ZWÖLF
VON DEN FELDZÜGEN

I.
Homo homini lupus: Nicht alle – nicht immer – gegen nicht alle

Leute, die über das Böse im Menschen philosophieren – vor achtzig Jahren bevorzugt in psychoanalytischen, heute eher in neurowissenschaftlichen, immer wieder gern in bequem unterdefiniert ethologischen Begriffen –, übersehen dabei meist hochabsichtsvoll, daß der Mensch dem Menschen nur in gewissen, eigentlich nicht allzuweiten Grenzen ein Wolf ist. Der unbestreitbar vorhandenen Freude mancher Menschen in manchen Lagen am Töten, Verletzen, Verstümmeln steht die Tatsache gegenüber, daß nach allen modernen Kriegen, das heißt industrieller Herstellung toter Kombattanten und Nonkombattanten, die enorme Zahl der seelisch Kaputten, derjenigen also, die in den gewöhnlichen Menschenalltag nicht mehr integriert werden können, jedesmal auch den größten kriegführenden Nationalstaaten ernste Kulturschwierigkeiten bereitet. Nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg gab es in den reichen englischsprechenden Staaten in der militärischen und politischen Leitung mehrmals Überlegungen, die sozialen Kosten der Schlächterei zu verringern, indem man der neu entstehenden caring industry im Vorfeld freie Hand gab bei der Auswahl des geeigneten Menschenmaterials, also bei der Suche nach Leuten, die sich dazu würden aufreizen lassen, sich als Wölfe unter Wölfen aufzuführen; der Zweite Weltkrieg kam diese Seite aber durch das Screening nur um so teurer, man verlor schon im Vorfeld eine halbe Million Männer, etwa fünfzig Divisionen – »verlorene Divisionen« nannte diese Davongekommenen die Fachsprache, als wären nicht viele von ihnen in Kampfhandlungen erheblich gründlicher verloren worden –, und in den sechziger Jahren, im Zuge des Kolonialkriegs in Vietnam, senkte umgekehrt man die Anforderungen erheblich; der US-amerikanische Verteidigungsminister Robert McNamara war persönlich verantwortlich für das »Project 100000«, bei dem, wie in allen derartigen Kriegen des nach 1945 lange Zeit erfolgreichsten imperialistischen Staates, vor allem schwarze, arme und arme schwarze Soldaten in die Tötungsmaschinerie gesaugt werden sollten – der Name des Unternehmens verrät, wie viele man haben wollte, die Zielvorstellung wurde dann um mehr als das Doppelte übererfüllt. Moderne militärpsychiatrische Erhebungen haben ergeben, daß man auch unter den hochtechnisierten, oft ziemlich asymmetrischen Bedingungen neuerer Strafkriege gegen unbotmäßige Länder des Südens oder Ostens damit rechnen muß, daß nach sechzig Tagen kontinuierlicher Kampfeinsätze, ob zu Fuß oder im Bomber, 98 Prozent der Menschen psychische Wracks und für keine Kampagne mehr zu gebrauchen sind; die übrigen zwei Prozent säßen unter zivilen Bedingungen vermutlich im Gefängnis und werden jedenfalls selbst von engagierten Tötungswissenschaftlern als »Soziopathen« eingestuft – es gibt sie auch außerhalb des Schlachtfelds, da leidet bloß ihre soziale Verwendbarkeit (eine Kategorie, von der man seit Erfindung des Kapitalverhältnisses mehr versteht als je vorher in der Geschichte; der bekannte Modernisierer des Produktionsprozesses, Antisemit und Feind des Geschichtsunterrichts, Henry Ford, hatte nach dem Ersten Weltkrieg den Einfall, in seinen Fabriken besondere Produktionseinheiten für Menschen einzurichten, die im Krieg Gliedmaßen verloren hatten und daher auf Bewegungsabläufe zu konditionieren waren, die Menschen mit allen Armen und Beinen nicht so einfach würden ausführen können). Selbst Heinrich Himmler wurde bei einer Massenerschießung, der er als fachmännischer Zeuge beiwohnte, nachhaltig übel; die Diskussion über das Böse im Menschen und die angebliche Problematik bürgerlich-demokratischen Soldatenwesens, es sei auch dann, wenn man die Waffentragenden auf ihr Gewissen verpflichte, gar nicht so einfach, einen legitimen von einem verbrecherischen Befehl zu unterscheiden, täte gut daran, einmal ein bißchen darüber zu meditieren, ob das Erkennen des Unmenschlichen nicht doch einfacher ist, als häufig spekuliert wird, wenn es Anordnungen gibt, von denen selbst einem Lebewesen wie Himmler schlecht wird. Das Naturunrecht ist ebenso unwahrscheinlich wie das Naturrecht, die Menschen sind eben nicht »von Natur aus so«, aber daraus nun wieder Hoffnungen für den Pazifismus abzuleiten, ist nicht minder verfehlt. Sie sind nicht von Natur aus so, wie die Massenmörderei sie haben will; aber sie sind so. Der Krieg aller gegen alle, als Naturzustand von der Spekulation gesetzt, hat nie existiert; der Krieg mancher gegen manche immer; der Krieg weniger gegen viele kostet täglich Menschenleben.

Was macht man damit?

 

II.
Linke Kriegsgegnerschaft: Am Kalten Krieg gestorben?

Wir haben das Ende des Fortschritts im Westen noch persönlich erlebt. Das war vor etwa zwanzig Jahren. Damals, als im Kalten Krieg gerade die östliche Seite verloren hatte, begann eine Reihe von Zusammenbrüchen aller linken, zukunftsgerichteten, emanzipatorischen Großunternehmungen, die sich häufig genug an Heißen Kriegen entzündeten, von denen man nicht zu Unrecht annahm, daß sie ohne den Ausgang des Kalten anders oder überhaupt nicht stattgefunden hätten. Linken in den reichen Ländern, die keineswegs mehrheitlich für die Sowjetunion Partei ergriffen hatten (von denen sich vielmehr sogar sagen läßt, daß für viele von ihnen lange Zeit die Sowjetunion sogar der Hauptgegner gewesen war, wenn ein Hauptgegner der ist, mit dessen Bekämpfung man die meiste Zeit zubringt, der die blühendste Rhetorik provoziert und die entschiedenste Distanzierung), war mit dem Ende der UdSSR und deren Verbündeten so etwas wie ein Kompaß abhanden gekommen. Ein vormaliger Anhänger nicht des in der Wirklichkeit mit geographischen Grenzen versehenen Sozialismus, sondern erst Leo Trotzkis und dann Richard Rortys (und inzwischen wohl Friedrich August von Hayeks) wie Jan Philipp Reemtsma beispielsweise fand, daß der Irakfeldzug der Amerikaner unter George H.W. Bush, anders als vielleicht noch einige regionale Stellvertreterkriege der Großmächte des Systemwettstreits wie etwa Vietnam, fortschrittlich gesinnten, auf Gleichheit, Freiheit, Gerechtigkeit hinarbeitenden Menschen keine Parteinahme mehr erlaubte:

»Das liegt nicht ausschließlich an der in vielerlei Hinsicht fatalen Figur Husseins (zu dem, jenseits aller o.a. Vorurteile, genug zu sagen wäre, auch wenn man nichts von dem in unseren Zeitungen üblichen Unsinn vom ›irakischen Hitler‹ mitmacht). Das liegt auch nicht nur daran, daß das diktatorische Regime Vietnams, das massenmörderische Kambodschas als Folgen eines imperialistischen Krieges verstanden werden können (…), während das etablierte Regime Husseins ja zu den Kriegsvoraussetzungen gehört. Es liegt auch am fehlenden weltgeschichtlichen Bezugsrahmen.

Solange es nämlich einen solchen gab (natürlich ›in den Köpfen‹, wo sonst?), war eine Trennung zwischen der Beurteilung einer spezifischen Politik und deren ›objektiver Funktion‹, wie man so sagte, möglich. Ich sage nicht: vernünftig, angebracht, moralisch vertretbar, politisch richtig, sondern: möglich. Diese Trennung aber braucht einen letztlich geschichtsphilosophischen Rahmen. Und ein solcher Rahmen braucht ein Minimum von Plausibilität. Will man eine ›Befreiungsbewegung‹ – die Ideale, unter denen sie antritt, mögen so sonderbar und befremdlich sein, wie sie wollen – als Teil jenes Revolutions- oder Befreiungsprojektes sehen, für das ›1917‹ nicht als Erfüllungsdatum, wohl aber symbolisch stand und real stand als Projektionsfläche für die Hoffnungen von Millionen von Menschen, dann muß außer dieser besonderen ›Befreiungsbewegung‹ sich sonst noch etwas ›Derartiges‹ tun in der Welt. Der Kapitalismus aber hat ein Stadium erreicht, wo er ohne ›inneren Feind‹ dasteht, soll heißen: Es gibt einfach keine der Erwähnung werte politische Opposition, die ein irgendwie gearteter anti-kapitalistischer Konsens einte. Wenn er nun bald auch – die VR China und ein paar andere Länder mögen mir vergeben, wenn ich sie mal kurz, aber aus Gründen, übersehe – ohne territoriale Grenzen dasteht, ist das nicht nur ›sein‹ welthistorischer Triumph, sondern aufgrund der Umstände dieses Triumphes, dem Desinteresse an der ›arretierten Chance‹ von 1917, auch das Ende jenes historischen Bezugsrahmens, in dem sich seine Kritiker sahen. ›Die Linke‹ hat nicht nur welthistorisch verloren, sondern es gibt sie nicht mehr. Es gibt Individuen, Gruppen, Argumente, Analysen – sicherlich. Aber es gibt keinen Zusammenhang, der all das zusammenfaßte als ›die Linke‹.

Das mag nun alles wie eine nachträglich sehr merkwürdige Fixierung auf die Sowjetunion klingen, und was bei Trotzki verständlich sein mag, dürfte bei einem bürgerlichen Intellektuellen des Jahres 1990 skurril wirken. Doch auch auf die Gefahr hin, mich auf engem Raum zu oft zu wiederholen: Es braucht keine nachträgliche Sympathie für die nominalsozialistischen Regime, um zu genanntem Ergebnis zu kommen. Möglicherweise ist derjenige, der ohnehin nie gemeint hat, es gebe zu ihnen eine sozialistische oder eben im weitesten Sinne ›linke‹ Alternative, mal wieder besser dran: Zuvor konnte er sich um die Erkenntnis der Realitäten herummogeln, nun kann er sich auf die Jahre 1989/90/91 in den Kategorien von Sieg und Niederlage beziehen und kann der Geschichte jenes Minimum an Heroismus-Phantasien abgewinnen, das, wenn man sonst nichts hat, doch immer tröstlich ist. Aber es ist eben keine ›Niederlage des Sozialismus‹ gewesen, sondern die massenhaft ausgeschlagene Chance, doch noch einen Schritt zu seiner Verwirklichung zu tun. Der Blick auf die Weltgeschichte, deren Zeuge zu sein wir die Gnade der zeitigen Geburt haben, wird sich verändern. Ein Kind fragt bei einem Geschehen, das es nicht versteht, wer ›die Guten‹ seien. Wenn man’s ihm sagt, meint es etwas verstanden zu haben, denn man hat ihm einen Bezugsrahmen für das gegeben, was es sieht. Fehlt der, so weiß es nicht, wer ›gewinnen‹, und es ob bei so oder so beschaffenem Ende sich freuen oder weinen soll. Die Wirklichkeit macht uns kein überzeugendes Angebot, Bush oder Saddam Hussein zum ›Guten‹ zu erklären, und die Geschichtsphilosophie, mit deren Hilfe wir uns hätten überreden können, es doch zu tun, ist abhanden gekommen. Wer ist im Libanon ›der Gute‹? Wer in Peru? Wer in Serbien?«191

 

Der bemerkenswerte Text lohnt das längere Zitat aus mehreren Gründen, von denen nur der auffälligste ist, daß er vom Versinken einer Konstellation handelt und dabei selbst einen Moment in der Biographie seines Autors wie zahlreicher Menschen, die ihm in signifikanter Hinsicht ähneln, zu fotografieren unternimmt, der sich als wesentlich vergänglicher herausstellen sollte als das Erbe der Systemkonfrontation – ganz ähnlich, wie die DDR heute noch die deutsche Politik und Meinungsindustrie beschäftigt, von den einst vielgefilmten und oftbefragten Überlebenden jener Bürgerbewegung, die ihren Fall ausgelöst haben soll, aber niemand mehr einen nennenswerten Einfluß auf diese Meinungsindustrie und diese Politik ausübt. Reemtsma schreibt, mit der Linken sei es aus Gründen zu Ende, die auch bewirken müßten, daß es mit Parteinahmen für und gegen Kriege im Westen (und dem von ihm immer gewollten Weltsystem, das damals geboren wurde, als der Westen den Osten besiegte) zu Ende sein würde – rund zwanzig Jahre, eine Antiglobalisierungsbewegung und eine Offensive des Westens und Nordens gegen den Süden und Osten später hat sich das jedenfalls nicht bewahrheitet; als Prophezeiung aber sollte man es auch gar nicht lesen. Es war eine Austrittserklärung, an der damals vieles, wenn nicht alles plausibel wirkte, auch in der Zeitschrift, deren Existenzgrundlage sie in Frage stellte, konkret, einem der wenigen am westdeutschen Kiosk erhältlichen Organe in jenem Jahr 1990, das dem Marxismus, der Kritischen Theorie, den Ideen der Protestgeneration und einer durch diese drei vermittelten Lesart der Aufklärung verpflichtet war, trat man dem Text keineswegs in dem Ton entgegen, den Linke sonst Renegaten um die Ohren hauen; auch der Herausgeber Hermann L. Gremliza erwiderte im nächsten Heft vergleichsweise moderat, wenn auch nicht ohne Ironie:

»Einverstanden – und, weil keiner von euch ›der Gute‹ ist: Schluß damit, Saddam! Aufhören, Bush! Es wird aber wieder mal keiner auf uns hören. Und also?

