SIEBZEHN
SINNLICHE UNWIRKLICHKEIT

I.
Geschichten von Bedeutung

Eine junge Frau steht in einem Museum in Tel Aviv abseits ihrer Gruppe vor einem keineswegs besonders bemerkenswerten oder gar besonders guten Bild von Klee und weint, minutenlang, eine halbe Stunde lang. Die anderen aus ihrer Gruppe gehen scheu um sie herum, sprechen sie nicht an, lassen sich vom Gruppenleiter führen, sie kommt sehr viel später nach, die Tränen trocknen auf ihrem Gesicht, sie hat sie nicht abgewischt und sieht glücklich aus.

 

Zwei deutsche Kunstschaffende, Mann und Frau, besuchen ein afrikanisches Land, um dort eine Serie von Fotografien aufzunehmen. Vor Plakatwänden mit bunten Collagen aus Material, das der Mode- und Werbewelt entnommen ist, posieren Einheimische; das grelle Sonnenlicht erzeugt Effekte, die man mit Photoshop nicht zustande brächte. Einmal beschwert sich ein Passant, man werde wieder einmal von den Europäern ausgebeutet. Aber alle, die an der Aktion teilnehmen, können sich am nächsten Tag, auch wenn es sonst kein Honorar gibt – das Künstlerpaar ist nicht reich und hat sich die Reise von Förderern unterstützen lassen –, einen Abzug des Bildes abholen, auf dem sie zu sehen sind.

 

Eine japanische Malerin von Ende Vierzig, die von sich selbst sagt: »Ich habe meine besten Zeiten am Kunstmarkt und bei der Kritik hinter mir, vielleicht loben und kaufen sie mich wieder, wenn ich tot bin«, schneidet in ihrem nicht hinreichend beheizten, etwas zu großen, aber nicht allzu teuren Studio in der Nähe von Tokio, auf dem Gelände einer aufgegebenen Fernsehgerätefabrik, mit dem Teppichmesser maltuchkaschierte Kartons zurecht, rührt Hasenleim für Grundierungen an und erzählt von einer Freundin, die jetzt mit zweiunddreißig Jahren ihr erstes Kind gekriegt hat. Das Kind ist blind zur Welt gekommen, die Mutter ist ebenfalls Künstlerin. »Das ist doch eine seltsame Geschichte«, sagt die Malerin und schneidet die Kartons schmaler,

»man hat ja als Frau immer Angst, die Galeristen sagen, nach dem ersten Kind ist die Kreativität kaputt, das ist auch so ein geheimer Grund, warum sie nicht gerne Frauensachen nehmen – und bei dieser Freundin ist es jetzt so, daß sie lauter neue Sachen macht, das Kind überallhin mitnimmt, und sogar uns andere, ihren ganzen Bekanntenkreis, inspiriert das – es klingt vielleicht gefühlskalt, aber ich denke seither ganz anders über Bilder nach. Was ist das, wenn man blind geboren ist? Menschen würden vielleicht sagen, wie schade, sie kann den Frühling nie sehen, die Kleine, sie kann nie ihrer Mutter ins Gesicht sehen, wenn jemand in der Stadt an ihr vorbeigeht, den sie kennt, wird sie es vielleicht nicht wissen – aber mich beschäftigt etwas ganz anderes: Sie wird den Unterschied nie kennen zwischen einem Bild und der Sache, die es abbildet. Sie wird nicht wissen, was das ist, malen. Das verunsichert meine ganze Idee von Kunst – es ist fast so, weißt du, daß dieses Kind meine eigene Kreativität mehr bedroht als die seiner Mutter.«

 

Ein erschreckend einfallsloser, sehr belesener und auffallend eitler Kulturbürokrat wohnt am Ende eines Krisenjahrs der Probe eines streng politischen, äußerst holzschnitzartig gearbeiteten Theaterstücks bei, das eben erst geschrieben wurde, in der ernsten Absicht, über die Lage des Landes zu reden. Er beschwert sich noch in der Kantine der Bühne, das sei ihm alles zu schwarzweiß, es gebe da ja gute und böse Figuren wie einst bei Schiller. »Ich bin ja gelernter Dialektiker«, blökt der Idiot. »Das ist doch alles viel widersprüchlicher, ich war mal mit einer Psychiaterin liiert, die auch meinte, es gebe suchtgefährdete und nicht suchtgefährdete Menschen, in Wirklichkeit aber gibt es diese klaren Positionen nicht, es ist alles Dialektik.« Auf den vorsichtigen Einwand einer Hegel-Leserin, Dialektik bedeute keineswegs, daß weder eine These noch eine Antithese existierten und die Welt ein undifferenziertes Ineinander chaotischer Nichtpositionen sei, sondern vielmehr das Gegenteil, erzählt der Idiot weitere irrelevante Einzelheiten aus seinem Intimleben und behauptet unter ständig zunehmender Erregung, ihm sei das ja eigentlich alles auch egal, das Stück sei schwach und belanglos, es kratze ihn nicht, seinetwegen könne das alles sein, wie es wolle, und auf dem Höhepunkt der immer gehetzteren, immer lauter werdenden Predigt faßt er diese schließlich damit zusammen, es lohne sich nicht, über dergleichen zu streiten, und sieht dabei aus, als müßte er gleich platzen.

