unvernunft der Mitmenschen aus dem Blick gerät, wird selbst zur Unvernunft erklärt, und damit der Prophet auch so recht als raving lunatic dasteht, wird bei ihm eine Krankheit diagnostiziert, die es zur fraglichen Zeit noch gar nicht gab: Paine habe sich in eine Idee verbissen, »that the twentieth century would know as ›the permanent revolution‹, a global condition of constant upheaval until the rise of a universal civilization of reason, science, and democracy«.150

 

Der Philologe irrt sich; die »permanente Revolution«, an die er sich da erinnert, zeigt sich bei Trotzki und Lenin, von wo er sie nach dem Prinzip der Stillen Post in so verzerrter Weise hat grummeln hören, als etwas, das mit Fruchtmans bombastischer »global condition« herzlich wenig zu tun hat. Worum ging es? Als die Vorbereiterinnen und späteren Protagonisten der Russischen Revolution die marxistische Theorie im frühen zwanzigsten Jahrhundert ihren Erfordernissen anzupassen suchten, litt diese Theorie schon seit einer Generation (und etlichen Palliativen aus der Apotheke von Marx und Engels zum Trotz) an einer ernsten Knochenkrankheit, nämlich dem allmählich erstarrenden Denken in quasigeologischen historischen Schichten, das heißt sauber geschiedenen (und im Ansatz gar kuhnisch »inkommensurablen«) Epochen; man dachte sich den Fortschritt sozusagen gequantelt, und wer Stufen überspringen wollte, mußte sich des Synkretismus, ja Eklektizismus schuldig machen und rasch wieder ganz nach unten purzeln.

Man erkennt darin ohne Schwierigkeiten das Erbe vor allem Condorcets, dessen progressistische Denkweise aber gegen zyklische, das heißt vicoide, oder orthogenetisch heilgeschichtliche, das heißt aquinatische, mit denen er rang, eine gewisse eristische Berechtigung gehabt haben mag. Was bei Condorcet tatsächlich eine ziemlich rigide Treppe ist, als deren Geländer sich die Theorie anbietet, wird bei Hegel immerhin zur Rolltreppe dynamisiert: Die Stufen entstehen am Fuß des Aufstiegs im dialektischen Prozeß der durch Rückschläge immer mehr zu sich kommenden Selbsterkenntnis des Weltgeists; auch bei Hegel aber gilt streng, was der einen Etappe des Prozesses gemäß sei, werde sich in der anderen nicht mehr finden – und dieser Hegelianismus nun ist es, den die russischen Marxianer unmittelbar vor Lenin nachbeteten, besonders der »Vater des russischen Marxismus« G.W. Plechanow, dessen Klassenanalyseskizzen ergaben, man habe es bei der zaristischen Autokratie mit einem quasifeudalen System zu tun, einem sehr späten, aber doch eindeutigen späten Absolutismus, der stark auf dem adligen Standbein, schwach auf dem bürgerlichen Spielbein sei, und so erklärte er und erklärten die, die ihm vertrauten, es stehe beim Kippen des Zarismus erst einmal eine rein bürgerliche Revolution auf der Tagesordnung: Die Bourgeoisie, so erwartete man, werde zunächst wie in der Todesstunde des französischen Absolutismus den Zaren und seine mittelalterlichen Spinnweben hinwegfegen und mit dem ständischen Gerümpel aufräumen, unterstützt durch neo-sansculottische Elemente wie das (zahlenmäßig und auch sonst nicht hochentwickelte) städtische Industrieproletariat und ein paar unzufriedene, aber abenteuerlustige ärmere Bauern. Darauf sollte dann der schemagerechte Aufbau einer liberalen, bürgerlich-demokratischen Wirtschaftsordnung und politischen Republik folgen, die sich so lange würde halten können und müssen, bis sich in ihrem Schoß die Umsturzbedingungen für die nächste historische Stufe, nämlich die aus einer weiteren Revolution hervorgehende Diktatur des Proletariats samt der von dieser befehligten Errichtung des Sozialismus ergeben werde; vermutlich erst, nachdem derselbe Vorgang in den weiter industrialisierten, also im Marxo-Condorcetischen Sinne fortgeschritteneren westlichen Flächenstaaten stattgehabt haben würde. Trotzkis und Lenins Stichwort von der »permanenten«, also nicht durch diese bürgerliche Entwicklungsstufe unterbrochenen Revolution setzte diesem Konzept ein klares, eindeutig anderes entgegen: Warum denn, fragten sie, die beiden Revolutionen, die bürgerliche und die proletarische, analystisch überhaupt auseinanderziehen, warum sie nicht als ein und dieselbe, durch eine Entwicklungsphase des Kapitalismus und Liberalismus nur unnütz unterbrochene Selbstbefreiung der emanzipationswilligen und -fähigen russischen Menschen betrachten, wieso das Proletariat erst für die Kapitalisten akkumulieren lassen, um ihm hernach die große Industrie abzunehmen, wenn man sie auch gleich von ihrer zukünftigen Nutznießerin, der mit ihrer Selbstabschaffung beschäftigten Arbeiterklasse, aufbauen lassen konnte? Warum so tun, als wüßte man nicht schon, was das übrige Weltproletariat erst aus seinen Kämpfen und dann aus den sie auf den Begriff bringenden Theorien des Marxismus gelernt hatte, nämlich daß die klassenlose Gesellschaft nur von den vormaligen Nichtbesitzern kapitalistischer Produktionsmittel, die sie in sozialistische umwandeln müßte, würde erreicht werden können? »Permanent« hieß also gerade nicht, wie Fruchtman, an ein in marxistischen Dingen unbeschlagenes Publikum gerichtet, selbst uninformiert mutmaßt: Es hört nicht mehr auf, bis irgendein unbeschreibliches Ziel erreicht ist, sondern: Es wird nicht schemagläubig unterbrochen, bevor ein ziemlich beschreibliches erreicht ist. Daß der Irrtum des Gelehrten in einigen mißverständlichen bis wirren Äußerungen Maos und noch mißverständlicheren und wirreren im westlichen Maoismus präfiguriert ist, macht alle drei nicht besser.