Es fällt auf, daß das Ende des realen, real existierenden, des nominal oder wie immer benannten Sozialismus niemanden härter getroffen zu haben scheint als seine linken Verächter. Zwanzig Jahre lang hat die Grüne Renate Damus die bürokratische Diktatur DDR bekämpft, um den Augenblick des Zusammenbruchs als ihre eigene Niederlage zu empfinden. Sie war wohl so enttäuscht wie Reemtsma, daß die ›historische Chance‹, die im ›Zerfall bürokratischer Macht‹ gelegen habe, nämlich daß ›die ökonomische wie politische Macht … aus den Kanzleien auf die Straße zurückgeholt‹ hätte werden können, nicht eine einzige Sekunde lang in Betracht gekommen ist. ›Möglicherweise‹, schreibt Reemtsma, ›ist derjenige, der ohnehin nie gemeint hat, es gebe (zu den nominalsozialistischen Staaten) eine sozialistische oder eben im weitesten Sinne, ›linke‹ Alternative, mal wieder besser dran.‹

Ich habe das gemeint. Ich habe gedacht und aufgeschrieben, daß das Ende des Realsozialismus keine Chance bieten werde, die ökonomische und politische Macht auf die Straße zurückzuholen, und deshalb seine Realität, die ich nicht ändern konnte und andere nicht ändern, sondern beseitigen wollten, verteidigt, so gut ich’s vermochte. Nun bin ich auch noch besser dran: ›Zuvor konnte er sich um die Erkenntnis der Realitäten herummogeln, nun kann er sich auf die Jahre 1989/90/91 in den Kategorien von Sieg und Niederlage beziehen und kann der Geschichte jenes Minimum an Heroismus-Phantasien abgewinnen, das, wenn man sonst nichts hat, doch immer tröstlich ist.‹

Zugegeben: Für die Realitäten des realen Sozialismus habe ich mich weniger interessiert, als man von einem seiner Verteidiger erwarten durfte. Mir genügte, daß seine teils kümmerliche, teils brutale und nur in zu raren Momenten das Versprechen von 1917 einlösende Existenz eben das ausschloß (oder, wie wir jetzt wissen: aufhielt), was seiner Niederlage folgen mußte: den welthistorischen Triumph des Kapitalismus und das, was Reemtsma das Ende des historischen Bezugsrahmens nennt, in dem sich seine Kritiker sahen. (…) Richtig ist, daß der weltgeschichtliche Bezugsrahmen, von dem Reemtsma spricht und den er mit der Jahreszahl 1917 markiert, abhanden gekommen ist. Eine Linke als ›der Erwähnung werte Opposition‹, eine, die den Triumph des Kapitalismus wenn schon nicht stoppen, so doch zügeln könnte, gibt es nicht mehr. Und darum fahren wir, wie die Toten nach Schluß der Vorstellung in den von Melina Mercouri nacherzählten griechischen Tragödien, alle ans Meer?

Was dazu abhanden kommen müßte, aber (noch) nicht überall abhanden gekommen ist, ist die Partei der Aufklärung. Ihr schlichtes Programm: zu fragen, wie die Kuhscheiße aufs Dach gekommen ist, ohne Rücksicht darauf, ob es noch einer wissen will und was er mit diesem Wissen macht; zu sagen, wer den Nahen Osten zum Nahen Osten gemacht, ihn so zugerichtet hat und warum (selbst ohne seine deutschen Giftgasfabriken wäre Saddam Hussein ein Produkt auch der deutschen Politik, die das am Golf geförderte Öl ›unser Öl‹ nennt. Morgen kann er tot sein oder wieder einer ›unserer‹ besten Kunden); nicht nach dem ›Guten‹ zu suchen, den es nicht gibt, nicht im Nahen Osten, nicht in Vietnam, Angola oder El Salvador, sondern die Ursachen zu nennen und die Interessen zu beschreiben, die Opfer und ihre Rächer, die der Haß verzerrt hat, und die Täter, die wenigstens um ihr gutes Gewissen gebracht seien.«192

Als Antwort an den normativen Teil dessen, was Reemtsma zu sagen hatte, reicht das; der analytische aber wirft Probleme auf, die Gremliza damals aus wiederum guten Gründen nicht wichtig sein konnten. Was Reemtsmas Text nahelegt, hat die Antwort deutlich zurückgewiesen; wie Reemtsmas Aufsatz aber gedacht und gearbeitet ist, nimmt sich im zeitlichen Abstand in mehrerlei Hinsicht merkwürdig und erläuterungsbedürftig aus:

 

1. Der Verfasser schreibt, als wäre er Zuschauer, als bestünde die Linke nur aus Menschen, die schreiben und meinen, einschätzen und »dafür« oder »dagegen« sind, kurz, die Ohnmacht und Folgenlosigkeit von Gedanken, die er anläßlich der neuen Bedingungen einbekennt, scheint schon vor ihrem Eintreten bestanden zu haben – die Linke, und der Verfasser, scheinen von Natur aus zu keinem Kollektiv zu gehören, das Kriege nicht nur bewertet und einschätzt, sondern führt, etwa als Nation, zu der man ja kraft Paß, Wahlrecht, Steuerpflicht und so fort gehört. Worauf wir damit hinweisen wollen: Reemtsma schreibt, als würden nur irakische, amerikanische, vietnamesische Regierungen Armeen befehligen, nicht aber die Regierung desjenigen Landes, dessen Bürger er ist. Zahlt man Steuern, mit denen Kriegsgerät bezahlt wird, das in Afghanistan oder Jugoslawien zum Einsatz kommt, dann hat man sich am Krieg beteiligt. Kann man die Regierung abwählen – zu schweigen von ungebührlicheren Methoden der Behinderung von Regierungsgeschäften, und ganz zu schweigen von ungesetzlichen –, die diese Einsätze anordnet, dann ist die Meinung, die man von so einem Einsatz hat, keine Frage der Haltung zu irgendeiner Politik mehr, sondern der Beteiligung an ihr, oder der Weigerung, sich zu beteiligen. Steht man links – also in Opposition zur vorhandenen Regierung auch unabhängig von der Frage »Krieg und Frieden«, ist also (selbst als linke Verfassungspatriotin im Habermasschen Sinn) ohnehin nur begrenzt loyal zu ihr, so wird man jenseits aller Kompliziertheit der Geopolitik und Frage weltgeschichtlicher Bezugsrahmen die einfache Bauernregel nicht verschmähen dürfen: Wenn diese Regierung, die man gerne durch eine bessere ersetzt sähe, einen Angriff anordnet, mache ich nichts falsch, wenn ich diesem Angriff meine Zustimmung entziehe, am besten öffentlich, und unter Inkaufnahme so vieler Gefahren, wie ich eben tragen will und kann (Sitzblockade, Steuerboykott, Unterbringung desertierender Soldatinnen und Soldaten et cetera et cetera). Daß man, wenn man etwa einer Verfassung oder einem Staat treu ist, die Regierung aber ablehnt (der primitivste Fall dessen, was man bürgerliche Demokratie nennen darf), die beschriebene verantwortungsethische Position räumen wird, sobald dieser Staat angegriffen ist, steht auf einem anderen Blatt (war aber zumindest der deutschen Politik bewußt, als sie im Vorfeld des Afghanistanfeldzugs nicht nur von der deutschen Verantwortung für die Menschenrechte in Afghanistan, der deutschen Verpflichtung, beim westlichen Weltordnen nicht abseits zu stehen, und anderen höheren Werten redete, sondern auch davon, daß der islamistische Terror die Bundesrepublik bedrohe und man, wenn man in Afghanistan einmarschierte, sozusagen Vorwärtsverteidigung würde leisten können. Das Argument ist dünn – man müßte, wie im Fall der ernsthaften Geltung des Menschenrechts- und des Westsolidaritätsgedankens, noch an manch anderem Ort einmarschieren, wenn es für wahr gehalten würde –, aber es erinnert sich immerhin noch daran, daß die Bundeswehr als Verteidigungsarmee gegründet wurde und Angriffskriege laut Verfassung verboten sind). Reemtsmas Text funktioniert nur, wenn man sich, während man ihn liest, nicht vorstellen kann, was seither aus der Bundeswehr gemacht wurde. Von dem Zustand, in dem deutsche Oppositionelle im Osten wie im Westen Leute waren, die sich mit lokalen Regierungen anlegten, von denen ohnehin niemand realistischerweise Entscheidungen über Krieg und Frieden erwarten konnte, und »links sein« oder »politischer Christ sein« immer nur hieß, Punkte im Himmel für ethisch einwandfreie (oder, bei Bibeltreuen wie Marxophilen, schriftstellengemäße) Äußerungen zu sammeln, handelt der Text, als ginge es darum, dessen Vergänglichkeit zu begreifen; gleichzeitig aber hat seine Vorstellung davon, was »die Linke« ist, nur einen Sinn, wenn dieser Zustand – die Linke, das sind Leute, deren Meinungen nicht von Leuten geäußert werden, die eine reale Mitverantwortung für wirkliches Töten tragen – als unaufhebbar gedacht ist.

 

2. Der Verfasser schreibt, als ginge es darum, nicht nur politische Haltungen der Linken, sondern auch intellektuelle Voraussetzungen derselben wie etwa die Lehre von Marx und Engels nicht Argument für Argument, nicht philologisch genau und analytisch konkret zu widerlegen, sondern gestisch, über Anspielungen und rhetorische Schönheiten zu beerdigen, durchaus nicht ohne Wehmut. Der Bezugsrahmen etwa: Wo soll er, scherzt Reemtsma, denn sonst bestanden haben, wenn nicht in den Köpfen? Man darf nicht viel Marx gelesen haben, wenn man an dieser Stelle vermeiden will, an die Sätze aus der Deutschen Ideologie zu denken, wonach geschichtliche Epochen mit spezifischen Illusionen gestraft gewesen seien und die Aufgabe der zutreffenden Geschichtsbetrachtung zunächst darin bestehe, diese Illusionen von religiösen und theoretischen Kämpfen, ausgetragen als Haupt- und Staatsaktionen, nicht zu teilen. Wenn denn Leute einen Rahmen im Kopf hatten, stellt sich dann nicht die Frage, ob diesem in der Wirklichkeit irgend etwas entsprochen hat, gemeinsame Interessen, konvergierende Kämpfe beispielsweise? Hat es dies nicht, so war der Rahmen eine Illusion, und sein Kaputtgehen zerstört nichts, auch keine Linke (die dann vielmehr immer schon eins dieser berühmten Gespenster gewesen wäre, die langweiligerweise in Europa und sonstwo umgehen, seit Marx und Engels das erste losgeschickt haben). Hat es dies aber doch, so kann eine veränderte Sicht auf irgendeinen Rahmen daran nur dann etwas ändern, wenn die Leute a) ihre gemeinsamen Kämpfe nicht mehr führen (das wäre eine Willensentscheidung, die Reemtsma sowenig hinnehmen müßte wie irgendwer: Statt bloß zu konstatieren, jetzt wird nicht mehr gekämpft, muß man ja wohl, wenn man diesem Kampf einen Erfolg wünscht, eher so etwas sagen wie: Hört nicht auf zu kämpfen, ich will und werde das auch nicht; der einzige Grund, es bleibenzulassen, wäre das sichere Wissen darüber, daß die Gegenseite stärker ist – davon aber spricht Reemtsma nicht; er sagt nicht: Miese Kräfteverhältnisse vernichten die Linke, er sagt: Sie zerfällt, weil man sie nicht mehr denken kann.) oder b) ihre gemeinsamen Interessen nicht mehr sehen (dann wäre der Rahmen richtig gewesen und die neue Denkweise, die ihn vergißt, eine Illusion, die es zu überwinden gilt), oder schließlich c) beides. Wenn jemand resigniert, hat sich vielleicht die Welt geändert, vielleicht auch nicht. Die Resignation ist kein Beweis für die Veränderung der Welt; die Veränderung der Welt könnte allenfalls ein Argument für die Resignation sein – aber, noch einmal, so argumentiert Reemtsma nicht: Er sagt nirgends, sie sind uns über, er sagt: Wir sind nicht vorhanden, gestern waren wir’s, irgendwie hat sich das geändert, aber besiegt worden sind andere als mein »wir«, nur stelle ich jetzt fest, wir waren doch aneinandergebunden, durch einen Rahmen, der allerdings in den Köpfen war … je genauer man das paraphrasiert, desto unhaltbarer wird es. Die Deutsche Ideologie: »Die ›Einbildung‹, die ›Vorstellung‹ dieser bestimmten Menschen über ihre wirkliche Praxis wird in die einzig bestimmende und aktive Macht verwandelt, welche die Praxis dieser Menschen beherrscht und bestimmt.«193