 

Drei Studierende einer Künstlerklasse an einer süddeutschen Hochschule arbeiten zur Vorbereitung einer Gruppenausstellung an drei unterschiedlichen Deutungen des 1975 veröffentlichten, für die Entwicklung der Konzeptkunst nicht eben folgenlosen Textes A Declaration of Independence von Sarah Charlesworth und des darin verwendeten spezifischen Begriffs von »Entfremdung« (alienation). Eine Studentin deutet den Begriff streng marxistisch und soziologisch, ein Student widerspricht ihr und deutet ihn eher anthropologisch-phänomenologisch, eine andere Studentin behauptet, das Künstlerische (oder, wie sie sagt: »Kunstaffine«) an Charlesworths Begriffsverwendungsweise sei eben, daß soziologische und anthropologische Kategorien unauflöslich ineinandergeblendet würden. Eine ausführliche Diskussion mit den anderen in der Klasse und der Professorin ergibt, daß die beiden radikal einseitigen Lektüren in sich stimmig sind und den Text auf zwar je verschiedene, aber in beiden Fällen sehr ergiebige Weise erschließen, während die dritte Lesart, die in Kenntnis der beiden anderen ihre Synthese versucht, an mehreren wichtigen Punkten inkonsistent ist, sich leicht angreifen läßt und, wie die Verfasserin schließlich selbst einräumt, »einfach nicht funktioniert«. Die Klasse einigt sich verblüfft darauf, daß zwei einander ausschließende Interpretationen einem ästhetischen Gegenstand, selbst wenn dieser schon metaästhetisch konstituiert ist und eher Kunstgedanke als Gedankenkunst sein will, offenbar angemessener sind als eine versöhnende, inklusionistische, tolerante.

 

Ein fünfundvierzigjähriger DJ und Plattenproduzent aus Moskau besucht für Plattenaufnahmen Berlin. Eines seiner neuen Stücke enthält ein leicht verfremdetes und angeschrägtes Sample aus Glenn Goulds Interpretation von Bachs französischer Ouvertüre (BWV 831), das einem Tontechniker, der eine akademische Klavierausbildung genossen hat, bekannt vorkommt. Der Russe klärt die Herkunft auf, woraus sich ein Gespräch zwischen ihm und dem Tontechniker über Gould entwickelt. Der Tontechniker erzählt die dem DJ unbekannte Anekdote von Goulds Begründung für dessen Abschied vom Konzertbetrieb: Man entwickle, so habe sich Gould beschwert, bei einem Gastspiel oder einer Tournee früher oder später Manierismen, kleine Spieleigenheiten, die das Publikum im schlimmsten Fall honoriere, wodurch man verführt werde, die jeweilige Stelle immer wieder genau so zu spielen, am Ende sei man nicht mehr als ein Automat, und das wollte Gould vermeiden. Der Russe findet das kurios, ihm, erklärt er, gehe es gerade umgekehrt: Er ärgere sich immer, daß er niemals zweimal denselben Set spielen könne, egal wie sehr es ihn reize, einen besonders schönen Abend noch einmal, vielleicht am selben Ort mit denselben Leuten, zu wiederholen, und wie sehr es ihn ärgere, daß das selbst bei eiserner Disziplin und sturstem Abspielen derselben Sachen in derselben Reihenfolge und denselben Geschwindigkeiten niemals gelinge – »ein Automat sein zu können, dieses Glück zu erleben«, sagt er mit absichtsvoll dick aufgetragener Wehmut, vielleicht nicht ohne Ironie, »das müßte doch wunderschön sein«.