 

Die wichtigsten organisatorischen (nicht institutionellen: Das waren dann ab 1905 die Sowjets) Träger der Russischen Revolution, die Sozialdemokraten, hatten sich, als Plechanows Lehre unter Beschuß geriet, bereits (auf Betreiben Lenins, dessen taktische Entscheidungen in diesem Zusammenhang von fast zwanzig Jahre vorher gereiften strategischen Überlegungen geleitet waren) in zwei Fraktionen gespalten, die gemäßigten und zur Zusammenarbeit mit den Liberalen bereiten Menschewiki und die radikalen Nolschewiki; als Lenin aber aus dem Exil zurückkehrte, beabsichtigten beide nicht mehr als die dem Stufenschema entsprechende Vollendung (was immer das geheißen hätte) der bürgerlich-demokratischen Revolution mit möglichst deutlicher Schlagseite nach links und möglichst günstigen Ausgangsbedingungen für die Eröffnung der nächsten, auf den Sozialismus hinauslaufenden Runde. Lenin aber forderte in den berühmten April-Thesen, überraschend auch für seine Bolschewisten (nicht wenige von denen hielten ihn zunächst für verrückt), das Auseinanderjagen des bürgerlichen Parlaments und die Übertragung der gesetzgebenden wie administrativen Gewalt auf die Sowjets. Nur, weil er dies vertrat, konnte ihn jetzt Trotzki, der lange Zeit Zentrist, das heißt in Äquidistanz zwischen Menschewiki und Bolschewiki taktierender, vielleicht brillanter, möglicherweise auf lange Sicht unter weniger revolutionären Umständen irrelevanter Intellektueller geschrieben und gearbeitet hatte, für einen neugewonnenen Anhänger der Theorie der permanenten Revolution halten und so begrüßen, was wiederum auf Lenin den Eindruck machte, der bis dahin so unzuverlässige Trotzki sei erfreulicherweise über Nacht Leninist geworden. Was ihnen beiden damit gleichzeitig gelang, war der Bruch mit dem Stufenschema, das heißt die Wiedergewinnung der seit der Aufklärung immer wieder von theoretischem Efeu zugewachsenen Erkenntnis, daß die praktische Vernunftgeschichte ein sehr lebendiges Widerspiel zwischen logischen und kontingenten Faktoren ist (eine Erkenntnis, die freilich keinen Cent wert gewesen wäre, wenn nicht Leute im Heer des Zaren für ihre konkreten Folgekalküle zu begeistern gewesen wären – wichtiger als Fragen wie die, ob Hegel, Marx, Sorel oder Guido Westerwelle die richtige Geschichtsphilosophie hatten oder haben, müßten ja etwa auch für Leute, die heute in der Bundesrepublik Deutschland irgend etwas Revolutionäres oder wenigstens Demokratisches vorhätten, Probleme sein wie dasjenige, daß die Abschaffung der Wehrpflicht im Zuge der allgemeinen Modularisierung von Staatsaufgaben und mit der Absicht, ein modernes, situativimperialistisches Interventionsheer zu schaffen, nicht eine ungünstige Isolation bewaffneter Abteilungen der Staatsmacht von der Restbevölkerung bedeutet, infolge derer schon Vertreterinnen und Vertreter pazifistischer, geschweige umstürzlerischer Absichten schwer zu kämpfen haben werden).

 

Wenn schon Theorie (und wir haben, wie die Existenz dieses Buches beweisen dürfte, nichts dagegen), dann sollte den logischen Determinanten und Attraktoren der Angelegenheit zwar neben den kontingenten ein durchaus autonomes, mit diesen aber erkennbar zusammenwirkendes, interpenetratives Feld zugesprochen werden, vielleicht wie in der vorbildlichen Tabelle von Shulamith Firestone in The Dialectic of Sex, in der die Autorin die »proletarian revolution« als Emanzipation vom naturwüchsigen Produktionszusammenhang in direkter Strukturkorrespondenz zur »feminist revolution« als Emanzipation vom naturwüchsigen Reproduktionszusammenhang setzt.

»Praktische Vernunftgeschichte« (im Grunde dasselbe, was wir mit »sozialer Fortschritt« meinen, unter einem anderen, sozusagen analytischen statt synthetischen Gesichtspunkt betrachtet) ist ein Gegenstand, bei dem die Grenzen der Durchsetzbarkeit von Vernunft ebensosehr geschichtlich (also oft: sehr unvernünftig) sind wie ihre Chancen.