 

3. Der Verfasser trägt im ganzen einen Gedanken vor, in dem sich eine als bereits geschehen präsentierte Angelegenheit mit der Forderung, sie herbeizuführen, etwa so mischt wie in dem Satz: »Mutter ist doch ohnehin schon tot, laßt uns die Maschine abschalten.« Er fordert etwas und begründet es damit, daß das Geforderte bereits geschehen sei. Zum Beweis dafür nennt er Dinge, die auf der Welt passiert sind, und greift »Heroismus-Phantasien« derjenigen an, die wollten oder wollen, daß etwas anderes geschehe. Von denen wird gesagt, es gebe sie nicht mehr – halt, nein: Es gebe »Individuen, Gruppen, Argumente, Analysen« von der Art, die man früher zur Linken gerechnet hätte, aber eine Linke gebe es nicht mehr, denn der Rahmen, eine Sache, die es nur im Kopf gab, sei kaputt. Ins Bauliche und Lehrbetriebliche übersetzt: Es gibt Seminare, eine Bibliothek, eine Mensa, Hausarbeiten, Professorinnen, aber keine Uni mehr. Der Kategorienfehler ist Ergebnis der idealistischen Grundannahme: Man kann sagen, die Idee »die Linke« ist eine Abstraktion, in der die Individuen, Gruppen et cetera zusammengefaßt werden, dann verändert sich der Gebrauch (also die Bedeutung) des Begriffs vielleicht, wenn sich diese Individuen, Gruppen et cetera verändern, aber der Begriff ist nicht referenzlos (das Ding, das er meint, ist nicht weg), solange es diese Individuen, Gruppen et cetera noch gibt. Dies ist die nominalistische Auffassung vom Primat der Praxis und des Begriffsgebrauchs, Marx und Engels nennen sie »materialistisch«. Das Gegenteil wäre die Vorstellung: Zuerst gibt es den Begriff, der ist (»natürlich«, sagt Reemtsma gereizt) in den Köpfen, und dann müssen ihm die Individuen, Gruppen et cetera entsprechen. Tun sie’s nicht mehr, sind sie nicht mehr links; hören die Köpfe überhaupt auf, den Begriff zu denken, gibt es auch keine Linke mehr. Diese Ansicht vertritt Reemtsma, und wenn man die alten Sprachspiele mag, weil sie hin und wieder doch noch Erhellendes zutage fördern, wird man das idealistisch nennen müssen.

 

Gibt man diesen drei Merkwürdigkeiten etwas Raum, sich nach ihren immanenten Konsequenzen zu strecken, so greifen sie schließlich ineinander zum Gesamteindruck eines Textes, in dem das Formale und das Inhaltliche in außerhalb ästhetischer Erfahrungen seltenem Ausmaß harmonieren; der Abschied, den er für unvermeidlich erklärt und zugleich fordert, vollzieht Reemtsma selbst denkmethodisch: Der Aufsatz ist ein Versuch, so präzise wie möglich ein politisches Denken zu demonstrieren, das alle Denkvoraussetzungen, die man seit der Zeit der Französischen Revolution »links« genannt hat, preisgibt, losläßt, vergessen und vergessen machen muß – und damit ein Dokument der geschichtlichen Gewalteinwirkung, das bündelt und blanklegt, was schon mit früheren Abgesängen zwischen dem »dritten Weg« und dem von Lyotard – im Zusammenhang mit etwas, das er »Postmoderne« nannte – konstatierten »Ende der großen Erzählungen, auch der emanzipatorischen« gemeint war, sich damals aber nur tautologisch mit einer Vision der Vernichtung der anderen, der linken Traditionslinie begründen ließ, für die Reemtsma ein realgeschichtliches Datum setzen kann: Die idealistische Argumentation, das ist ihre Pointe, nimmt vom Materialismus gerade soviel – nämlich den innerweltlichen, nichtideellen Anlaß, warum sie überhaupt vorgebracht wird –, um diejenigen, die ihn noch schätzen, zum Hinhören aufzureizen. Der Text, wollen wir sagen, ist meisterhaft: Was alle anderen, die in der fraglichen Zeit und danach (bis zum heutigen Tag) ihren Abschied von der Linken vollzogen haben, lieber nicht berühren – die Tatsache nämlich, daß es nicht irgendwelche inneren Mängel der Linken waren, die sie von ihr getrennt hat, sondern ein tatsächliches Kräfteverhältnis, vor dem mit nicht unehrenhaften Gründen, ja aus echter Einsicht kapituliert werden könnte. Diagnostisch also sind wir nicht so uneins mit Reemtsma, wie es scheint: Er sagt, etwas sei umgefallen, und das stimmt. Nur stand dies Umgefallene, das zeigt der Teil seines Textes, den man die Anamnese taufen darf, bei ihm schon zu Zeiten, als es noch stand, auf dem Kopf, und es aufzurichten, indem man es so wieder aufstellt, wäre in der Tat aussichtslos.

III.
Was ist, woher kommt und wohin will »linker Bellizismus«?

Im Dezember 1990 also konnte man mit einigem Ernst davor warnen, in den Kriegen, die sich nun ankündigten, Partei zu nehmen – gegen den Antiimperialismus, sagt die Warnung, spricht, daß er zur abstrakt fortschrittlichen Position verblaßt, die konkret faschistoiden, antisemitischen oder anders atavistischen Eliten in den nachkolonialen Gegenden die Hand reicht; gegen die Haltung der amerikanischen liberal hawks und das antibarbarische Pathos der Weltordnerei aber spricht, daß man damit eine ebenso abstrakt fortschrittliche, konkret aber brutal neokoloniale Politik affirmiert. Völlig selbstverständlich gesetzt ist dabei, daß die Möglichkeit der Parteinahme in Militärfragen Voraussetzung linker Politik sei, und stillschweigend weiter vorausgesetzt wird hierbei natürlich, daß die Linke selbst keine Partei sei – Engels, in seinem glänzenden Text Die preußische Militärfrage und die deutsche Arbeiterpartei, sah beides noch gerade andersherum: »Die Partei der Arbeiter, die in allen Fragen zwischen Reaktion und Bürgertum außerhalb des eigentlichen Konflikts steht, hat den Vorteil, solche Fragen ganz kaltblütig und unparteiisch behandeln zu können. Sie allein kann sie wissenschaftlich behandeln, historisch, als ob sie schon vergangen, anatomisch, als ob sie schon Kadaver wären.«194 – Ersetzt man, da man jetzt auf Weltmaßstäbliches geworfen ist, Bürgertum durch »Vereinigte Staaten von Amerika« (entschieden genug bürgerlich werfen die sich ja ins Schlachten) und Reaktion durch »Despotien der post- und neokolonialen Welt« (um ein fortschrittliches Regime handelt es sich ja nicht nur beim Iran und ähnlichen potentiellen Kriegsgegnern der USA in keinem Sinn, den Engels verständlich gefunden hätte, auch Saddam Hussein, als Laizist und Befreiungsnationalist zweifellos paraprogressiv, ist kein Freund der geschichtlichen Linken gewesen und soll mit eigenen Händen irakische Kommunisten getötet haben), dann funktioniert die Perspektive nach wie vor – nur die Prämisse, nämlich daß es eine Partei der Arbeiter gebe (und interessanterweise redet ja Reemtsmas langer Aufsatz von Gruppen, Individuen und anderen politischen Entitäten ausführlich genug, von Klassen aber nicht), gehört zu den Dingen, die – lokal wie weltmaßstäblich – nicht nur von Reemtsma behandelt werden können, »als wären sie schon vergangen«. Anatomisch war das, was sterben mußte, um eine der von Engels vertretenen konträre Sicht der Dinge so plausibel zu machen, wie sie bei Reemtsma war, der linke Internationalismus, von dem wir im dritten Kapitel gehandelt haben. Er starb aber nicht als Idee, weil er so auch nicht hätte gelebt haben können, sondern als eine Praxis, die einmal »Komintern« geheißen hatte, als Dritte Internationale, die zwar formell in den späten Achtzigern und frühen Neunzigern nicht mehr bestand, weil Stalin sie schon 1943 nominell dem Bündnis mit den Westmächten in der Anti-Hitler-Koalition geopfert hatte (diese Erfüllung der Forderung der kapitalistischen Staaten, die Sowjetunion möge auf ihre potentiell bewaffneten Botschafter verzichten, war nicht die erste Konzession, die der weltstrategisch entgegen aller Propaganda von der Roten Gefahr stets aus der Defensive agierende Bolschewismus der kapitalistischen Einkreisung und der Rückständigkeit der russischen Produktivkraftentwicklung hatte machen müssen; mit dem Frieden von Brest-Litowsk hatte das angefangen und mit nichtmilitärischen Maßnahmen wie der NÖP bis tief in die sogenannte Innenpolitik gereicht).

 

Ganz wie Reemtsma schreibt, war mit den letzten Ausläufern der Dritten auch gleich die Vierte Internationale zur Disposition gestellt, samt allen Ansätzen zu einer solchen, denn Trotzkis Versuch, zu bewahren, was er für die reine Flamme der Revolution gehalten hatte, orientierte sich bis in alle Schismata – zwischen Mandelianern, Tony-Cliff-Anhängern, Pablisten und was sich sonst noch in Trotzkis Namen schlug – immer an der Idee, die Sowjetunion sei ein »degenerierter Arbeiterstaat«, den irgendwer und irgendwas, und sei es Gorbatschow (dies vertrat ernsthaft eine Weile der sonst so wache Ernest Mandel) oder ein (dann irgendwie verschämt zu unterstützender) Angriff aus dem Westen (beides wurde kurzfristig auch von Maos westlichen Gläubigen gewähnt), wieder aufs rechte Gleis zurückdrängen mochte.

 

Was nun aber immer der Dritten und der Vierten Internationale widerfahren sein mag, es war etwas ganz anderes als das, was der Zweiten Internationale geschehen war. Der Opportunismus (schöner: Patriotismus) der großen sozialdemokratischen Parteien Kerneuropas hatte diese 1914 gefällt, sich nämlich geweigert, die ihnen von Marx und Engels vermachte Aufgabe zu erfüllen, im entscheidenden Moment den bürgerlichen Nationalstaat von links zu negieren. Der moderne technisierte, industrialisierte Krieg, mit dem die Linke sich zu allen Zeiten seit beider Bestehen so schwer tat, ist ja ohne diesen Nationalstaat nicht denkbar, der Militarismus, gegen den Luxemburg wie etwa Chomsky so ausdauernd gekämpft haben, entstand in der Französischen Revolution und im Bonapartismus, er war in Europa zunächst Kind einer (bald nicht mehr: der) Linken. Wie nun deren Rahmenbedingungen, eben die vom ständischen Unrecht befreiten modernen Nationalstaaten, die Negation des mittelalterlichen Ständestaats waren, so sollte der sozialistische Internationalismus sensu Marx die Negation dieses bürgerlichen Nationalstaats sein – die Dialektik geht so: Ohne Nationalstaat kein Internationalismus, ohne diesen keine globale Überwindung der Kriege, so ging die Hegelianisierung des Kantischen Einfalls vom »ewigen Frieden«. Dialektik allein gibt der Sache aber bloß die Form; ihr Inhalt war, wie bei Marx und Engels oft, eine raffinierte, an konkret Geschichtlichem gebildete Unterscheidung zwischen notwendiger und hinreichender Bedingung: Kants Vorschlag kam zu früh, denn die Bürger, für die seine Sorte Aufklärungspazifismus redete (und denen Handel immer besser gefällt als Krieg), standen in Konkurrenzverhältnissen um Märkte (in welchen Krieg nicht selten Voraussetzung und Folge von Handel ist); erst der Liberalismus sollte die Produktivkräfte zu einer Transnationalität entwickeln, die dann die Abschaffung der Konkurrenzstaatlichkeiten erreichbar und zweckmäßig würde machen können. Was man sich daran merken sollte, ist die zentrale Bedeutung der nicht immer explizit gemachten Überzeugung der Gründerväter des Marxismus (die ebenso bei Hegel wie bei Condorcet, durch die ganze Aufklärung hindurch und bis zurück zu Giambattista Vico zu finden ist), die anzustrebenden Zustände (Sozialismus, Kommunismus, Weltfrieden) seien nicht nur Ersetzungen der ihnen vorangehenden und auch nicht einfach Ergebnis des Umstands, daß jene diesen sowohl historisch wie logisch vorausgesetzt sind, sondern auf eine nichttriviale Weise in ihnen enthalten, von ihnen erheischt, den in ihnen sich befindenden Menschen als konkrete Handlungsmöglichkeit wie abstrakte Denkmöglichkeit gegeben – der Weltfrieden wird von den Kriegen, die ihm vorangehen, nicht verhindert, sondern buchstäblich erst ermöglicht. Worauf wir damit hinweisen möchten, ist einfach, daß das, was wir den Implex nennen, nicht nur nichts Neues ist, sondern lustigerweise etwas, das den seit der Proto-Aufklärung entworfenen Fortschrittstheorien in genau der Weise begrifflich implizit ist, wie es der Geschichte real implizit sein muß, damit sich überhaupt jemand so etwas wie Fortschritt vorstellen kann.