 

Eine französische Kunsthistorikerin besucht einen alten Pariser Studienkollegen, der freiberuflicher, aber an wenige Zeitschriften und Zeitungen per Gewohnheitsrecht gebundener Kunstkritiker geworden ist. In seiner Wohnung hängen nur Originale, bis auf einen einzelnen Druck – mit aufwendiger Technik hergestellt, auf teurem Papier – des von John Everett Millais 1851 vollendeten Gemäldes »Mariana«. Die beiden Fachleute unterhalten sich über die Präraffaeliten, die er mag, sie nicht, und es stellt sich heraus, daß sie mehr über diese Schule weiß als er. Als der Kunstkritiker mit der Anekdote aufwartet, man könne die Farbenfülle von Millais’ »Ophelia« selbst mit dem verfeinertsten Digitaldruck der Gegenwart – nach Auskunft eines Druckers, mit dem er darüber geredet habe – nicht in allen Einzelheiten farbecht wiedergeben, erzählt sie ihm einiges über die farbtechnischen Umwälzungen in der Malerei des neunzehnten Jahrhunderts, das er nicht wußte, über die Ablösung von Ölfarbblasen zunächst durch metallische Farbspritzen und schließlich die 1841 patentierten Farbtuben. »Sehr viel Technisches geschah damals«, sagt sie, »fast soviel wie heute, ich meine nicht malerische Technik, ich meine wirklich Apparate, Vorrichtungen.« Er fragt sie, ob es das sei, was sie an den Präraffaeliten nicht schätze, und sie präzisiert: »Nicht die Tricks und Hilfsmittel, nein. Aber sie haben sie verborgen, heute werden sie ausgestellt, betont, das gefällt mir besser.«

 

Die Künste, sagt jede dieser Geschichten, bringen seltsame Maschinen hervor und werden von seltsamen Maschinen hervorgebracht; selbst da, wo gehört, gesehen, benutzt, gebraucht, erfahren, konsumiert und über all das geredet, geschrieben, gedacht wird, entstehen Neuigkeiten, selbst die sogenannte »Rezeption« kann man ebensogut »Produktion« nennen, weil sie mehr hervorbringt als abnutzt, mehr herstellt als auffrißt, mehr zusammensetzt als verbrennt. Wir haben im fünften Kapitel Maschinen definiert als etwas, das etwas anderes herstellt oder dabei hilft, und müssen also, wenn wir von den Maschinen der Künste reden, damit rechnen, von berufener und weniger berufener Seite daran erinnert zu werden, daß wir damit bereits eine Vorentscheidung zugunsten einer an Werken orientierten Kunstauffassung getroffen haben, die heute, da man in der Beschäftigung mit Kunst außer von Werken auch von Prozessen, Relationen und ähnlichen dem Dingschema entrückten Angelegenheiten zu sprechen gelernt hat, antiquiert bis reaktionär aussehen mag. Das Mißverständnis mag fortbestehen, wenn wir deutlich sagen, daß die Verlegenheit, die dazu geführt hat, anstelle des Werkbegriffs etwa in der deutschsprachigen Kunstkritik von »Arbeiten« zu reden, weil dabei immerhin die Erinnerung an ein wichtiges Werk mitschwingt, uns nicht betrifft, weil die Werke, die wir erwähnen müssen, um unseren Maschinenbegriff im Betreff der Künste zu erläutern, eben nicht das schmutzige kleine Geheimnis des bürgerlichen Werkbegriffs verleugnen müssen, daß da, wo »Werk« draufsteht, immer »Ware« gemeint ist, sondern die Betrachtung künstlerischer Praktiken unter dem Aspekt der Produktion von Produktionsmitteln unser Verfahren ist, das Ineinander und Gegeneinander von Tauschwert und Gebrauchswert zu thematisieren, statt es zu verbergen, wie das mithilfe des bürgerlichen Werkbegriffs (und des ihm als Schein des letzten über seine Produktionsmittel frei verfügenden Kleinproduzenten, des Künstlers, supplementierten Geniebegriffs) – jenes Ineinander, das seit der marktvermittelten Autonomisierung der Kunstsphäre im Gefolge ihrer Emanzipation vom ständischen Mäzenswesen, welches in der Hochmoderne allmählich durch ein kapitalistisches Mäzenswesen ersetzt wird, dessen Marktgestalt interessanterweise den Spielcharakter der Künste selbst verdoppelt: Wie Kunst Erkennen spielt, spielt der Kunstmarkt Markt, und ist doch genauso wirklich einer, wie die Erkenntnisse, die sich an Kunstwerken gewinnen lassen, wirkliche sind.