Wenn das, was Leute zur Geltung bringen wollen, die absichtlich (statt getrieben von bloßen Zug- und Druckkräften) Geschichte machen, Gedanken sind, heißt das nicht, daß der Kampf um diese Geltung selber etwas Gedankliches wäre. Kräfteverhältnisse als meßbare Sonderfälle von logischen Unterscheidungskriterien wie »richtig« und »falsch« beschreiben zu wollen statt Ideenstreitigkeiten umgekehrt als Sonderfälle von starken gegen schwache Parteiungen, halten wir für eine gefährliche Illusionenquelle. Soweit geschichtliche Ereignisse sich zu so etwas wie einer Erzählung von Siegen und Niederlagen der Vernunft zusammenbringen lassen – und wir geben zu, das geht nicht immer, aber die Fälle, wo das nicht geht, sind eben doch intellektuell eher unergiebig, außer für die Mythenforschung, Mircea Eliade kann sie haben –, versuchen wir also, sie nicht nur an ihrer Vernünftigkeit, sondern an ihren historischen Voraussetzungen und Folgen zu messen. Daß es Revolutionen gab, daß sie möglich waren und für nötig gehalten werden konnten, bringt uns dabei aber in eine Verlegenheit: Je genauer man Revolutionen gerade ihrem konkreten geschichtlichen Ablauf nach untersucht, desto sichtbarer wird, daß hier häufig Ereignisse beobachtet werden können, die sich gegen ihre historischen Voraussetzungen und Folgen ausgesprochen ruppig, fast schon trotzig gleichgültig verhalten. Die Revolution, scheint es, ist ein Moment, der sich für alles auf der Welt interessiert, nur nicht dafür, wo er herkommt und wo er hingeht. Kein Grund zum Verzweifeln: Dieses Erstaunliche liegt daran, daß Revolutionen Vorkommnisse sind, in denen die Geschichte das Geschichtlichsein bleibenläßt und statt dessen programmatisch wird. Plötzlich geht es um Vorsätzlichkeiten, eben noch ging es um Interessen: Das hat die Revolution mit dem Verbrechen gemeinsam – der Hungrige, der stiehlt, wird vom Objekt seiner Not zum Subjekt einer Übertretung und damit ein anderer, das heißt, wäre das Naturrecht wahr, überhaupt erst seiner selbst als Mensch bewußtgewordener Mensch. Notwehr macht wach; im günstigsten Fall verleiht sie denkenden Wesen den Impuls, feedbackarme Systeme (»Herrschaft«) durch feedbackreichere (»Demokratie«) zu ersetzen; aber dabei geht dann manchmal einiges an Information verloren, und kaum sind ein paar Jahrhunderte vergangen, verwechseln die Gelehrten Paine mit Trotzki – und verstehen beide nicht.

VI.
Erweiterte Kaputtmachbarkeit

Seit Brecht eine seiner Figuren fragen ließ, was denn schon ein Bankraub sei gegen die Gründung einer Bank, ist die Klage über Gesetzlosigkeit und Zerstörungswut von Revolutionen meistens da besonders verbreitet gewesen, wo mit ihnen nicht zu rechnen war. Revolutionen sind indes keine, wenn sie Banken nur leerräumen, Festungen nur schleifen, Institutionen nur sprengen, sie müssen schon etwas gründen können, wenn sie ihren Nutzen haben wollen; es muß ja keine Bank sein.

Die Spannung zwischen Gesetzesbruch und gesetzgebender Mission wird im revolutionären Ablauf allerdings schon vor dem Umsturz bedeutsam; Bob Dylans Mahnung »to live outside the law you must be honest« verweist indirekt darauf, daß nicht nur die Kader der Umsturzpartei, sondern selbst der Bankräuber, wenn er denn ein reflektierter wäre, nicht einfach gar keine, sondern andere Banken wollen müßte (solche, in die man nicht erst einbrechen muß, damit sie hergeben, was man braucht, zum Beispiel).

 

2010, während wir schon mitten in der Arbeit an einer vorläufigen Endfassung dieses Buches steckten, zündeten in Griechenland gegen allerlei Zwangsmaßnahmen und Sozialetatkürzungen zur Einhaltung der europäischen Verpflichtungen jenes Staates rebellierende Idioten eine Bank an und brachten damit Menschen ums Leben; die massenmedial daraufhin eifrig verbreitete, in Bestürzung eingekapselte Häme von Leuten, die schon immer vor dem Chaos gewarnt hatten, konnte sich wahrlich sehen lassen.

Kurz zuvor hatte man in marxianisch orientierten Kreisen das Land, das auf einen Staatsbankrott zuschlidderte, bereits für das erste kontinentaleuropäische gehalten, in dem es seit 1989 wieder spannend wurde: War Griechenland nicht auch, vom Wirtschaftlichen mal eben fast abgesehen, der Staat, in dem während der ansonsten recht trüben Nullerjahre die Bemühungen um eine neue Koordination sich als kommunistisch verstehender Kräfte zu einer Internationale am weitesten fortgeschritten waren, weiter jedenfalls als in der ehemaligen Sowjetunion, überhaupt den zerfallenden Regionen der ehemaligen Staaten des Warschauer Vertrages, wo letzte Nostalgiker sich in seltsamen Retropatriotismen einigelten?

Die ränkeschmiedenden roten Griechen rund um die KKE standen als Leninisten vor einer ernsten Bewährungsprobe, wer immer aber glaubte, sie würden die Chance nutzen können, hatte die Rechnung beim Versuch, eine feedbackarme in eine feedbackreichere Politik umzuwandeln, ohne die existierenden Öffentlichkeitskanäle gemacht: the revolution may not be televised, aber Verwüstungen und unkoordinierter Protest sind doch sehr telegen, einerseits sexy und andererseits demoralisierend nämlich, und wann können die Massenmedien sonst schon mal den beiden Seelen, die in ihnen wohnen, dem marktgängigen Sensationalismus nämlich und der systemstützenden Propagandafunktion, so schön gerecht werden wie da, wo berechtigte Wut aus dem Ruder läuft? Eine Bank brennt, darin eingeschlossene Menschen sterben, und die Musik dazu erinnert an eine, die man aus der Großberliner Presse kennt, auch der sozialdemokratischen, als die es sich nicht nehmen ließ, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht als entmenschte, brandschatzende Ungeheuer, zumindest aber hinter diesen stehende Schreibtischgangster auszuschreien.