 

Leute, die den ja nicht gerade eindimensionalen Gedanken von der notwendigen, aber nicht hinreichenden Vermittlung der hinreichenden durch die notwendige Bedingung des erstrebten Friedens nicht verstehen konnten oder wollten, fanden sich nicht nur im Bürgertum, sondern bald genug auch in der Sozialdemokratie; obszönerweise gab es besonders in der deutschen schließlich sogar welche, die aus ein paar strengen Zensuren, die Engels dem zaristischen Despotismus erteilt hatte, und aus dem Zorn des Alten auf die Reste des Mittelalters, der sich sogar zur Äußerung von Sympathien für eine kriegerische Entmachtung des Autokraten bereitfand, geraume Zeit später eine Legitimation ihres Verrats zogen. Lenin allerdings, und die auf der Zimmerwalder Konferenz geborene Dritte Internationale, ließen sich davon nicht im mindesten beeindrucken, sondern riskierten lieber einen neuen Anlauf, dessen Spätphase nach dem Zweiten Weltkrieg leider jeden Versuch einer weiteren weltweiten Neuformierung der Arbeiterbewegung zum Zweck der linken Aufhebung des Nationalstaats (in Zeiten, in denen er schließlich eine ganz andere Gestalt annahm) an die Sowjetunion band. Manche, die solche Versuche unternahmen, waren Schützlinge der UdSSR, andere ihre Geiseln. Die Spuren der dafür verantwortlichen ökonomisch-politisch-militärischen Großwetterlage kann man mit etwas detektivischem Geschick in allen Debatten finden, in denen Trotzkisten, Maoisten, Neue Linke, Operaisten, Eurokommunisten, Neue Soziale Bewegungen, Anarchisten (und wer sonst noch in Reemtsmas Bezugsrahmen paßte) ihre Differenzen zur sowjetischen Linie herauszufinden und klarzulegen versuchten. Sie hatten es, der Wahrheit die Ehre, dabei erheblich schwerer als Lenin bei der Spaltung der SDAPR in Bolschewiki und Menschewiki oder die Spartakusgruppe bei der Abwendung von der SPD, denn der Verrat der Zweiten Internationale am Internationalismus war lange vor dem Akutwerden der Kriegsfrage durch allerlei explizit revisionistische Absagen an andere zentrale Kernpunkte des marxistischen Programms vorbereitet worden, während man der Sowjetunion allerlei Handlungen und Unterlassungen, nicht aber den ausdrücklichen Bruch mit der programmatischen Tradition vorwerfen konnte, die ihr vielmehr Legitimationsgrundlage, mitunter in Gestalt einer Art Staatsreligion (und wie bei dieser häufig in Gestalt zu nichts weiter verpflichtender Sonntagsreden), war und blieb. Selbst der Streit der Parteispitze mit dem Dissidenten Trotzki über den »Sozialismus in einem Land«, der einer theoretischen Kontroverse um Treue zu Marxschen Grundsätzen noch am nächsten kam, blieb ein schwacher Schatten etwa der Konfrontationen zwischen Luxemburg und Bernstein oder Lenin und Kautsky, weil es sich beim Dissens in der Frage Sowjetstaatkonsolidierung versus Weltrevolution im Grunde bloß um strategische, nicht programmatische Schwierigkeiten handelte, nämlich solche der für gewisse historische Prozesse erforderten Zeitspannen – Stalin hat ja einige Programmpunkte der Trotzkifraktion nach dem Landesverweis für deren Meister selbst verwirklicht; der »Sozialismus in einem Land« war auch von den patriotischsten Großrussen in der KPdSU nie offen mit einem Abgehen vom (Fern-?)Ziel der Weltrevolution verbunden, sondern lediglich als deren erstes Stadium aufgefaßt worden, und noch die berühmt-berüchtigte »friedliche Koexistenz« der Chruschtschows, Breschnews und Konsorten erläuterte die sowjetische Führung den aufmerksamen Legionen des Weltkommunismus als eine ganz besonders neue, ganz besonders pfiffige »Form des Klassenkampfs«, von dessen Prinzip man also nicht loswollte (sie war ja wirklich eine; wenn auch in einem ganz anderen Sinn, der sich erst am Ende des unterliegenden Systems im Systemwettstreit enthüllte).

»Wir wollen, was die Anarchisten wollen, aber wir sind dabei realistischer« – so hatten schon Marx und Engels argumentiert, so argumentierte Bucharin, als er auf Stalins Seite übergegangen war, so ließ Stalin argumentieren, wenn er nicht selbst hervortreten wollte oder konnte, und die Sache wird nicht anders, wenn man die Anarchisten durch Trotzkisten ersetzt.

 

Das lange Sterben der Dritten Internationale (das für Trotzkis Anhänger mit den Streitigkeiten um den Meister beginnt, für andere mit der Auflösung der Komintern, für Stalintreue mit Chruschtschows Rede auf dem XX. Parteitag, für Maoisten mit Maos Tod – einigermaßen übereinstimmend äußern sich Kommunisten nur, wenn es darum geht, das Ende des Prozesses zu bestimmen; das hat Gorbatschow gesetzt) war also, haben wir zeigen können, begleitet weniger vom Streit über Ziele als vielmehr von Diskussionen über Relationen zwischen Zwecken und Mitteln – daß die, solange in ihnen noch die sehr handfesten Machtkämpfe und Erbfolgestreitigkeiten nach Lenins Tod steckten, an denen sie sich entzündeten, auch danach erbittert und ohne Rücksicht auf Verluste geführt wurden, zeigen nicht nur allbekannte, vom Westen noch jahrzehntelang in einer Mischung aus echtem Abscheu und verhaltener Schadenfreude ausgeschlachtete Maßnahmen wie die Moskauer Prozesse und Trotzkis Ermordung, sondern auch das Verhalten der von solchen schweren Angriffen betroffenen Gegenseite, gerade in militärischer Hinsicht – wie sonst soll man das nennen, wenn Trotzki, immerhin der einstige Mitbegründer und zeitweilige Anführer der Roten Armee, diese am Vorabend des Zweiten Weltkriegs, als das Bedrohungspotential, das von Hitlers Wehrmacht ausging, von niemandem mehr zu übersehen war, aus dem Ausland zum bewaffneten Aufstand, zum militärischen Staatsstreich in der Sowjetunion aufrief? Die Erhaltung des »degenerierten Arbeiterstaates« war ihm in nicht eben unwichtigen Momenten mitunter weniger wichtig als der persönliche Traum von einer Rückkehr nach Art der Einfahrt Lenins auf dem finnischen Bahnhof, gedacht als Rückkehr in eine Situation, mit der er vertraut war wie wenige andere Revolutionäre: den Bürgerkrieg.195

 

Debatten über Zweck-Mittel-Relationen finden zwischen Rechts und Links meist nur als Scheingefechte statt (man wirft, um Unentschlossene zu gewinnen, der Gegenseite die Mittel vor, lehnt aber eigentlich die Zwecke ab); das bedeutet auch, daß Kriegsbefürwortung nicht gleich Kriegsbefürwortung ist – nicht einmal innerlinks oder innerrechts, nicht einmal funktional, etwa ökonomisch –, wenn ich zum Beispiel Kriege will, mit denen sich Märkte abschaffen oder abriegeln lassen, will ich andere Kriege als jemand, der Märkte zu erobern oder zu schaffen vorhat. Die linke Kriegsbefürwortung war, seit es eine Linke gab, meist ein Eintreten für Revolutionskriege (»Revolutionsexport«, wie die nicht unelegant ans Ökonomische angeschlossene Verurteilung von rechts dieses Ansinnen nennt). Nach dem Zusammenbruch der Dritten Internationale jedoch verschwand gebietsweise und situationsabhängig der Unterschied zwischen dem Ziel, ein reaktionäres Regime zu stürzen, und der probürgerlichen, ja proimperialistischen Stellungnahme – nicht nur, das ist der grimmige Witz daran, aus ideologischen, sondern auch aus sachlichen Gründen; es lag also keine Wiederholung von 1914 vor, wo die vaterländische Ideologie die revolutionäre überlagerte und erstickte. In den USA, also auf dem Gebiet der »letzten Weltmacht« (so sah man das, bevor der Westen China und Indien zum zweiten Mal entdeckte, diesmal nicht als bloße Kolonialobjekte, sondern als emerging powers, und Rußland sich einen neuen Ort im Weltsystem erstritten hatte; die europäische und amerikanische Linke hat dazu bislang nicht viel zu sagen, sie bleibt einstweilen noch mit ihrer Rekonstitution und Rekonstruktion beschäftigt, von ebenso rühmlichen wie problematischen Ausnahmen in der Art der Arbeiten von Giovanni Arrighi abgesehen), wurde dieses Phänomen ahnbar beim Irakfeldzug des älteren, greifbar bei dem des jüngeren Bush – proamerikanische, sich aber der Linken zurechnende Individuen wie Paul Berman oder Christopher Hitchens ließen sich »liberal hawks« nennen – der Name war einst das Feldzeichen antikommunistischer US-Linker gewesen; die neue Bedeutung sollte jede nicht konservative Parteinahme gegen den politischen Islam abdecken – und brachten ein Koordinatensystem in Unordnung, das in den USA seit Vietnam nicht mehr in Frage gestellt wurde. Die zwischen den beiden Irakkriegen der Amerikaner stattgehabte Zerstörung Jugoslawiens, die in Deutschland, dem ehemaligen Territorium zweier Frontstaaten, nicht nur vereinzelten Köpfen aus der Welt der Belletristik und Feuilletonistik, sondern der echten Politik Sorgen machte, hatte den einst als Radikalpazifisten angetretenen Grünen den Weg zum linken Falkentum geebnet. Hier wie anderswann und anderswo waren es unter den Redenden und Schreibenden interessanterweise nicht unbedingt die durch Dogmenglaube, Anbindung an festumrissene politische Milieus, geschweige Organisationen sich Auszeichnenden, sondern eher prinzipiell individualistisch-nonkonformistisch auftretende Menschen wie Peter Handke oder Hermann L. Gremliza, die sich der neuen Marschrichtung verweigerten, als hätte es der Weltgeist darauf angelegt, die These Hannah Arendts zu bestätigen – entwickelt etwa in ihrem Aufsatz über die persönliche Verantwortung unter der Diktatur – wonach es nicht die Grundsätze sind, was Kriegs- und anderen politischen Zerstörungsmaschinen entgegensteht, sondern der moralische Stolz einzelner, die dann eben auch imstande sind, auf die Unentscheidbarkeiten, mit denen Jan Phillip Reemtsma seinen Abschied von der Linken illustriert hat, die Antwort zu geben, daß es außer der Parteilichkeit für Teilnehmende eines Konflikts auch noch die Parteilichkeit für eine von deren Interessen unberührte dritte Sache gibt, womit noch nicht einmal präjudiziert ist, ob es sich bei dieser Sache um eine ideelle oder eine materielle handelt.

Denn nicht nur ist, wie wir immer wieder betont haben, eine Idee, deren Trägerinnen und Träger geschlagen sind, damit nicht widerlegt, sondern auch eine naturwüchsige, nicht ideenvermittelte Praxis oder Tatsache, etwa irgendein staatlicher oder nichtstaatlicher sozialer Zusammenhang, läßt sich nicht als verkehrt, überlebt, abschaffungswürdig erweisen, indem man ihn zerschlägt. Zu diesem Schluß und der für seine Verteidigung nötigen Unabhängigkeit vom Sosein des Gegebenen können sich Strömungen stets durchringen, die auf den Sieg zufließen oder so scheinen, als täten sie dies. Daß dabei von denen, die nicht mitmachen, manchmal Positionen und Personen zu solchen Strömungen zusammengefaßt werden, die eigentlich recht wenig (und schon gar nichts politisch Entscheidendes) eint, gehört zum Geschäft (und zum Getümmel, in das Polemik gerade dann, wenn es nicht um die eigene Haut geht, um so schneller gerät).

 

»Bellizismus« nannte man das also, was die liberal hawks verband, vor allem in Deutschland, damit das Ding einen Namen habe. Dabei fiel ein Unterschied vom Tisch, den man genauer hätte studieren können: Ein Teil derer nämlich, die nun die Bedrohung Israels durch Saddams Scud-Raketen und seinen tatsächlichen Raketenangriff auf dieses Land zum Anlaß nahmen, jene alte antiimperialistische Position zu überprüfen, ja mit ihr zu brechen, wonach Israel nichts (jedenfalls nichts beachtenswert) anderes sei als ein imperialistischer (Landungs-)Brückenkopf, das »staatsförmige Eingreifkommando der USA im Nahen Osten« (so Gremliza zu einem früheren Zeitpunkt), wollte tatsächlich nichts, als sich und andere zu fragen, ob eine Redeweise noch politisch vertretbar sein konnte, der das geopolitische cartesische Koordinatenraster weggebrochen war; das Synchronschwimmen mit der sowjetischen (seltener: chinesischen) Außenpolitik war in der Tat eine müßige Sportart geworden und die Frage, ob es Schlimmeres geben könne als den Imperialismus, nicht die fernstliegende. Ein anderer Teil derer, die man unterm schillernden Schirm jenes ominösen »Bellizismus« zusammenrücken sah, suchte indes einfach Anschluß an den Westen und zahlte den Preis dafür nicht widerwillig, sondern eifrig, gestrichen werden sollte das Ziel der Abschaffung des Kapitalverhältnisses im Weltmaßstab genau in dem Moment, da dieser Weltmaßstab sich, anders als in den Jahrzehnten des gefrorenen Weltbürgerkriegs, erstmals wirklich vereinheitlichte und Verhältnisse im Entstehen begriffen waren, die Marx und Engels ihren Revolutionserwartungen zugrundegelegt hatten, noch ehe sie eingetreten waren.