 

Maschinen als basale Funktionseinheiten dessen, was wir Technik nennen, sind uns Operationalisierung derjenigen Hexis und Praxis, die das Zwecklose (die Natur) unter Zwecke setzen. Die Besonderheit derjenigen Maschinen, welche die Künste hervorbringen und die von den Künsten hervorgebracht werden, ist nun, daß diese Zwecksetzungen maximal unterbestimmt sind, daß der Grenzwert des Kunstzwecks die Verfügung über alle Zwecke dergestalt ist, daß sie sämtlich selbst wieder zu Mitteln taugen sollen für weitere Zwecke, daß das Probehandeln also das Handeln aufschiebt, daß daraus erstens Lust und zweitens Bedeutung entsteht – Bedeutung als die sozusagen leere Form des Zwecks an sich, daß irgend etwas für irgendein anderes stehen kann. Kunstwerke, künstlerische Arbeiten, künstlerische Prozesse, Kunsterfahrungen sind unpraktische, antipragmatische Maschinen, an denen dann freilich andere Zwecke haften können, etwa ideologische, sexuelle, ökonomische. Der in vielen Sprachen vorkommende Gebrauch von Wörtern aus dem Bedeutungsbereich der Künste für keineswegs zweckfreie Gegenstände oder Handlungen wie etwa die »Kunst des Krieges« oder das »Meisterwerk der Gesetzgebung«, Gegenstände und Handlungen also, deren Vollendungsgrad, Schönheit, Attraktivität daran gemessen wird, daß nichts ihnen Äußerliches ihre Zweckgerichtetheit stört, weist darauf hin, daß Zweckfreiheit eben keine Bedingung fürs Vorliegen von etwas den Künsten Zugehörigem oder damit Verwandtem ist, sondern im Gegenteil das besonders explizite Hervortreten der Gerichtetheit auf menschengemachte Zwecke ohne Spuren von diesen selbst feindlicher, äußerlicher, sie störender Gewalt, fremden Willens et cetera – was »sich selbst genügt« und keinen fremden Zwecken, gilt als Kunst oder kunstaffin, und wenn es keinen anderen Weg gibt, diese Störung durch Fremdes, diese Heteronomie zu verhindern, als zu erklären, der Zweck einer Sache sei eben, daß sie keinen habe, dann wird auch dieser Weg – l’art pour l’art – beschritten: Lieber bringt sich die Kunst um, als sich anderen Zwecken zu unterwerfen als dem Zweck der Bedeutungserzeugung, dem Genuß der unerpreßten Gerichtetheit. Gerade dies aber, wie gesagt, zieht alle möglichen Zwecke an: Das an die eigene Ungebundenheit Gebundene lockt alle, die selbst ungebunden sein wollen, damit an, daß es suggeriert: Wer diese Freiheit beherrscht, ist selbst frei.

 

Aus solcher Offenheit für die verschiedensten Zwecke, welche erlaubt, die vieldiskutierte »Zweckfreiheit« des Künstlerischen als etwas zu sehen, das nicht weniger Zweck hat als anderes Menschengeschaffenes, sondern mehr Zweck anlockt, das also nicht Zweck reduziert, sondern vervielfacht, folgt aber die Schwierigkeit für Pragmatisten und Neopragmatisten von Dewey über Rorty bis Shusterman, eine pragmatische Ästhetik zu schreiben, die sie deshalb nur zuwege bringen, indem sie ihren Praxisbegriff an der Kunsterfahrung reduzieren und ihn von Kategorien wie Gebrauch und Benutzung möglichst weit wegrücken; das Dilemma ist strukturell dem des Positivismus und Neopositivismus verwandt, der Erkenntnis ohne Normatives beschreiben will und deshalb das Erkenntnisinteresse aus seinen Gleichungen kürzen muß, was die vielbeklagte Weltfremdheit, mangelnde Tatsachenhaltigkeit seiner Konstruktionen erzwingt und ihn wie auch die pragmatischen Ästhetiken in die Nachbarschaft von Verfallsformen der Aufklärung bringt, die mit Adornos und Horkheimers Verdinglichungskritik oder ihren Angriffen auf die instrumentelle Vernunft weniger leicht zu fassen sind als mit Alain Badious kluger Wendung gegen Stummelmaterialismen, die glauben, es gebe nur Dinge und die Rede darüber, nur Objekte und Objektsprachen, oder in unserer eigenen Begrifflichkeit: nur Natur und Gesellschaftliches, also Dinge, die sich nicht mitändern, wenn sich Sprache ändert, und andere, die das tun – was dabei dann fehlt, sind sämtliche Schnittstellen zwischen beiden, ist die Tatsache, daß im menschlichen Kosmos diese beiden immer miteinander vermittelt sind durch jene wahrnehmbaren Spuren des Nichtmehrseienden und Voraussetzungen des Nochnichtseienden, die wir Implex nennen. Aus diesem Kosmos, also der Gesamtheit aller Sachverhalte, die geworden sind und vergehen werden und an denen wir beides, weil wir uns erinnern und vorausplanen können, abzulesen imstande ist, können wir uns niemals hinauspraktizieren – wenn auch hinausprobepraktizieren, hinausdenken, sonst gäbe es weder Wissenschaft, noch Kunst, noch Politik, noch Philosophie. Daß die Künste die Zwecke anziehen, indem sie sich für sie offenhalten, macht sie, wie wir gesehen haben, zum Austragungsort auch wissenschaftlicher, politischer, philosophischer Verweis- und Implexbeziehungen; auf der Rezeptionsseite erscheint dies dann als Teilhabe der künstlerischen Werke oder Prozesse an diesen Beziehungen, oder wie die Psychoanalyse sagen würde: als Überdeterminiertheit; auf der Produktionsseite produziert es Souveränitätseffekte, den notwendigen (und produktiven) Schein der Verfügung über kunstfremde Verweis- und Implexbeziehungen seitens der Künstlerinnen und Künstler, was wiederum auf Rezeptionsseite den Geniebegriff plausibilisiert und etwa bei den erzählenden Künsten vom Epos bis zur Fernsehserie überall die Lesart einer Künstlerinnen- oder Künstlerfabel erlaubt (also die Umkehrung der Verfahrensweise Joseph Campbells in The Hero With a Thousand Faces, der das Heroische als das in allen Genieleben von der Vorzeit bis heute fortlebende Mythische sieht – auch Stephen Dedalus wäre ihm Ikarus, während wir den Akzent in dieser wechselseitigen Implikatur des Mythischen und des Künstlerischen lieber andersherum setzen und in Ikarus bereits die Selbstverewigung leider anonymer Kunstschaffender erkennen. Man lese einmal so verschiedene Texte wie den Hamlet, die Tarzan-Romane oder die Stücke Becketts als Künstlerparabeln: Es geht immer auf, aber das sagt nichts über die »tiefere Bedeutung« der Werke oder darüber, »was uns die Dichter damit sagen wollen«, sondern über die Natur der Künste, denen nun mal alle drei Exempel angehören).