Die brennende Bank aber ersetzt feedbacklose Verhältnisse nicht durch bessere; nicht Server wurden gestohlen (oder blockiert, damit Befehle der counterinsurgency ihre Empfänger nicht mehr erreichen), nicht Fernsehstudios besetzt oder Läden (freie Warenverteilung ist keine elegante, aber je nachdem manchmal eine belebende Form der Rückeroberung des Mehrprodukts), überhaupt nichts irgendwie wenigstens gestisch Fortschrittliches steckt in der brennenden Bank (oder im brennenden Reichstag). Das Zerstören zum Zweck der puren Erzeugung von Schrecken, die Randale kann als Markierung der bereits eingetretenen Legitimitätsverluste eines wirtschaftlichen, rechtlichen, politischen Systems solche gestischen Aufgaben erfüllen; wer an dieser Stelle aber ins Moralische oder Antimoralische fällt und die alte Perle aus dem Ethikunterricht – »Heiligt der Zweck die Mittel oder nicht?« – poliert, hat wieder das (naturgemäß auch normative, aber sehr viel wertvollere) Gebot der Konkretion verletzt, wonach es nicht um irgendwelche Mitarbeitsnoten und Gesinnungsstrebereien geht, wo die Lage kippt, also auch nicht darum, ob irgend etwas geeignet ist, irgend etwas anderes zu »heiligen«, sondern darum, ob ein bestimmtes Mittel geeignet ist, die Zwecke, für die man ja schließlich so viele Menschen gewinnen will wie möglich, erkennbar zu machen oder zu halten. Mord ist ein ziemlich unergiebiger Hinweis auf die Absicht, das Leben erträglicher einzurichten, soviel steht fest.

VII.
Technomaterialistisches Scherzo

Wenn man imstande ist, der Versuchung zur starren Topik zu entraten, kann man bei Marx und Engels eine Grundspannung kennenlernen, die vorrevolutionäre und revolutionäre Epochen besser verstehen hilft als die steilste Condorcetsche Treppe: das Mißverhältnis zwischen Produktionsverhältnissen und Produktivkräften. Auch dieser Ansatz aber kann verkalken: Läßt man, von ihm verzaubert, unmittelbare Gewaltphänomene sowie Politik, Recht und das sonstige Brimborium der Humanwissenschaften als unerheblich beiseite und hält dafür, daß der Feudalismus nur deshalb (und zwangsläufig) auf den Menschenbesitz folgte, weil sich die Landbestellung auch anders organisieren läßt als mittels der Sklaverei, nämlich über Auspressung Verschuldeter, die man zu Leibeigenen macht, und läßt man Kapitalismus und Manufaktur allein aus der Grundspannung zwischen Verhandwerklichung und Verstädterung einerseits, Lohnarbeit andererseits hervorgehen, dann kann man leicht auf den Einfall kommen, Automation, Informatisierung, Vernetzung und Biotech möchten unter privateigentümlichen Verhältnissen mit durch die neuen knowledge commons allmählich ineffektiv werdenden Titeln auf intellektuelles Eigentum den nächsten derartigen Sprung vorbereiten. In diesem Bild war die Bourgeoisie dann nur Erfüllungsgehilfin der selbsttätigen Technikentwicklung, diesmal mögen es Hacker und Biowissenschaftsfellachen sein, die auf das hören, What technology wants (so der hochspekulative Titel einer Abhandlung von Kevin Kelly aus dem Jahr 2010). Man kann diese Position technomaterialistisch nennen, oder ultrakittlerianisch (nach Friedrich Kittler, der eine erzgeisteswissenschaftliche Abneigung gegen die Geisteswissenschaften soweit treibt, daß er nur noch von Apparaten, Maschinen, Meßgrößen und allenfalls Mathematik etwas wissen will, wobei letztere schon aufpassen muß, welchen ontischen Status sie selbst und ihr Gegenstandsbereich noch bekommen, da Kittler doch in Sachen Computer lehrt: »Es gibt keine Software«), und ihre konsequenteste Ausprägung wäre dann wohl Vernor Vinges Lehre von der singularity, nämlich daß uns in nicht allzuferner Zukunft ein Stand der Technik bevorsteht, an dem selbstdenkende Siliziummaschinen, Biorechner aus miteinander verschalteten Blutzellen à la Greg Bears Blood Music oder anderweitig hyperentwickelte, vormals instrumentelle Dispositive echten Subjektstatus erreichen und von da an nicht mehr vorhergesagt werden kann, wie es mit dem Sozialen, ja mit den Menschen überhaupt weitergeht.

Allerdings hat diese Singularität, wenn man sie denn ernst nehmen will, auch ein paar soziale und politische Voraussetzungen – ja nicht weniger, als Manufaktur und große Industrie sie hatten. Handlungsspielraum besteht auch da noch: Glaubt ihr, könnte man Vinges Leute fragen, es wäre besser für uns Menschen, wir änderten die Verhältnisse selbst so, daß sie uns bekömmlicher werden, als sie jetzt sind, statt darauf zu warten, daß es die Maschinen tun, die sich ja, wenn sie denn wirklich einmal (oder gar: bald) zur eigenen Willensbildung fähig sein werden, vielleicht gar nicht mehr groß darum scheren werden, was wir wollen und was uns gefällt? Die singularity müßte, wie jede einigermaßen radikale Phantasie davon, was auf diesem Planeten noch alles möglich ist, also eher Anreiz sein, eine Welt zu schaffen, in der die Maschinen und die Menschen miteinander auskommen können, und mehr als das wollte der ganze Sozialismus nie, weder der utopische noch der Marxsche: daß das, was wir geschaffen haben, uns nicht versklavt.