 

Zwei Gruppen, verklammert mit einem Begriff: Linke, die sich entschlossen, einen Feldzug zu akzeptieren, ohne den die Voraussetzungen fürs Erreichen der linken Ziele noch schlechter werden könnten als mit ihm; andere, die sich entschlossen, die linken Ziele preiszugeben, um einen Feldzug gutheißen zu können, der ihnen um anderer Güter, die ihnen jetzt lieber waren als die linken Ziele von ehedem, unvermeidlich schien. Die erste Gruppe sagte etwas wie: »Mit diesen Leuten (Saddam Hussein, Hamas, Gaddafi & tutti quanti) erreichen wir unsere Ziele nie, und wenn wir sie, nur um stehengebliebene Frontabschnitte aus der Zeit des Kalten Krieges aufrechtzuerhalten, jetzt unterstützen, begeben wir uns auf den Pfad des propter vitam vivendi perdere causas«, die zweite etwas anderes, nämlich: »Ob jene Ziele mit Hamas und Saddam Hussein erreichbar sind oder nicht, ist uns ganz gleich, es hat ohnehin nicht sollen sein.« Die erste Gruppe, die sich in Deutschland eher als Israelunterstützerfraktion denn als Auslandspropagandaabteilung der USA sah, kann man dabei eigentlich ebensowenig »bellizistisch« nennen wie die andere, weil das Wort in suggestiver Weise Leuten unterstellt, ein Mittel wie einen Zweck zu behandeln, das sie in Wirklichkeit unter ausdrücklichem Verweis auf einen ganz anderen Zweck eingesetzt wissen wollen. Gebildet wurde das Wort, ein echtes Merkzeichen der großen Konfusion nach dem Ende des Stellungskriegs der Blöcke, nämlich in schiefer Analogie zum »Pazifismus«, der nach dem von Weber in Politik als Beruf skizzierten Sprachspiel bekanntlich zur »Gesinnungsethik« gehört, während die beiden oben dargestellten, unterm »Bellizismus«-Etikett zusammengezwungenen Parteiungen »verantwortungsethisch« denken, reden und schreiben. Wer das Pazifismus/Bellizismus-Wortpaar gebraucht, bringt die Einheit der damit gesetzten Differenz von vornherein in eine Schieflage, die den als bellizistisch ausgeflaggten Positionen keine Möglichkeit der Güterabwägung mehr läßt, da der Pazifismus absolute Geltung beansprucht, eine Sorte Geltung also, die von besagten zwei Parteiungen für ihre Empfehlungsbegründungen und Folgenerwartungen weder beansprucht wird noch verteidigt werden könnte. Für Pazifistinnen und Pazifisten ist die Gewaltlosigkeit nicht kontextualisierbar. Prinzipiell muß, wer die Aufklärung fortschreiben will und deshalb Politisches nicht anders denken kann als historistisch, den Pazifismus wegen dieser Idee einer absoluten Geltung seiner Normen noch nicht verwerfen; Absoluta sind dem Historismus, wie ihn Vico vorbereitet, die Aufklärung entwickelt, Condorcet und Hegel systematisiert, Marx und Engels ins Praktische gewendet haben, nicht notwendig wesensfremd – man mag sämtliche vorstellbaren und eingetretenen geschichtlichen Situationen jeweils als kontingent, relational kontextualisierbar, unabhängig von deontischen Modalitäten und so fort betrachten und dennoch für alle diese Situationen gewisse etwa sittliche Vorstellungen absolut setzen; ein logischer Widerspruch besteht nicht, solange Humes Gesetz anerkannt ist.

Einige der klügsten, keineswegs transzendental begründeten, rein weltimmanent gedachten, der geschichtlichen Relativität politischer Forderungen durchweg bewußten Ansprüche klassischer Gesellschaftskritik sind in genau diesem Sinne Absoluta, nicht zuletzt die Marxsche, es gelte, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist; oder auch die an eine sehr besondere geschichtliche Situation gebundene, törichterweise gerade von Marxisten verhöhnte, von Karl Kraus aber bejahte Generallinie für eine österreichische Anti-Anschluß-Politik: »Alles, nur nicht Hitler«; nicht zuletzt Adornos Diktum, Ziel aller Politik nach dem Zweiten Weltkrieg müsse sein, daß sich Auschwitz niemals wiederhole.

Aufgeklärte Pazifisten sind daher vorstellbar; aufgeklärte Bellizisten aber, die den Krieg so setzen wie der Pazifist den Frieden, sind kaum vorstellbar, und die unaufgeklärten sind selbst auf Seiten der Reaktion eher bizarre Figuren, Spartaner, ein paar Wahnsinnige unter Marinettis Futuristen, rasende Wörtlichnehmer von Nietzsches Sottise, man solle den Krieg mehr lieben als den Frieden und den kurzen Frieden mehr als den langen, Selbstmordattentäterinnen, psychotisch gewordene Generalstabsmitglieder.

IV.
Militärische und antimilitärische Kompetenz

Was die verantwortungsethische, oder weniger festtäglich gesagt: die berechnende Seite der politischen Arbeit angeht, so haben sich Marx, Engels und die meisten ihrer Anhänger und Nachfolgerinnen von allen Emanzipationsbewegungen seit dem Aufbruch des Bürgertums den glänzendsten Ruf mit der Waffe der Kritik wie der Kritik der Waffen erworben – daß der berechnende, machiavellistische Zug die Reaktion an der Revolution stets am übelsten abstößt, von der Polemik gegen Condorcet und der antirevolutionären Agitation wider die Spottfigur des »calculateur patriotique«, der mit Knochen kegelt, bis zu den antisowjetischen Dystopien aus der Hochzeit des Kalten Krieges, die im Westen die sozialistische Zukunft als eine Epoche malten, in denen »die Menschen von Computern beherrscht« würden, ist zwar nicht gleich ein Grund, links den Vorwurf der kalten Berechnung und seelenlosen Vernünftelei wie einen Ehrentitel vor sich her zu tragen, sollte aber doch sensibel machen dafür, daß man rechts jedenfalls weiß, welche Eigenschaften der Linken madig gemacht werden müssen, um ihre Erfolgsaussichten zu schmälern. Wer die Verantwortungsethik umgekehrt für anständiger, weil grundsätzlich bescheidener hält als die Gesinnungsethik, unterschätzt aber den Umfang des Bereichs, der sich Kalkülen erschließen läßt – selbst Kants gewiß ehrgeiziger »ewiger Friede« kommt, wie bei diesem Denker überhaupt das Beste, aus Überlegungen betreffend das Machbare her, nicht solchen übers Wünschbare; und der Marxismus, wenn er verspricht, einen Zustand herstellen zu können, in dem es für den Krieg keine vernünftigen, Interessen bedienenden Gründe mehr gebe, geht über Montesquieus gesinnungsethische Idee, man müsse alle Despoten loswerden, weil der beseitigte Kriegsherr den beseitigten Krieg bedeute, in Wahrheit weit hinaus, da bis ins Gesamtgesellschaftliche, den engen Fokus der Regierung in Richtung überhaupt aller Relationen innerhalb des Gemeinwesens Sprengende. Dieser letzte Schritt ist für alle, die an praktischer Politik interessiert sind, vor allem deshalb attraktiv, weil er das Unerfreuliche nicht an allgemeinen Denkursachen (etwa der hinter Montesquieus Plan steckenden Ansicht, Macht korrumpiere notwendig jeden – sie sieht politisch aus und ist anthropologisch, das bekommt ihr schlecht, sobald es ums Politische geht), sondern an abzählbaren Anlässen packen will. Marx denkt sozusagen kriminologisch statt ethisch (der Unterschied zwischen Krieg und Verbrechen ist ja nicht erst seit dem zwanzigsten Jahrhundert nicht allzuscharf zu ziehen; künftige Zeitalter werden hoffentlich einmal lange grübeln müssen darüber, warum die Historiographie unserer Tage etwa zwischen der Wehrmacht und der Waffen-SS so fleißig differenziert). Es wird gewiß Menschen geben, die auch dann, wenn sie weder Gelegenheit noch Not haben, Verbrechen begehen, daß es aber erheblich weniger sein dürften als im entgegengesetzten Fall, lehrt die einfachste, soziologisch unterrichtete bayesianische Abwägung – die allerdings Angst macht, so wie jede Überlegung, die dem Zufall Platz im Menschenleben oder sogar eine Entscheidung über Sein oder Nichtsein einräumt – »Bis heute ist unser Verhältnis zum Zufall von der Erfahrung des Ersten Weltkriegs geprägt, als der Zufall tonnenweise über die Menschen kam«, schreibt Henning Ritter, »bis zur Ununterscheidbarkeit uniformiert, waren die Menschen Kaskaden von Geschossen ausgesetzt, die in jedem Augenblick jeden treffen konnten. Es gab nur den Zufall, denn es war ebenso Zufall, getroffen wie nicht getroffen zu werden.«196 (Und damals gab es doch immerhin noch die Unterscheidung zwischen Uniformierten und Nonkombattanten, mit der dann der nächste, der »totale Krieg« Schluß machte; seither ist tendenziell für alle wahr, was Tim Blackmore als besondere Erfahrung von Soldaten beschrieben hat, wonach die nie genau betrachtete, immer nur wolkig gespürte Grundregel des eigenen Empfindens und Verhaltens im Krieg außer Kraft gesetzt sei, daß »bad things don’t happen to people who wish others well; arbitrary death, maiming, loss of self cannot befall the indomitable hero«197, der wir immer selbst sind – die erfahrungsmäßige »computationale Irreduzibilität« des eigenen Lebens gilt nichts vor einem Universalprogramm, das tatsächlich nicht berechenbar aussieht, truly random, aber es nur in Grenzen ist, die wir allerdings nicht sehen können, und die uns, könnten wir es, über keinen Tod trösten würden. Jedes vernünftige Geschichtsbild, auch das Marxsche, muß diese Ratio zwischen dem Berechenbaren und dem Unberechenbaren verfehlen, obwohl sie nichts Irrationales ist, das etwa der Vernunft solcher Geschichtsbilder an sich feindlich gegenüberstünde; aber die Vernunft, die etwa Augenmerk auf Produktion, Verteilung, Energieaustausch und Information legt, ist ein Zweck-Mittel-Verhältnis, das der arbiträren Beseitigbarkeit von Individuen, die Zwecke setzen und Mittel auswählen, nie gerecht werden kann. An Bayes hat der gute Wille Condorcets die Grenze; Menschen, die sozialen Fortschritt denken und machen möchten, tun gut daran, das nicht zu vergessen; Scheu vor dem Zufall gebietet, die Bereiche, in denen er herrscht, so gut es geht, begrifflich und politisch abzusperren, hic sunt leones).

 

Noch eine so späte, von linksradikalen Selbstverkennungen geschmückte wie entstellte Erscheinungsform des klassisch liberalistisch-bürgerlichen Freiheitsstrebens wie die Studentenbewegung der späten Sechziger des letzten Jahrhunderts hat ihr Bewußtsein davon, was Politik überhaupt sei, im imperialistischen Kernland USA an diesem Umschalten vom ethischen zum kriminologischen Denken geschult, an der Doppelinjektion Kriegsdenken und Marxismus; in Erinnerungen Beteiligter kann man nachlesen, wie und warum der Übergang des Protestfokus von der illiberalen und vorbürgerlichen Rassensegregation im Süden zur Auseinandersetzung mit der amerikanischen Militäraggression in Vietnam gleichzeitig einen »Marxisierungsschub« bedeutete – während die Präsenz von Marxisten im Bürgerrechts- und Redefreiheits-»Movement« den darin tonangebenden Leuten noch »a curiosity if not an embarrassment« war, änderte der Vietnamkrieg die Lage, denn »the movement needed ideas and ways of thinking about America’s aggression in Southeast Asia. And only the Marxists were offering anything of particular relevance«,198 während die Pazifisten in jenem Krieg nur einen Unfall oder Fehler, die Christen nur eine Sünde erkennen konnten, also lauter Sachen, gegen die sich wenig mehr Forderungen erheben lassen als »bereut« und »kehrt um«, aber an wen? An die Regierung? Ans Militär? An »uns alle«?