 

Wenn die französische Kunstkritikerin in der oben erzählten Anekdote von den Präraffaeliten den moderneren Kunsttatsachen einen nicht nur technischen, sondern technizistischen (das Technische an sich selbst ausstellenden, thematisierenden, zelebrierenden) Charakter bescheinigt als den älteren, so spricht sie von etwas, das wir in der Terminologie dieses Buches nicht anders nennen dürfen als »Fortschritt«: Das neuere Künstlerische thematisiert die Tatsache, daß seine Zwecke sich nie erfüllen lassen, weil sie Probezwecke sind, Spielzwecke, für uns selbst heutige Menschen deutlicher als das ältere Künstlerische, aber damit wird nur die spezifische Differenz zwischen dem Künstlerischen überhaupt und der Nichtkunst verdoppelt, in die Kunst selbst geholt und in ihr verdoppelt, denn Kunst war gegenüber Nichtkunst schon immer das, was heutige Kunst gegenüber älterer Kunst ist. Technisches setzt ein zwecklos Vorhandenes – eine Naturtatsache, die in Maschinen isoliert und konfiguriert werden kann – unter Zwecke, verleiht also einem bereits Vorhandenen die Bedeutung, auf etwas noch nicht Vorhandenes (den zu erfüllenden Zweck) zu verweisen, diese Eigenschaft des Technischen – seinen Verweischarakter – isolieren nun die Künste, wie etwa ein Flaschenzug Eigenschaften der Mechanik isoliert und auf spezifisch zweckgebundene Weise konfiguriert – und machen daraus Bedeutungsmaschinen, das heißt Vorrichtungen oder Handlungszusammenhänge, deren Fähigkeit, auf andere zu verweisen, nicht ihren Zweck ermöglicht, sondern ihr Zweck bereits ist. Das Probehandeln gewinnt ja seine Zukunftsfähigkeit, sein von Musil sehr schön »Möglichkeitssinn« getauftes Empfinden für Kombinatorik und Unterscheidung im ersten aller Abstraktionsschritte, dem vom Gedächtnis, der Erinnerung, der Speicherung des nicht mehr Vorhandenen zum noch nicht Vorhandenen, aus dem Wissen, daß das, was wahrgenommen wird, einmal anders war, und der Hume und Reid so wichtigen Überzeugung, daß es folglich auch einmal anders sein wird. Die Künste wären nichts ohne dieses menschliche Gedächtnis: Daß etwas ein anderes bedeuten kann, ist nur gegeben, weil etwas an ein anderes erinnern kann; daraus ergibt sich zwingend auch ein besonderes Verhältnis der Künste zur Geschichte, aus dem wiederum ein besonderes Verhältnis der Künste zur Politik entsteht, welches beispielsweise ermöglicht, die Malerei Davids oder Courbets als eine Geschichte des französischen Republikanismus zu schreiben oder umgekehrt.