Man kann, wenn man »die Menschen« als Abstraktion mit ein paar besonders eindringlichen Bildern davon, was empirische Menschen mit empirischen Menschen angestellt haben, überblendet, ja sagen: Weg mit den Menschen, echte Singularisten weinen ihnen keine Träne nach. Wir hätten das, was der Ausdruck Mensch seit dem Humanismus gemeint hat – eben nichts Positivistisches, sondern etwas durchaus Normatives –, aber schon gerne verwirklicht gesehen. Das mag Geschmackssache sein. Vielleicht erübrigt es sich, wenn Geschöpfe die Welt bevölkern, die uns (wie immer man das bestimmen möchte) überlegen sind; aber die meisten Freundschaften, die man hat, sind ja auch nicht anders: Dieser kann jenes besser als ich, jene dieses, ich aber vielleicht wiederum etwas besser als alle beide, und dann erwachsen aus Kooperation wieder Vorteile für die daran Beteiligten. Sollte man uns in absehbarer Zukunft von Maschinenseite als Legehennen verwenden, hätten wir uns über die menschlichen Potentiale geirrt, bis das eintritt, ziehen wir es aber vor, die »Apparate« der Singularitätsprophetik als das zu lesen, was Apparate derzeit nach wie vor sind: schaltplanartig erfaßbare Beschreibungen von Verhältnissen zwischen Menschen, die man sehr wohl daraufhin überprüfen kann, ob sie sinnvoll, in irgendeinem Verständnis zweckmäßig sind, Leidensquellen, Glücksgelegenheiten, und ob sie sich dem, was niemand je nicht gewollt hat, sobald ein Begriff davon da war, was »wollen« bedeutet, anpassen lassen: Auskommen, Freiheit, Mitsprache.

 

VIII.
Wen braucht eine Revolution?

Wenn man das Gemeinwesen umgestalten will, braucht man Technikerinnen, weil die Revolution das Gemeinwesen vermutlich vor technische Probleme stellt, man braucht Soldatinnen, weil sie es mit militärischen, Produzentinnen, weil es sie mit die Versorgung betreffenden, Medienleute, weil es sie mit Aufklärung verlangenden konfrontiert, kurz: Man braucht eigentlich alle, die eine vorhandene, durch Revolution abzuschaffende Ordnung auch braucht, die stabilisiert werden soll. Wie kriegt man die, oder weniger naiv gefragt: Wie wirbt man sie ab? Das klassische Modell, von Frankreich 1789 bis noch in die unübersichtlichste lateinamerikanische Gegenwart, sagt: Indem man ihnen gemeinsame Interessen als Hintergrund des im Alltag erlebten Trennenden zeigt, indem man also innerhalb des Gemeinwesens überall existierende Auseinandersetzungen und Antagonismen als Konflikte mit der Herrschaft überzeugend neu formuliert; sie in einen größeren Kampf um Transformation »englobiert« – den Begriff hat der späte Carl Schmitt sich bei François Perroux geborgt, er spielt eine gewisse Rolle bei der für den überzeugten Reaktionär sehr unheilvollen Vorhersage, man müsse mit einer »legalen Weltrevolution« sozialistisch orientierter Bürokratien rechnen, sozusagen einer Spenglerschen Variante der Adorno und Horkheimer eingefallenen Theorie von der »verwalteten Welt«.

»Gemeinsames Interesse« kann nur heißen: Sie sind in untereinander vergleichbarer Art davon ausgeschlossen, darüber zu bestimmen, was mit ihnen passiert. Dafür, daß sie das als Mißstand begreifen lernen, den man beseitigen kann und soll, müßten sie aber auch die Erfahrung machen, daß diese Beseitigung technisch (im Sinne unseres Wortgebrauchs im fünften Kapitel) möglich wäre, am besten aber: daß sie nötig ist. Und das werden sie nur einsehen, wenn man sie an die liberalen Versprechen der bürgerlichen Welt, an die Programmatik der Aufklärung erinnert und ihnen (also: »uns allen«, wirklich wie in den albernsten Sonntagsreden bürgerlicher Politik) begreiflich macht, daß das eine gute Programmatik war, die aber im Spiel, wie es seither gespielt wird, keine Aussicht auf Verwirklichung hat: Auskommen, Freiheit, Mitsprache.

IX.
Kein Dampfkessel

Wenn es den Leuten reicht, knallt es: Die These ist so falsch, nämlich immer nur relativ zu wirklichen, faßbaren Aussichten auf Besseres richtig, wie die ihr verwandte Verelendungstheorie (die ebenfalls nur als relative stimmt, wenigstens von der »Kluft zwischen Arm und Reich« und der Zunahme der Unsicherheit muß sie handeln, damit sie die Wirklichkeit zu fassen kriegt, eine Dimension weniger, und sie wird Quatsch).