 

Marx und Engels selbst hatten, wie man etwa bei ihrem Exegeten Hal Draper detailliert ausgewiesen findet199, in ihrer sozusagen vormarxistischen Frühzeit die Ausdrücke »Krieg« und »Revolution«, überzeugt von der unausweichlichen Dynamik eines nach Condorcet-Hegelschem Plan die alten Mächte hinwegfegenden Fortschritts, oft nahezu synonym benutzt; es konnte zu der Zeit, in die hinein sie wirken wollten, eigentlich keinen Krieg geben, bei dem nicht Fortschritt gegen seine Aufhalter kämpfte, und daß die letzteren nicht würden siegen können, hätte ja kein aufrechter Linkshegelianer bestreiten mögen.

Das frühe Kriegsbild der beiden hatte sich an den Revolutionskriegen der Französischen Republik um 1793 gebildet; als sie dann fortschritten zur Analyse der Klassen und ihrer Kämpfe (statt nur abstrakter Prinzipien wie Fortschritt und Reaktion), wurde das zunächst entscheidende Kriterium für analytische, propagandistische und (mit dem allmählichen Erstarken der organisierten Arbeiterbewegung) praktische Entscheidungen in Kriegslagen die Frage der erfolgreichen Schwächung der Bourgeoisie; wobei allerdings kein schemaverliebter Automatismus, sondern entwickelte Dialektik die Urteile formte. Nach dem Erscheinen des Manifests der Kommunistischen Partei erklärten sich seine Verfasser zweimal ausdrücklich für Kriege, die im Interesse nationaler Bourgeoisien geführt wurden (dafür, daß das bei ihnen selten war, geschah es in diesen Fällen allerdings um so deutlicher), nämlich für die französische Dritte Republik nach dem Fall des Zweiten Empire im September 1870 bis zum Aufstand der Pariser Commune (mit dem wahr wurde, was Marx und Engels bei aller Parteinahme für die Republik von Anfang an illusionslos erklärt hatten, nämlich daß die Bürger Verrat an den besitzlosen Nichtbürgern üben würden, die sie zu ihrer erneuten Emanzipation zuvor in Marsch gesetzt hatten) und im Amerikanischen Bürgerkrieg für Lincoln und den Norden (keineswegs nur aus Affekt gegen die Sklaverei); Marx sah vielmehr die – von Lincoln dann verschenkte, ja gefürchtete – Chance, den Krieg von Yankeeseite nicht nur als Ringen um die staatliche Einheit des Bundesstaats, sondern als revolutionären Krieg ums restlose Abräumen versteinerter Produktionsverhältnisse zu führen, um die Union zu retten – privat war Marx kein allzugroßer Freund der Lincolnschen Politik, da aber die englische Bourgeoisie, die den Süden unterstützte, scharf gegen den Präsidenten auftrat, war die Sache doppelt entschieden.

Aus der damit vom taktischen Choreographen Marx und dem vormaligen königlich preußischen Bombardier Engels gestifteten Tradition der linken, aber realistischen Behandlung von Militärfragen scherten die Großen der im Werden begriffenen Dritten Internationale wie deren Erben nach ihrem Untergang nicht aus; Rosa Luxemburg, die bei allen Zwistigkeiten mit Lenin der Komintern doch ihre zweitwichtigste Partei schenkte, die KPD, zeichnet etwa als Verfasserin eines tief gedachten, bis heute in vielem nicht überholten Text über Miliz und Militarismus, in dem die Auseinandersetzung mit dem Problem der Massenbewaffnung die schönste Kontinuität selbst zu den vor- und protomarxistischen Leistungen von Marx und Engels wahrt; Trotzkis Talent fürs Militärische ist berühmt (und sollte berüchtigter sein: nach seinen unbestreitbaren Erfolgen im Bürgerkrieg wollte er auch die Wirtschaft in großem Umfang »militarisieren«; daß Lenin statt einer derartigen harschen Verlängerung des Kriegskommunismus dann doch lieber die NÖP erfand, hat den jungen Staat nach innen vermutlich ebenso knapp gerettet wie nach außen der von Trotzki abgelehnte, auf Lenins Geheiß von ihm aber unterschriebene Brester Friede); und was die Nachfahren der zerschlagenen Dritten Internationale angeht, so hat der kommunistische Dichter Peter Hacks (dem man Nähe zu Luxemburg und Trotzki nicht nachsagen kann) in Streitlaune, noch nachdem der Warschauer Vertrag verspielt war, selbstbewußt erklärt:

»Dank der USA sind viele Ergebnisse der beiden Weltkriege im Augenblick vielleicht für den Sozialismus verloren. Vielleicht auch noch nicht. Man stelle sich doch nicht dümmer, als man ist, und höre auf, von den Koryphäen des existierenden Sozialismus als von einer Gesellschaft von Losern zu reden. Das Spiel, beiläufig, welches der Imperialismus zum Jahrhundertende gegen den Sozialismus gewonnen hat, war kein Krieg. Möge das nun als ein erfreuliches oder ein bedenkliches Zeichen zu nehmen sein, aber einen Krieg haben wir bisher nicht verloren, nicht einen«200,

und gutgelaunt zitierte er zur Erklärung dieses Sachverhalts den berühmtesten sozialdemokratischen Gegner Lenins, Karl Kautsky, aus seinem »schönen Faszikel ›Der Bolschewismus in der Sackgasse‹, Berlin 1930«: »Der Bolschewismus war seit jeher eine Verschwörung nach blanquistischem Muster gewesen, aufgebaut auf blindem Gehorsam der Mitglieder gegenüber ihren autokratischen Führern. Darin begegnete sich der Bolschewismus mit dem Militarismus. Darum liegen alle seine Erfolge auf Gebieten, auf denen militaristische Methoden anwendbar sind«201eine seltsam ahistorische, für den Marxkundigen, der Kautsky ja war, auf verblüffende Weise rein logische Ableitung, die über der ungerechten Namensnennung Blanquis (Lenins Erfolge dürften im Gegenteil wesentlich damit zu tun haben, daß er bei der Aufstandsvorbereitung Blanquis Fehler vermied; auch Trotzkis Umsicht und Mäßigung der Petersburger Insurrektion zu einem Zeitpunkt, da das Losschlagen fatal gewesen wäre, verdankt viel der marxistischen Blanquikritik) jedenfalls den Umstand vergißt (oder vergessen machen will), daß die Bolschewiki hier wie in so vielem (bis hin zum Vorwurf des Bonapartismus, den sowohl Stalins Leute gegen Trotzki wie umgekehrt dessen Gefolgschaft, samt dem Meister selbst, gegen Stalin erhoben) weniger eine Blanqui-Oper als vielmehr das Kostümdrama »Zweite Französische Revolution, diesmal in Rußland« aufgeführt hatten, wie einst die Franzosen als Römer an die Neugestaltung der Politik gegangen waren (traurig und ärgerlich für Trotzki, daß die Wiederholung sich nicht ans Urbild hielt: Der erfolgreiche Revolutionsgeneral, der hätte Kaiser werden sollen, wäre dann nämlich er gewesen, statt dessen war es diesmal umgekehrt, Stalin wurde erst Kaiser und dann, im Krieg gegen die Wehrmacht, Generalissimus; Details wie die Wiedererfindung der Malerei Davids als sozialistischer Realismus werden den Exilanten mit dieser Abweichung vom Urbild nicht versöhnt haben).

V.
Die Erfindung des Soldatenbürgers

Der »Militarismus«, den Kautsky bei den Bolschewiki entdeckt haben will, ist nicht der wilhelminische (obwohl das Wort natürlich genau dies nahelegen soll; auf der Linken also Stimmung gegen Lenin machen), sondern einer der levée en masse, ein sansculottischer, eine Synthese aus Bürger- und Revolutionskrieg. Diese Erinnerung an die Französische Revolution, die nicht nur von Stalin bis Trotzki, sondern sogar zurück in die vom Bolschewismus abgestreiften Frühformen des russischen Marxismus reichte (nämlich in Plechanows von uns bereits erörterte Stufentheorie), wird bei Freunden wie Gegnern gern zu der Formel verkürzt, der russische revolutionäre Marxismus sei als »jakobinische« Angelegenheit zu verstehen. Interessanterweise wird damit unsichtbar gemacht, daß die Revolutionskriegsidee, die revolutionäre rhétorique de guerre,in der Umwälzung von 1789 außer von Robespierres Leuten auch von Girondisten vertreten wurde (die, wie wir an Condorcet und Olympe de Gouges gezeigt haben, überhaupt ungenügend beschrieben sind, wenn man sie »gemäßigt« nennt; es kommt da sehr auf die spezifische Politikebene an). Einer der flammendsten unter diesen, Jacques-Pierre Brissot, vertrat mit seinen Brissotins das Programm eines revolutionären »Kreuzzugs« zur Neuordnung Europas; diese Fraktion in der Fraktion setzte damit die Prophetie Napoleons in die Welt. Soweit es vor der Revolution, in der Hochaufklärung also, einen Nexus des Pazifismus mit der bürgerlichen Emanzipation gegeben hatte, gründete der, wie oben erwähnt, in Montesquieus Überzeugung, absolute Monarchie und Aggression nach außen, Selbstvergottung des Königtums und Waffengänge zur territorialen Machtvergrößerung gingen Hand in Hand, während der Geist der Republik einer des Friedens und der Selbstbescheidung sei.

Schön gedacht war dies und gut gemeint, aber doch zu sehr von der staatlichen und zuwenig von der klassengebundenen Seite der Sache aus angeschaut, welcher viel eher das Postulat des Jakobiners Dubois-Crancé entsprach, in der Gesellschaft nach dem Naturrecht müsse der Bürger immer zugleich Soldat und der Soldat immer auch Bürger sein. Die Feststellung richtete sich zunächst gegen die Ständeprivilegien der ererbten Waffenträgerei, gegen das Rittertum, man dachte vielleicht gar nicht unbedingt an Kriege, wo man in dieser Art redete.202

Operativ dachte der Jakobiner sich das so, daß ein kleines stehendes Heer von der Nationalgarde der Citoyens supplementiert werden sollte, ein Reformverlangen, mit dem er vor der Nationalversammlung zunächst kein Glück hatte, obwohl sie zwar waffenklirrend, aber dem Bürger doch sehr verständlich das erfreulichste Korrelat der Montesquieuschen Militärkritik durchaus miteinbegriff, nämlich die Steuersenkung (das Schlimmste am Militär als Alleinbesitz des »höheren Standes« war für die Bourgeois in Friedenszeiten, daß sie diese bewaffneten Abteilungen ihrer Bedrücker auch noch bezahlen sollte, von Geld, das sie, wie das deutsche Wort sagt, im Gegensatz zum Adel verdient hatte, das heißt »gemacht«, wie es auf englisch noch prägnanter heißt). Bruchstelle im Klassenkampf um Militärisches ist jedesmal der Moment, in dem der vorgebliche Zweck der Armee, ein Gebiet und dessen Bevölkerung gegen äußere Gefahren, die potentiellen Plünderer und Vergewaltiger von jenseits der Grenze, zu verteidigen, sich an einer Realität messen lassen muß, in der die bewaffneten Verbände ihren eigentlichen Auftrag, die Aufrechterhaltung gegebener Herrschaftsverhältnisse, ernst nehmen müssen und Aufstandsbekämpfung oder Bürgerkrieg realisieren. Glück haben unter den Revolutionären alle, denen es gelingt, diesen Zusammenhang ihren eigenen Verbänden deutlich zu machen, bevor der Bürgerkrieg losbricht; glücklich schätzen also konnte sich Mirabeau, als er, sobald der König im Juni 1789 die Nationalversammlung auflösen wollte, die propagandistisch sehr wirkungsvolle Anklage, man werde nur der Macht der Bajonette weichen, in die Nachrichten und die Archive platzieren konnte. Sobald nämlich der äußere Feind ersetzt werden muß durch das Chaos im Innern, gegen das nur die harte Hand hilft, durch Hungerunruhen und andere soziale Kämpfe, die sich mit dem politischen Aufstand einer um die Staatsmacht ringenden Klasse verbünden können, ist gespalten, was durch Kriegspropaganda sonst hergestellt werden muß, das Staatsvolk eben, und geeint, was man auseinanderdividieren sollte, wenn man an absolutistisch verfaßter Macht festhalten möchte, nämlich der soziale Anspruch der Armen und der politische der aufsteigenden Klasse, eine in gewissen historischen Lagen nahezu unschlagbare Kombination, die von Leuten wie Paine zu Dekolonisations-, von Leuten wie Robespierre zu Demonarchisierungskämpfen mit den bekannten Ergebnissen zusammengeschweißt wurde. Noch die Naivsten sahen, daß das Parlament, das sich der König vom Hals schaffen wollte, kein Quell der Anarchie, sondern potentielles Organ einer besseren Ordnung war; und weil sie es sahen, stand der König auf verlorenem Posten. Als er im Oktober 1789, nach der Verlesung der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, ein zweites Mal versuchte, die repräsentative Demokratie zu unterdrücken, bekam er es mit bewaffneten Marktweibern zu tun, den Mitrailleusen, die Schiller (der von Hyänen spricht, zu denen die Weiber werden, wenn die Revolution losbricht) und noch Dickens (in A Tale of Two Cities) so beeindruckt haben und jedenfalls ins Bild der Revolution als Anschlag auf Vater Staat, ja Kastration desselben passen (die phallisch-bewaffnete Frau wurde seither Merkzeichen der Linken, ob in Spanien oder Rußland; der tiefere Sinn der Sache liegt natürlich abermals im Bruch mit der Natur, der Alphamännchenordnung des Primatenlebens).