 

Die spezifische Zugangsweise der sinntatsachengemäßen Reflexion auf die Erinnerungs-, Bedeutungs- und Verweismaschinen der Künste ist überall da, wo eine relative soziale Autonomisierung der Kunstsphäre erreicht wurde, notwendig nicht nur historisch, sondern vor allem begrifflich, von den Ideen der aristotelischen Ästhetik über die erzbürgerliche Idee einer »Klassik« bis hin zu Warburgs »Pathosformel«, Benjamins »Aura« und Ideen wie »Avantgarde« oder »Modernismus«.

Die Konturensupplementarität von Künstlerischem und Begrifflichem gilt auch und gerade da, wo Kunstwerke selbst nicht begrifflich, also nicht im modernen Sinne »Konzeptkunst« sind, weil das Vokabular, in dem die inferentiellen und kausalen Zusammenhänge der Zweckwelt für Menschen explizit gemacht werden, kein Dingvokabular sein kann, sondern nur ein logisches (warum die Logik das Vokabular ist, das Inferentielles explizit macht, lese man bei Brandom nach; die Brücke zum Kausalen ist einfach zu schlagen: Das Inferentielle ist das von Menschen gemachte Kausale, das nichtnatürlich Folgerichtige, die Probehandlungsentsprechung zur im Handlungsbereich obwaltenden Kausalität des Verursachens von Effekten); Kunsttatsachen haben inferentielle Status in der Art, in der Inferenzen bei Brandom auf normative Status angewiesen sind. Die Nähe der Philosophie zu den Künsten, die sich selbst im Alltagsgeschäft der Kunstkritik immer wieder bemerkbar macht, ist vor diesem Hintergrund kein Rätsel; die Begriffsmaschinen, welche die Philosophie herstellt, sind sozusagen die Greifarme für die vergleichende und unterscheidende Manipulation der Bedeutungsmaschinen der Künste, was, wir wiederholen, nicht heißt, daß alle Kunst selbst begrifflich ist – es verhält sich eher so wie bei der technischen Reflexion auf den Unterschied zwischen Fermionen und Bosonen in der Teilchenphysik: Fermionen sind (wie etwa das Elektron) Teilchen mit Masse, auf welche Kräfte wirken, Bosonen sind (wie etwa das Photon, das Lichtteilchen) masselose Teilchen, aber wenn wir Menschen Bosonen manipulieren wollen, etwa für Experimente, müssen wir, da wir selbst fermionisch, materiell, aus Masseteilchen zusammengesetzt sind, Maschinen bauen, die das auch sind, also Lichtquellen wie etwa Laser, Photoplatten und so weiter. Zur Untersuchung des Begrifflichen wie des Unbegrifflichen der Künste ist das Begriffliche Mittel der Wahl. Wir wenden uns damit auch gegen seit einigen Jahren, bald Jahrzehnten aufgekommene Versuche, dem Begrifflichen bei der Befassung mit den Künsten zu entsagen und in seltsamer Mimesis an visuelle, poetische und andere spezifisch künstlerische Techniken der Bedeutungsproduktion das seit der Aufklärung geschaffene Begriffskontinuum in Richtung auf eine behauptete Transzendenz ins Reich des Künstlerischen selbst zu verlassen. Daß solche Versuche sich mitunter selbst als besonders aufgeklärt, Aufklärung über Aufklärung, also Aufklärung im Quadrat oder zweiter Ordnung verstehen, verschlägt nichts an der betrüblichen Wahrheit, daß sie einen Kategorienfehler zum Denkprinzip erheben wollen: Ob an der Hirnforschung orientierte neue Wirkungsästhetiken versuchen, das ästhetische Spezifikum der besonderen Zweck-Mittel-Interpenetration in Reiz-Reaktions-Analysen aufzulösen, die mit Daten aus neobehavioristischen Blickrichtungswechselmessungen plausibilisiert werden sollen; ob