Aufmerksamen Menschen wie Talleyrand ist aufgefallen, daß Revolutionen sich nicht dadurch ankündigen, daß die Leute immer bedrückter und wütender werden (das kommt beides vor, ist aber nicht zwingend), sondern dadurch, daß sie (sei es im Elend, sei es im relativen Wohlstand) anspruchsvoller werden, als die Herrschaft vorgesehen hat. Das Bestehende schafft nicht ab, wer vor lauter Unerträglichkeit dieses Bestehenden nicht mehr ein noch aus weiß, sondern nur, wer etwas Besseres für erreichbar hält: Das ist nicht dasselbe (natürlich gibt es einen Grenzwert, an dem die beiden zusammenfallen, nämlich den Gedanken: »Alles wäre besser als das, was jetzt ist«, aber will man darauf warten, daß der erreicht wird?). Das erwartbare und nicht dumme Gegenargument lautet, man dürfe ja wohl nicht darauf verzichten, die Widersprüche zuzuspitzen und auf die sich unterm Druck der Herrschenden immer wieder wirklich – nicht nach irgendeiner Verelendungstheorie, sondern tatsächlich – verschlechternde Lage der Ausgenutzten, Ausgegrenzten, Unterdrückten mit Empörung (man kann sich selbst empören, aber auch, in einer auffällig selten gebrauchten älteren Variante des Umgangs mit diesem Verb, andere) zu reagieren. Rät uns Talleyrand, sagen die, denen an diesem Argument etwas liegt, denn etwa dazu, die Ansprüche der Beherrschten zu heben, indem wir irgendeinen Sozialstaatskrempel verteidigen, damit gut versorgte Abhängige nicht verzweifeln, sondern Ansprüche über die Versorgung hinaus entwickeln, und will Talleyrand, daß wir vergessen, auch der schönste Sozialstaat ist unter den gegebenen Voraussetzungen vor allem Herrschaftsmittel, das die Leute ihrer Eigeninitiative enteignet, vereinzelt, befriedet?

 

Widersprüche zuspitzen statt verkleistern also, nun gut, aber dabei hilft es, nicht aus den Augen zu verlieren, was ein Widerspruch eigentlich ist: »Es ist alles schlechter als gestern« ist jedenfalls keiner, »es ist schlechter, obwohl noch mehr Mittel dafür da sind, daß es besser sein könnte« dagegen schon. Man muß also bei der Aufklärung, die das Handeln anleiten und ermutigen soll, nicht nur herausarbeiten, daß das Leben unter der Herrschaft scheußlich ist, sondern die Werkzeuge der Freiheit bereits bereitlegen, und zu diesem Zweck empfiehlt es sich, den mächtigen Gegner zu nötigen, zu zwingen, die Kampfbedingungen der Revolution selbst zu verbessern. Bloßer Antireformismus ist nicht revolutionär, auf Reformen im Sinne der Lebensverbesserung sollte man aus vielen Gründen, nicht nur dem der Anspruchshebung, bestehen, nur damit abspeisen lassen darf man sich nie. Manchmal reicht es, die loyalitätsbindenden Versprechen der Herrschaft – die ja schließlich, wenn sie nicht nur mit Polizeigewalt regieren will, was auf die Dauer sehr kostspielig und sehr instabil wäre, den Beherrschten irgendeinen Nutzen ihres Vorhandenseins einreden muß – beim Wort zu nehmen und sie so entweder per Judo auf die Matte zu werfen oder, und das ist der wahrscheinlichere Fall, die Versprechen als unerfüllt und im Rahmen der Herrschaft unerfüllbar zu blamieren.

 

Die besten Erfahrungen mit dieser Strategie haben im zwanzigsten Jahrhundert wohl die antirassistische Bürgerrechtsbewegung in den USA, der Feminismus, die Umweltleute und (für eine Weile, an manchen Orten) einige der übrigen Neuen Sozialen Bewegungen gemacht; nur waren unter diesen traurigerweise nicht genügend Menschen, die verstanden, daß jeder Erfolg solcher Bewegungen eine grundlegende Transformation der verkehrten Gesellschaft nicht nur keineswegs überflüssig, sondern im Gegenteil immer sinnvoller und erreichbarer machte; es ging ihnen wie Spielern, die das Gewonnene, da sie keine andere, längerfristige sinnvolle Anlagemöglichkeit dafür sehen, so lange wieder auf den Spieltisch legen, bis es wieder zu schrumpfen beginnt (wie dieses Schrumpfen aussieht, kann man, angefangen mit Susan Faludis Backlash, in sehr viel Literatur über die Fährnisse des Feminismus und sogenannten Postfeminismus seit den späten achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts nachlesen). Der grundsätzliche strategische Imperativ der Vermittlung von Programm und Taktik via Strategie bedeutet also, daß man auf allen Verbesserungen von Auskommen, Freiheit und Mitsprache besteht, für deren Erringung sich irgendwo auch nur der geringste Spielraum zeigt, dabei aber unbedingt darauf vorbereitet bleibt, daß die über den gegebenen Legalitätsrahmen Gebietenden diesen sofort abstreifen werden, wenn die Dynamik der Ernstnahme ihrer loyalitätsbindenden Versprechen ihre eigene Herrschaft als bleibendes Hindernis der gerechten Entwicklung von Auskommen, Freiheit und Mitsprache erweist und damit sozial zur Disposition stellt (wie schnell sie sich bedroht fühlen, lehren die Weimarer Republik und Allendes Chile). Diese Strategie, die als sehr allgemeine Gußform Gandhi mit Ho Chi Minh, Lenin mit Jefferson und Paine, die Jakobiner mit den Sandinisten verbindet, erschien einem so klugen Reaktionär wie Carl Schmitt daher auch ungleich gefährlicher als irgendein bewaffneter Desperadokampf oder das Autoanzünden in der Vorstadt; vom Anbeginn seiner Karriere spielte der spätere »Kronjurist des Dritten Reiches« seinen autoritären Souveränitätsbegriff daher gegen jeden, auch noch so drakonischen Legalitätsrahmen überhaupt aus – in dem Moment, in dem Herrschaft ihr Recht kodifizieren muß, hat sie schon ein Spiel eröffnet, das sie verlieren kann – und noch Schmitts letzte Überlegungen galten daher, wie oben schon angedeutet, nicht dem Chaos oder dem Untergang des Abendlandes, sondern einer »legalen Weltrevolution« wider alles, was ihm lieb und teuer war, von der Religion über den Nationalismus bis zur Diktatur – ganz richtig bestimmte er die in der Aufklärung liegenden Wurzeln dieses Ungeheuers, die »Fortschritts-Ideologien als treibende Motive der Superlegalität«, den »Patriotismus der Gattung«, gegen den er polemisiert:

»Praktisch allerdings ist die Übertragung einer verfassunggebenden Gewalt von der Nation auf die Menschheit kaum vorstellbar. Die Erde mag heute viel kleiner sein als das Frankreich des Jahres 1789, trotzdem dient die neue Technik nicht nur der Zentralisierung, sondern auch dem Widerstand gegen sie. (…) Sollen wir uns etwa eine Vollversammlung der UNO ausmalen oder wenigstens eine Sitzung des Weltsicherheitsrats, die ähnlich verläuft wie die Nacht vom 4. August 1789, in der die Privilegierten feierlich auf ihre feudalen Privilegien verzichteten? Übrigens war das ein Verzicht, dessen faktische Verwirklichung noch eines Dezenniums schauerlichen Bürgerkriegs nach innen und außen bedurfte.«151

Ähnlich wie im Wirtschaftlichen Hayek und Mises malt Schmitt einen Zentralisierungsteufel an die Wand, der davon lebt, daß (wie bei Demographiedebatten der Faktor Produktivität) die Realität der Kommunikationsverbesserung, also ein eher abstrakter Produktivkräftezuwachs, der in die Produktionsverhältnisse hinüberreicht, absichtlich übersehen wird: Zentralisierung kann heißen, eine Gewalt reißt alles an sich, oder es heißt, eine Plattform für die Einigung wird geschaffen, aber das zweite erscheint Schmitt nicht einmal denkbar, weil er selbst im Modell von 1789 steckenbleibt und das repräsentative Demokratiedispositiv in überzeichneter Vergrößerung »UNO« nennt, statt seine Überwindung im Zuge von neuen Formen der Demokratie und Planung zu ahnen. Ganz nah ist sein Abtasten der Nachkriegsordnung an den Widersprüchen, die zuzuspitzen sich für alle lohnen würde, die mehr wollen, als auf dem Wahlzettel zwischen sozialdemokratischen und rechtsliberalen Alternativen eine Entscheidung zu treffen – seine fortschrittsskeptische Argumentation, ins Ökonomische gewendet, geht etwa so: Da das Fabrikwesen nicht zur allgemeinen Arbeitszeitverkürzung führt, obwohl es die einzelnen Arbeitenden produktiver macht, ist es offenbar auch Unsinn, vom Fabrikwesen zu erwarten, es könnte zur allgemeinen Arbeitszeitverkürzung führen. So verhält sich’s, sagt Schmitt, mit der UNO und der Gerechtigkeit – aber es ist eben kein Unsinn, von einer technischen (noch einmal: das Wort im Sinne unseres fünften Kapitels verstanden) Verbesserung wie der Fabrik oder der UNO auch soziale Verbesserungen zu erwarten, ja zu fordern, nur darf man dabei eben nicht ignorieren, daß Fabrik und UNO Hebel zur Herstellung von Zuständen sind, nicht selber Zustände (zu deren äußerlichen Attributen dann Auskommen, Freiheit und Mitsprache etwa gehören können oder nicht).

Schmitt weiß das eigentlich; sonst hätte es keinen Sinn, daß er vom Bürgerkrieg redet – aber würde er an dieser Stelle genauer, müßte er auf die zu sprechen kommen, die eine Revolution besiegen muß und die sich eben, wie alle Leute, nicht so gern besiegen lassen.

 

Verliert man da nicht den Überblick, sieht man auch klar: Je günstiger die Ausgangslage, desto weniger Bürgerkrieg; alles, was die Sache weniger blutrünstig macht, ist zugleich ein günstiges Vorzeichen für ihren Erfolg, inklusive einer stabilen Legalität.