 

Worum es der Französischen Revolution im bewaffneten wie unbewaffneten Stratum ging, in den rauschhaften wie den debattierenden, den diskutierend parlamentarischen wie den bastillestürmerischen Momenten, war wie erläutert die Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Gesellschaft und Staat – eine Neubestimmung, die der Absolutismus, ein von oben verordneter Klassenkompromiß zwischen Adel und Bourgeoisie, willentlich und unwillentlich vorbereitet hatte. Nirgends aber ist der Staat mehr bei sich selbst als beim Militär und in der Polizei. Daß im kurzen »Zeitalter der Vernunft«, welches der Revolution unmittelbar vorangegangen war, die militärische Gesittung bereits eine weitreichende Verbürgerlichung erfahren hatte, daß sich in den stehenden Heeren und ihren abgesprochenen Schlachtordnungen bereits die moderne »verwaltete Welt« angekündigt hatte und im puren Zufall, dem nicht erst im Ersten Weltkrieg, sondern schon an der geradeaus konvergierenden Zwei-Heere-Front der einzelne, anonyme Soldat in aufeinander zurückenden Kolonnen ausgesetzt war, weil Geschütze den Nahkampf ersetzten und deren Geschoßstreuung die Tapferkeit zum Aushalten von Wahrscheinlichkeiten verwandelte, zum Markt des Todes, dem das bewaffnete, aber nicht souveräne Subjekt ausgesetzt war wie der Besitzlose dem aufkommenden Arbeitsmarkt, färbt alles Nachfolgende bis heute erwartbarerweise wieder nicht ein (eben, Anfang 2010, lesen wir im Netz Beschämendes und Drolliges über die Schwierigkeiten des Bundesverteidigungsministers mit der Demission eines Schulschiffkapitäns und den atavistischen Abrichtungsritualen und -spielen in der Bundeswehr; wie man Leute ohne Barbarismen, mit denen da jetzt aufgeräumt werden soll, dazu erziehen soll, andere Leute umzubringen und Situationen zu ertragen, in denen ihr Tod nicht unwahrscheinlich ist, fragen Medien, die einen Krieg erst einen Krieg nennen, wenn die Politik das offiziell bestätigt hat).

Die vorauseilende Verbürgerlichung während der Hochaufklärung reichte bis ins Gebaren der Offizierskaste: Die berühmte Anekdote aus der Schlacht von Fontenoy 1745, als ein französischer Oberst einen schwer verwundeten englischen Colonel auf dem Schlachtfeld entdeckte, ihm einen Soldaten als Leibwächter zuteilte und den Inhalt seiner Geldbörse aushändigte, so daß der Gerettete ihm die Hand reichte und ausrief: »An Englishman could not have done more for me!«203, setzt eine der Markierungen auf dem Weg von der Ritterlichkeit und Stammesehre feudaler Zeiten zur ins moderne Kriegsrecht importierten Zivilität. Die bürgerliche Epoche, auf deren zivilisatorischem Tiefpunkt man erst die hingeschlachteten Soldatenmassen des Grabenschreckens im Ersten Weltkrieg dann im englischen Oberkommando als »Wastage«, also Fäkalschlamm führte,204 bald darauf die Vernichtungsorgien des »totalen Krieges« erfand und schließlich Atombomben abwarf, begann mit dem Nachdenken und Diskutieren über eine mögliche Entbarbarisierung des gesamten Kriegswesens.

Bereits Oliver Cromwells epochemachende new model army im siebzehnten Jahrhundert verdankte sich Parlamentsbeschlüssen, welche die Adligen nötigten, sich für einen Posten entweder im Heer oder in der zivilen Staatsverwaltung zu entscheiden; viele wurde die Armee so los, die sich auf diese Weise professionalisierte, mobiler wurde (weil nicht mehr im alten Ausmaß an Garnisonen gebunden) sowie neue Rangordnungsdynamiken und Flexibilitäten erlebte (Verdienst, nicht Blut sollte nun zunehmend über den Dienstgrad entscheiden). Die Demokratisierung war echt, und unterm offenen wie subkutanen Einfluß der radikalen levellers brachten Militärs schließlich sogar eine neue Verfassungsidee für den Gesamtstaat ins politische Gespräch, das »Agreement of the people«: nahezu uneingeschränktes (allerdings den Männern vorbehaltenes) Wahlrecht, religiöse Toleranz unter Gesetzesschutz, Parlamentsreform (Legislaturperioden von zwei Jahren), Ende der Schuldnergefängnisse. Es wurde nichts daraus; aber auch da, wo das Militär nicht zum linken Keil in der Maschinerie der heranbrechenden Moderne wurde, brachte das Vernunftzeitalter Veränderungen, nämlich Regularien und Grenzen ins Kriegshandwerk. Der wichtigste Hinweis darauf, daß diese Entwicklung sich nicht einfach, irgendeinem verborgenen Condorcet-Hegelschen Gesetz folgend, von allein zutrug, sondern gewollt war und herbeidebattiert wurde, ist in der Rolle zu erkennen, welche die Beschwerde über unzivilisiertes Verhalten in der Kriegspropaganda selbst zu spielen begann; so als die Preußen den Russen vorwarfen, daß und wie sie im Siebenjährigen Krieg Pommern und die Neumark verwüstet hatten, was weniger an urrussischer Rassenwildheit als vielmehr daran gelegen haben dürfte, daß der östliche Gegner die neue Verbürgerlichung des Waffenwesens noch nicht mitgemacht und sich auf seine distinkt vorbürgerlichen (ja eigentlich noch nicht einmal recht feudalen, sondern eher tribalistisch vergesellschafteten) Kosaken verlassen hatte. 1762 waren es dann die Preußen, die sich der Kosaken bedienten und sie in Österreich genauso unkontrolliert wüten ließen – »this time the Prussian propagandists remained silent«, wie der Militärhistoriker Duffy mit feiner Ironie anmerkt.205 Der »remarkable restraint in warfare« (Duffy), der das achtzehnte Jahrhundert besonders verglichen mit dem vorangegangenen und den beiden nachfolgenden kennzeichnete, verdankte sich der an klimatologische und andere natürliche Gesetze gebundenen Deployment-Dynamik der stehenden Heere, die von Oktober bis Mai aufs Winterquartier verwiesen waren und dann in geordneten Formationen aufeinandertrafen, die man sich vorher gut überlegt haben mußte, war es doch üblich, in den ersten paar Stunden der Schlacht bereits ein Drittel der Soldaten in den Tod zu entlassen – Verteidigung der Linien zu zwei oder drei Gliedern, die ersten knien vor den zweiten, die nachladen, und schützen sie; der Angriff der Infanterie war ein todesverachtendes Rennen, jede Schlacht nahm sich von Angreiferseite da aus wie die Landung der Alliierten in der Normandie am Ende des Zweiten Weltkriegs. Oft genug kam es also vor, daß jemand die Tapferkeit dahinfahren ließ und in letzter Sekunde ausbrach; Kampfmoral und Disziplin waren, da sich die Heere allesamt auf ungefähr gleichem technischem Niveau bewegten, durchaus kriegsentscheidende strategische Faktoren.

Nach ein paar Feldzügen unter solchem Reglement pflegten Kriege im blutgetränkten Sand zu verlaufen, sie »fizzled out«, schreibt Duffy schon, »a state of genteel near-efficiency was probably the one best suited to sustain an eighteenth century army over a long haul before the inevitable breakdown«206, und selbst die Gegenden, durch die man zog, waren tunlichst, wie man heute sagen würde, ökologisch, das heißt nicht nach dem Prinzip der verbrannten Erde zu behandeln – man müsse, war die Lehrmeinung der Kriegskundigen, die Landbevölkerung und ihr Land schonen, daß dort nicht nur gelebt, sondern auch wieder gesät werden könne, weil man nicht wisse, ob die nächste Schlacht nicht vielleicht in derselben, dann hoffentlich nicht restlos erschöpften Gegend werde geführt werden müssen.207

 

Zu den gesellschaftlichen (Offizierskomment wird bürgerlich, weil Armeen bürgerlich werden und die Erbposten schwinden sollen) und den naturgesetzlichen (stehende Armeen unter bekannten klimatischen und Bodenbedingungen) traten indes in dem Zeitalter, das sich mit Hobbes und Rousseau erstmals der Vorstellung vom allgemeinen Sozialzusammenhang als einem Schauplatz des pacta sunt servanda annähert, auch politische Beschränkungen für das Toben des Mars – jedesmal, wenn sich im achtzehnten Jahrhundert ein europäischer Staat auf klarem Hegemonialkurs befindet, bilden sich Allianzen, die diese Übergewichtsgefahr eindämmen sollen. Die erste explizite Erwähnung dieser Art von Stabilitäts- und Containment-Politik findet sich im anglo-spanischen Vertrag von Utrecht vom 13. Juli 1713, in dem der »dauernde Vorteil für alle« beschworen wird; eine Art der Außenpolitik, die verfolgt wurde, bis sich 1914 ein gigantischer Zusammenbruch ereignete, den nicht nur Lenin als Zeichen des Anfangs vom Ende der freien Staatenkonkurrenz (und der Konkurrenz von nationalstaatlich eingerahmten Kapitalien auf dem Weltmarkt) wahrgenommen hat. Die Anti-Hitler-Koalition aus Staaten, die, auf wie verwickelten Wegen immer, ihre Verfassungsideen auf die Aufklärung zurückführen, fand sich nicht zuletzt zusammen, um einen zu besiegen, der die Ereignisse von 1789 nach dem Wort von Goebbels »rückgängig machen«, also annullieren wollte (wie überhaupt alle Spielarten von Gesellschaftsverträgen und die meisten der zwischenstaatlichen Abkommen, die er schloß). Die Idee von Utrecht war damit – und dem Versuch der völkerrechtlichen Faktensetzung in den Nürnberger Prozessen – noch einmal wiederbelebt worden; die Befürchtung, mit dem Ende des Kalten Krieges sei auch sie, wie nach Reemtsmas Wort die Linke, zugrundegegangen, ist angesichts des Spotts über Utrecht, den coalitions of the willing darstellen, die man mit bloßem Auge von den Auxilia-Politiken der antiken Großmächte gar nicht so leicht unterscheiden kann, kaum von der Hand zu weisen. In unserer allerjüngsten Vergangenheit haben wir also Feldzüge erlebt, die ganz so, wie Carl Schmitt das für die Kriege der Zukunft insgesamt befürchtet hatte, als diskriminierende Kriege (und, was die Sache zusätzlich kompliziert macht, in Beantwortung asymmetrischer Kriegsführung nach Schmitts Partisanenmodell) die von vornherein schwächere Kriegspartei als hostis generis humani brandmarken sollten. Am Anfang stand der propagandistische Appell an eine nie genau identifizierte Instanz der Menschenrechtswahrung (das Menschengeschlecht als solches? Irgendeine Werte- oder Staatengemeinschaft? Alle Nichtserbinnen und Nichtserben, alle Nichtmusliminnen und Nichtmuslime?), bei der es sich praktisch um die Massenmedienöffentlichkeit der kriegführenden Staaten selbst handelte, untermauert mit nicht immer ganz einwandfreiem Anklagebeweismaterial, und sobald die Regierungsmaschinerie (aber eben nicht unbedingt der Staat, noch weniger die Gesellschaft) dieses Gegners zerschmettert war, ließ man die Verantwortlichen wiederum massenmedial kritisieren, mitunter abwählen, und mußte nicht weiter darüber diskutieren, daß die im Zeitalter der Vernunft erfundenen Zivilitäten und Symmetrien zwischen Naturgesetzlichkeit und Politik an technoökonomischen Asymmetrien zuschanden geworden waren, an deren Ende der latter day battlespace des weltraum- und computergestützten Luft-Boden-Krieges, also das unfairste Schlachtfeld der Geschichte steht.