neodarwinistische Soziobiologica um einen sogenannten »Kunstinstinkt« oder gewagte Herleitungen kunstgeschichtlicher Epochenwechsel aus der Memtheorie von Richard Dawkins abgeleitet werden; ob die noch recht junge Verkörperungstheorie unter dem Eindruck der Leistungen dieser Lehre, die etwa Brian Cantwell Smith in On the Origin of Objects und Andy Clark in Being There beschrieben haben, die nichtbegrifflichen, aber gleichwohl kognitiven und sozialen Attribute der Kunstherstellung und -erfahrung für allen anderen möglichen Untersuchungsansätzen logisch vorgeordnet erklären; ob einzelne, nicht mehr kantisch als a priori, sondern, der Mode folgend, sozial konstituiert gedachte Erlebnisformen mit dem Bereich der Künste identifiziert werden und von dieser Warte aus, die Kunst gleichsam aus der Beschaffenheit der Möglichkeitsräume erklären will, in denen allein sie stattfinden kann, wie das etwa geschieht, wenn David Toop die immersiven Aspekte des Musikhörens für das schlechthinnige Wesen des Musikalischen erklärt oder David Summers das Erleben von Räumen für das Eigentliche aller visuell erfahrbaren Künste hält, was sich dann übers Taktile bis hin zu Abhandlungen über die Geschmacksknospen-Wirklichkeit bei der wörtlich genommenen »Kochkunst«, ja bis zur Bestreitung der Zuständigkeit begrifflicher Apparate selbst noch im Bezirk der Literatur weitertreiben läßt, da doch Sprache eigentlich nicht semantisch-syntaktisch, sondern nur als »gesamtsinnliches Artikulationssystem« verstehbar sei und man das Sprachliche nach dem »pictorial turn« oder »iconic turn«, oder wie immer die Sinnlichkeit suggerierenden Transzendentaltrivialitäten sonst heißen, eigentlich im Bildlichen oder Handlungstheoretischen oder Akustischen oder sonst etwas aufgehen lassen solle – stets ist der versprochene Fortschritt einer der angeblichen größeren Nähe der einschlägigen Diskurse zu den kunstspezifischen Gegenständen, und stets ist dieses Versprechen sowenig einzulösen wie beim Schritt vom Neukantianismus zur Lebensphilosophie, weil das Dazulernen gegenüber genuin ästhetischer Reflexion, das diese Theorien versprechen, in nichts Vernünftigerem besteht als dem wortreichen Vergessen dessen, was die genuin ästhetische Reflexion weiß, nämlich daß man den Dingen, Prozessen und Handlungen, die zu den Künsten zählen, durch Denken und Sprechen sowenig näher kommen kann wie nur je irgendeinem Ding, Prozeß, irgendeiner Handlung, die nicht schon selbst gedanklicher oder sprachlicher Art sind. Statt von einer Tautologie aus zu folgern und zu argumentieren, folgern und argumentieren diese Lehren damit allerdings immerhin von einer Paradoxie aus, und das ist immerhin lehrreich (etwa so, wie man eine Einbahnstraße immerhin in der richtigen Richtung befahren kann, während man bei einer Sackgasse nur entweder zum Stehen kommt oder wieder heraus muß). Ob einige dieser neuen Unternehmungen am Ende Sackgassen und Einbahnstraßen zugleich sind, wird die Zeit zeigen; einstweilen erinnern sie an ältere Versuche, nicht das Begriffliche am Ästhetischen, aber doch wenigstens das Ästhetische an der Kunst loszuwerden, von Nietzsches Bemühungen, es in vitalistischen Werturteilen über Kraft oder Dekadenz aufzuspalten, bis zum Sozialistischen Realismus: Man nimmt Drogen, um gewisse Emotionen und deren leidvolle Anlässe loszuwerden, und erreicht nur ihre Verstärkung.