Wovor Schmitt sich fürchtete, die »legale Weltrevolution«, kann man auch befürworten – dann nennt man es vielleicht, mit H. G. Wells, »the open conspiracy« (der Name ist poetischer als der Schmittsche, aber sie berühren einander sichtlich. Man sagt, was man vorhat – »it may never become one single administrative system. We may have systems of world control rather than a single world state«152, ein feedbackreiches Arrangement also –, und nutzt jede Gelegenheit, sich diesem Vorhaben anzunähern. So blauäugig, anzunehmen, daß sich denen, die solch ein Ziel verfolgen, kein Widerstand entgegenstemmen würde, war Wells freilich nicht, und die einander ausschließenden Loyalitäten, zwischen denen sich die offenen Konspirateure würden entscheiden müssen, benannte er nicht weniger klar als Schmitt: »Loyalty to ›king and country‹ passes into plain treason to mankind«153, was umgekehrt die Machthaber in den existierenden Nationalstaaten, an deren Bestand und Ontologisierung Schmitt soviel lag, dazu bringen würde, die Verschwörer als Verräter aufzufassen – auch darüber, was das bedeutet, gestattete sich Wells keine Illusionen: »Since there are armies prepared to act coercively in the world today, it is necessary that the open conspiracy should develop within itself the competence to resist military coercion and combat and destroy armies that stand in the way of its emergence.«154 Erneut könnten nun Kittlerianer die Sache, sich in dieses Wells-Zitat verbeißend, für eine Hardwareangelegenheit nehmen, aber selbst Kriege und Bürgerkriege sind auch auf dem hochentwickelten Stand der Zerstörungsmittel, der inzwischen erreicht wurde, immer noch etwas anderes als reine Materialschlachten; sie haben außerordentlich viel und sehr Verwickeltes mit gesellschaftlichen Belangen zu tun, wie die Nordamerikaner lernen mußten, als sie die stärkste Militärmaschinerie der Erdgeschichte zwar zum Luftsieg und zur Zerschlagung der Staatsmacht im Irak führte, das darauffolgende Besatzungsregime aber nicht entlasten konnte. Smart bombs befrieden Gebiete, nicht unbedingt Menschen; die Herstellung eines Friedens, der für seine Erzwinger funktioniert, ist eine soziale, keine militärische Aufgabe; das hat sie mit der Revolution gemeinsam.

Wenn Wells seiner conspiracy kurzentschlossen das Recht zugesteht, gegen »nationalistisches Brigantentum« vorzugehen, wird es an genau dieser Stelle richtig heikel; Nationalistinnen und Nationalisten werden da an Carl Schmitts Begriff der diskriminatorischen Kriegsführung denken, der etwas mit Namen nennt, das nach Schmitt zum Schlimmsten gehört, was die Neuzeit erfunden hat, nämlich die harte Wirklichkeit, daß der Feind in einigen der schwersten modernen bewaffneten Auseinandersetzungen nicht mehr als Feind auf Augenhöhe betrachtet wurde und wird, sondern als zu bestrafender Verbrecher – das nehme dem nämlich seine Würde, sei totalitär und so fort –, das Bild dahinter ist, bis in Schmitts Tagebücher nach dem Zweiten Weltkrieg, wo es offengelegt wird, natürlich das der von den Nürnberger Prozessen gegen Hitlers überlebende Elite gemeinten Welt; man mag aber auch an die jugoslawischen Regierungsleute vor dem Gericht Europas und der Welt denken. Siegerjustiz ist wirklich nichts Schönes; das liegt aber meistens an den Siegern, weniger an der Justiz, die vielmehr Sieger immerhin nötigt, sich den (im Einzelfall dann ja durch Aufklärung, wenn denn eine Opposition stark genug dazu und außerdem im Recht ist, zu entlarvenden) Schein des Rechts zu geben. Wenn es die von diskriminatorischer Kriegsführung (und sie verlängernder, von ihr verlängerter Politik) benutzte Unterscheidung zwischen dem Legitimen und dem Illegitimen, die dahinterstehende von richtig und falsch aber gar nicht geben soll, wie Schmitt vorschlägt, sondern nur noch verschiedene Sozietäten verschiedenen Rechts, verschiedene Arten von – wie gewisse frankophone Theorien nahelegen möchten – pouvoir, dann treten keineswegs Würde und Schönheit ins zwischenstaatliche Leben, sondern das Recht des Stärkeren, das Schmitt am diskriminatorischen Krieg mißfällt, tritt einfach pur auf, ohne jede Rechtssicherheit aus Positivität, und man kann eigentlich nicht einmal mehr von Kriegen sprechen, sondern nur noch von geglückten und mißlungenen Überfällen (so dürfte Hitler gedacht haben, seine ganze Kriegspolitik zeigt das), und nicht mehr von Revolutionen, sondern nur noch von gelungenen und mißlungenen Machtergreifungen (ein militärpolitisches Korrelat von Rosa Luxemburgs Parole »Sozialismus oder Barbarei« steckt darin: entweder open conspiracy oder bellum omnium contra omnes).

 

Revolutionen hat es in der Geschichte tatsächlich gegeben; ihr spezifisches Medium als besondere Sozialtatsache bewirkt, daß man ihre Form nicht beschreiben kann, ohne ihr zugleich einen Inhalt zu geben. Die meisten praktisch mit ihnen Beschäftigten, auf gegnerischer wie revolutionärer Seite, haben die dabei nötigen Fragen wesentlich gescheiter beantworten können, als wir sie hier überhaupt zu stellen vermochten; das ist ein Theoriemalus, den nur Praxis beheben kann; selbst so vorzügliche Bücher wie Curzio Malapartes Technik des Staatsstreichs oder Marcel Mariëns Weltrevolution in 365 Tagen waren gegen diesen Makel nicht gefeit, und vielleicht muß man wirklich eine ganze Gesellschaftstheorie ausarbeiten, um auch nur eine halbwegs plausible Revolutionstheorie zustandezukriegen; aber dann wieder macht man es wohl am besten so wie Marx, der die Gesellschaftstheorie, die er entwarf, erkennbar bloß als ausformulierte Revolutionstheorie betrachtete (der ganze Kapitalismus hat in seinem System überhaupt nur insofern einen Sinn, als er die Tür zur sozialistischen Revolution ist, ansonsten hätte es sich gar nicht gelohnt, ihn zu beschreiben, geschweige zu erklären). »Das spezifische Medium der Revolution« haben wir für diese verzwickten Umstände soeben verantwortlich gemacht; wir wollen es gern beim Namen nennen: Es heißt, jedenfalls in der bekannten bisherigen Geschichte, Staat.