VI.
Die Terminatorepoche des Kriegshandwerks: Afflicted Cyborgs

Die erste weltraumgestützte Großoffensive machte aus dem Schlachtfeld erst real den Schlachtraum, der heute selbst zwölfjährigen Computerspielern Grundvoraussetzung für sinnvoll erlebte simulierte Kampferzählungen ist; in diesem Inforaum fielen die Clusterbomben, neues Produkt aus Treffsicherheit und Zerstörungskraft – »The battlespace – that sounds like mere high-tech-jargon, unless you are inside of one. Then the American battlespace is still somewhat abstract – to the American Nintendo warriors who are inflicting it on you«, schreibt Bruce Sterling. »But for the wretches on the receiving end, it is a terrible reality. Short of an outright nuclear inferno, American battlespace is the deadliest military area of all time.«208

Oft übersehene Folge hiervon ist neben anderem die Aufwertung asymmetrischer, partisanenhafter Kriegsführung für diejenigen, die von solcher Battlespace-Errichtung erfaßt werden sollen – »it is sheer military folly to put on a uniform, formally declare war, raise a battle flag, assemble troops, and expose yourself to the digital targeting screens of American satellites, cruise missiles, and aircraft. No conventional military force can enter American battlespace and survive for more than a few hours«.209 Die Veränderung auf Seiten des Soldaten oder der Soldatin, die in diesem Schlachtenraum handeln sollen, verwandelt sie von Bürgerinnen und Bürgern in Apparaturen, Waffen, wie einst die Ritter in die uniformierten oder wenigstens bewaffneten citoyens und citoyennes verwandelt worden waren:

»The re-created flesh must be trained and primed to survive battlespace, to match its tempo, to cycle into a war metabolism. Body armor will be one of the first contacts the war will insist upon, and then, in order to establish larger safe zones, it will turn to rolling armor. Extended by technology, the personal body expands into new territory: the body will need constant upgrading in order for it to act as a testbed if it is to survive the gun-armor-spiral, the missile-tank-helicopter-roundabout«,

erläutert Tim Blackmore.210

 

Maschinenpersonal und Bodentruppen müssen sich fortan zurechtfinden in expliziter Antinatur, also nicht mehr bloß in der »zweiten Natur«, von der man redet, wenn man Gesellschaftliches meint, das nicht mehr als menschengeschaffen (und von Menschen abschaffbar) wahrgenommen wird, weil es in Hexis, anders bildlich: in Fleisch und Blut übergegangen ist – sie betreten einen Ort, der lebensfeindlich, aber belebt ist, also nicht etwa den Mond, sondern einen virenverseuchten Planeten mit ansonsten atembarer Luft, mit Sturmgewehren, die schneller schießen und bei kurzen Feuerstößen besser zu handhaben sind als jedes vergleichbare Gerät in der Geschichte, einen Ort, der in den Falschfarben der Nachtsichtgeräte wahrgenommen wird, wo Copperhead-Panzerbrecherfeuer ringsum einschlägt, wo lasergelenkte Raketen, Nerven- und Hautgifte, Lungengifte, Drohnen, Luft-Boden- und Boden-Boden-Raketen, Streubomben, feindliche Truppen mit drogengepushten Hirnen unter Kevlar-Nylon-Gefechtshelmen, mit schnitt- und stichfesten Handschuhen, in Kampfstiefeln und Körperschutzpolsterung das Leben bedrohen. Die Tötungsindustrie ist im Terminatorstadium der Zweck-Mittel-Relation angekommen (in der Fernsehserie »Terminator: The Sarah Connor Chronicles« benutzt auch der Widerstand gegen eine von Maschinen beherrschte Welt Maschinen, darunter auch die Infiltratoren-Cyborgs, die in der Welt dieser Serie »Terminatoren« heißen, synthetische Menschmaschinen, die zu Überläufern umprogrammiert sind, bis zu dem Punkt, an dem sich Widerstandsleute beschweren, es gebe für sie eigentlich nichts mehr zu tun, man finde bereits »Metal on every base«: Es kämpfen menschenfreundliche Maschinen gegen menschenvernichtende, Krieg ist zugleich Dauerzustand und verhängter Todeszufall wie Zuschauersport geworden).

 

Zwar wäre es im engsten Wortsinn ökonomistisch, diese Sorte Mikro-Menschenmutation, Meso-Neuverräumlichung der Schlachtenwelt und all dies ummantelndes Makro-Unrecht allein aus postfordistisch und globalisiert veränderten Verwertungsbedingungen fürs Kapital, internen Kämpfen innerhalb der herrschenden Klasse (nicht nur zwischen transnationalen Riesenkapitalien, sondern auch Sparten: Die Energiewirtschaft koaliert mal mit der Finanzoligarchie, dann wieder macht sie gegen diese zusammen mit der klassischen Industrie Front) und sonstigem Meldungsstoff aus dem Wirtschaftsressort abzuleiten; zwar wäre es umgekehrt im engsten Wortsinn politizistisch, sich von der einfachen Stärkung des Staates oder der Staaten (nach dem Clintonianischen, von Hillary Clinton noch klarer als von ihrem Mann vertretenen Programm »Big Government balanciert Big Business aus«) zu versprechen. Daß jedoch die Schiedsrichterrolle, die der Staat im Absolutismus spielte, heute fehlt, wo Staaten und vor allem Regierungen eher Praktikantinnen- und Praktikantenrollen spielen, läßt sich spätestens an der Regierungszeit von Bush II., Tony Blair und Co. in einer Deutlichkeit zeigen, die selbst eingefleischten Anarchisten ihr damit negativ verwirklichtes Ideal vom Verschwinden des Staates in der Gesellschaft fragwürdig machen könnte.

Es war kein Staat, es waren die splissigen Spitzen der amerikanischen Gesellschaft, die ihre Leute (die Familie Bush, Cheney, den ewigen Aufsichtsrat Rumsfeld) einen Krieg organisieren ließen, der von Verschwörungstheorien nach dem Muster »Sie hatten bestimmte Ziele und setzten bestimmte Hebel an bestimmten Ereignissen an, um diese zu erreichen« nur verniedlicht würde: Die Anarchie dieser Kriegsführung – es gab keine nennenswerte, strategisch verwertete Kenntnis der betroffenen Gesellschaften, weder im Irak noch in Afghanistan, keine ernstzunehmenden Pläne für die Besatzung oder das nation building, man bombte die Leute aus, besetzte, plünderte (wenn auch nicht wie die Hunnen, mehr wie die Shareholder) und versuchte dann nur noch, mit weitgehend untauglichen Mitteln einige der aus den Ruinen kriechenden Überlebenden zu Satrapen zu schulen – spiegelt die Unordnung und zunehmende Willkürverfallenheit des kapitalistischen Wirtschaftsraums, der sich nach außen stülpen will, um die ihm noch nicht einverleibten Teile des Globus zu ordnen, die in ersten Memoiren der fraglichen Zeit aufscheinende annähernde Unmöglichkeit, wenigstens innerimperialistisch zu klären, wer jeweils gerade mit wem welchen handelsmäßigen, rüstungsbezogenen oder nachrichtendienstlichen Import-Export-Separatfrieden auszuhandeln bemüht war, welche Dienste welchen Truppenteilen welcher Verbündeten halfen, ist ein Reflex ins Stottern geratener Produktionsvernunft, die keine klaren Kampagnenziele mehr verfolgt, nicht weiß, wo angelegt und vermehrt werden soll und statt dessen eine Art Katastrophenopportunismus lebt, in dem eben von Fall zu Fall die Marines losgeschickt werden, um aus dem letzten Zusammenbruch, den imperialistische Reflexe irgendwo verursacht haben, Zustände zu schmieden, von denen dann irgendwer irgendwie profitieren könnte. So zeichnet sich denn plötzlich eine neue, vielleicht doch noch sinnvolle Verwendung des Namens »Bellizist« ab: Vorstellbar werden nüchterne Sozialingenieure (die sich vielleicht eher von einer Neuinterpretation der Schriften Keynes’ anregen lassen als von einer derjenigen von Leo Strauss), die sich ausrechnen, daß die beste Möglichkeit, die Globalisierung abzustützen, in nur scheinbar destabilisierenden Kriegsunternehmungen besteht – im permanenten Krieg, mit oder ohne UNO-Logistik (das ist Opportunitäts- und Geschmackssache), als Outlet der permanenten Krise, die von anderer Warte aus betrachtet wie eine permanente Konjunktur aussieht, und Battlespace der Riesenkapitalien, die als »afflicted powers« schwanken, doch nie sinken, wie dies das amerikanische Kritik-Kollektiv »Retort« 2005 beschrieben und zergliedert hat: »No smoothly gliding imperial machine, but rather a clumsy, lurching apparatus, responding contingently, and by no means moving in a single direction.«211 Gelegenheiten aus Schäden schaffen: Als US-amerikanische Staatsangehörige besitzen die Retort-Leute genügend sang-froid, mit Hannah Arendt an die wichtige militärisch-industrielle Wahrheit zu erinnern, daß wenn man einmal angefangen hat, wie die Wertvernichtungsmaschinerie des Kriegswesens zur zentralen systemerhaltenden Wertschöpfungsquelle umzuwidmen und umgekehrt allerlei Wertschöpfungsvorrichtungen zwischen Informations- und Energiewirtschaft der militärischen Handhabung anheimzustellen, bald eine Situation entstehen muß, in der »the endless accumulation of armed power proposes itself (or wishes to propose itself) as the very basis of the social order«.212 Folgerichtig erinnern sie sodann an Hobbes, dessen Begriff vom Staat als starkem Schlichter der Händel zwischen Partikularinteressen nur ein wenig verschoben werden muß, um ihn zum Auslöser und Regenten ganz anderer, viel folgenreicherer Händel zu machen: »He hath the use of so much Power and Strength conferred on him, that by terror thereof, he is enabled to form the wills of all.«213

 

In dem, was personell von der Bebelschen Konzeption der Sozialdemokratie noch übrig ist – man findet es in Teilen der Labour Party oder bei den amerikanischen Demokraten ebenso leicht oder schwer wie in Deutschland bei der SPD oder der Gysi-Lafontaine-Linken –, wird, da nun die Dinge einmal so liegen, noch darüber gerätselt, ob man die Hobbessche Staatsapparatur nicht doch noch einmal nutzen sollte, um in diese Lage einzugreifen, und wo es noch Marxistinnen gibt, hört man mitunter die Antwort: Eine Staatsapparatur wird man schon brauchen, aber die gegenwärtige ist gar kein Staat mehr in einem Sinn, der diesen Wunsch wünschbar macht. Mit der Militärfrage verhält es sich darin wie mit allen sonstigen Belangen des Krisen- und Kataklysmenmanagements – wenn Linke »Verstaatlichung« sagen, meinen sie eben etwas durchaus anderes als die Rettung von Banken mit abgepreßten Mehrwertcents. Diesen zwei verschiedenen Vorstellungen von Verstaatlichung entsprechen zwei verschiedene Staatsbegriffe, und wer die beiden nicht trennen kann oder will, mag dann auch in internationalen Krisen auf Amerika oder China oder sonst eine Macht hoffen. Gewiß, es ist wahr, wie Bonapartes Armee stehen heute die Amerikaner für aufgeklärtere Gesetzlichkeiten als viele der Regime, die sie stürzen, aber der Unterschied ist, daß in einem Zeitalter der Revolutionen Kriege diese erleichtern und abkürzen mögen, das unsrige aber derzeit nicht danach aussieht (wie schnell sich das ändern kann, hängt auch davon ab, wie viele das zunächst einmal einsehen, statt sich an Marx in einer Weise zu klammern, die ihn schon wieder mit Hegel verwechselt). Daß die USA im Irak keinen code civil oder sonst etwas, das Thomas Paine oder Jefferson gefallen hätte, durchgesetzt haben, sondern sich der Loyalität ihrer vorgesehenen Statthalter durch Absegnen von Schariagesetzlichkeit zu versichern suchten, ist dazu nur eine Fußnote, ebenso wie die prominenten US-Bürgerinnen und -Bürger, die keine mehr sein wollten, inklusive derjenigen, die sich öffentlich schämten, immer noch welche zu sein (das ist, es tut uns leid, auch nicht gescheiter als Nationalstolz).

Am besten machen sich Imperien doch als Steinbrüche für die humanistische Inneneinrichtung späterer Hochzivilisationen, wie jenes Römische, das als Latein und Latinismus bei Gebildeten der Neuzeit fortleben darf. Imperien und ihr gewaltsamer, erpreßter Universalismus sind die wahrlich unvollkommenen Platzhalter des emanzipierten Universalismus der Freiheit, den sich ein Kollektiv leisten könnte, das wirklich »die Menschheit« heißen dürfte. Falls es eines Tages gelingt, diese Menschheit politisch herzustellen, so wird sie sich womöglich an die US-Kultur, die populäre wie die andere, erinnern – in mancher Hinsicht dankbar, in anderer peinlich berührt, oft genug wohl schlicht verwundert.

VII.
Yet another moral calculus

Wenn jemand eine Waffe in die Hand nimmt, die oder der nicht zu den Besitzenden und den Nutznießern einer ungerechten Besitzordnung gehört, die deshalb nicht wirkt, weil sie ein juristisches oder politisches, sondern weil sie ein Produktionsverhältnis ist, so können das aufgeklärte Personen nur dann begrüßen, wenn mit dieser Waffe nicht die Besitzenden oder sonstigen Nutznießer der ungerechten Besitzordnung verteidigt, wenn nicht deren programmatische, strategische oder taktische Ziele verfolgt werden. Wenn es aber schon einmal (wie in der Geschichte viel zu häufig) die Besitzenden oder sonstigen Nutznießer der ungerechten Besitzordnung sind, welche die Nichtbesitzenden bewaffnet haben, dann wird man es nicht bedauern, wenn diese die Waffen gegen jene richten.

Falls es so etwas wie eine fortschrittliche Generallinie zur Kriegsfrage geben sollte, dann wird sie wohl eine Variante der logischen Form sein, die man als Negation der Negation kennt, etwa so: Es soll möglichst nicht auf den Schlachtfeldern gekämpft werden, welche die Herrschenden den Beherrschten bereitet haben; wenn aber dort bereits gekämpft wird, sollte dort allenfalls über die Herrschaft selbst gesiegt werden.