 

Nicht nur die Analyse und (vergleichende wie unterscheidende) Bewertung (»Kritik«) einzelner Dinge, Prozesse, Sachverhalte der Kunst, sondern auch die Makrogeschichte der Künste insgesamt lebt, da Kunst den Raum der Ursachen und Wirkungen mit dem der Gründe und Folgerungen auf kunstspezifische Art verbindet, die wir in diesem Kapitel entfalten wollen, vom Verweis des Vorhandenen aufs Vergangene oder Zukünftige, des Anwesenden aufs Abwesende – die begrifflich-historische Entscheidung, »ob etwas Kunst ist«, hängt so nicht davon ab, ob es als Kunst gedacht war, sondern ob sich entsprechende Spuren und Verweise daran plausibel aufweisen lassen – Gegenstände, Texte, Verhaltensweisen aus Epochen oder Kulturkreisen, die nichts kannten oder kennen, was Luhmann ein »Kunstsystem« nennen würde, können von unserer Epoche, unserem Kulturkreis dennoch so eingeordnet werden, ohne daß dabei irgendeine Unwahrheit geäußert würde: Als nahezu ideales Beispiel für etwas, das sich über Sprechakte verändern läßt und also in unserer nicht binären, sondern dialektischen Unterscheidung von Natur und Gesellschaft »gesellschaftliche Natur« hat, kann ein sakraler Gegenstand in einem Rezeptionskontext, der den religiösen Zweck nicht mehr setzt, dennoch als von diesem Zweck geprägt, auf ihn hin geschaffen gelesen werden, und die fortbestehende Zweckhaftigkeit als blanke, als unmarkierte erst die oben erläuterten Kunsteigenschaften (»Was Kunst ist, hat den Zweck, Zwecke an sich zu ziehen, und erreicht den unter anderem dadurch, daß es sich dagegen sperrt, auf einen festgelegt zu werden«). Bestimmte Dinge waren einmal keine Kunst, jetzt sind sie’s, später werden sie es vielleicht nicht mehr sein, und die retrospektive Konstruktion von Kunsttatsachen kennt sogar, wie in der Natur die Evolution, Übergangsformen zwischen Nichtkunst und Kunst – etwa synchron das Kunstgewerbe oder einige Artefakte der Kulturindustrie, diachron Schöpfungen aus Zeiten, in der die Kunst sich am Sakralen bereits zeigte, eine autonome soziale Kunstsphäre aber noch nicht bestand – die Pariser Kathedrale Notre-Dame ist damit so etwas wie der Archaeopteryx: kein richtiger Saurier mehr, noch kein richtiger Vogel, kein reines religiöses Kultgebäude mehr, noch kein reines architektonisches Kunstwerk. Duchamps Lektion, daß alles Kunst sein könne, die Beuyssche Lehre, daß alle Künstler sein können, die Warholsche Demonstration des Nichtantagonistischen, sondern von wechselseitiger Durchdringung, Hervorbringung und Reflexion von Genie und Kulturindustrie mögen historisch einem ähnlichen Übergangsstadium angehören; ob die Welt der Künste sich in sich selbst weiter ausdifferenzieren wird nach Kriterien, die der operativen Differenz zwischen Kunst und Nichtkunst auf irgendeine heute erst ahnbare Weise ähneln, läßt sich womöglich begrifflich leichter erkunden als künstlerisch. Daß allerdings nicht nur eine andere Begrifflichkeit, sondern auch eine andere Wahrnehmung die Rede über Kunst und die Reflexion darauf hinreichend verändern können, daß die heute gebräuchlichen Kategorien nicht mehr greifen, ist selbst ein durchaus nicht auf Spekulation angewiesener, sondern kunstfähiger Gedanke; die Science-fiction hat sich über Künste nach der Kunst, nichtmenschliche – also etwa außerirdische oder denkend maschinelle – Künste einiges einfallen lassen, von Fritz Leibers Roboterdichtung in The Silver Eggheads bis zu Mark Gestons Zeitmalerei in Mirror to the Sky, und daß die einmal voneinander geschiedenen Handlungsräume der Künste und des Spiels infolge der technisch-maschinellen Medienentwicklung neue Verbindungen eingehen, mag der Kulturindustrie eine Zukunft bescheren, die nicht mehr sehr verschieden ist von der Welt, die Hesse im Glasperlenspiel geschildert hat (ob man sich darauf freuen oder davor gruseln sollte, ist eine andere Frage, die aber wiederum sowohl begrifflich wie künstlerisch gestellt und beantwortet werden kann).

II.
Maßgaben, Mottenlicht, Metaphysik

Kunstschaffende selbst reden nicht seltener von Technik als die Restmenschheit. Ganz einig sind sich die beiden Gruppen allerdings nicht darin, was darunter zu verstehen sei; manchmal entsteht der Eindruck, die Kunstschaffenden wüßten ein bißchen zu gut, daß ihnen das Wort »techne« gehörte, bevor die Theodolitenbastler, Mobiltelefondesignerinnen und Brückenbauer Anspruch darauf erhoben, und der Besitzendenstolz, den sie ahnen lassen, schmeckt ein bißchen nach dem Ahnenraunen, das Heideggers etymologische Archäologie einfangen wollte (immerhin sagen sie »Technik« und meiden den Dünkelnonsens »Technologie«). Daß Aristoteles in der Nikomachischen Ethik die Unterscheidung zwischen techne, dem geschickten und zweckgerichteten Tun, und Praxis, dem Tun an sich, entlang derselben permeablen Linie zieht, die wir oben nachgezogen haben, wollen wir indes nicht wie Heidegger seine wörtlichen Übersetzungen aus der antiken Philosophensprache im Sinne eines Autoritätsbeweises herbeizitieren, sondern nur als historisch-begrifflichen Hinweis darauf, daß Begriffsarbeit in Zivilisationen, deren Arbeitsteiligkeit genügend Muße produziert, solche Begriffsarbeit und damit eine philosophische community zu ermöglichen (im griechischen Fall auf der Basis der Sklaverei, das sei nie vergessen), aus funktionalen Gründen adaptiver Komplexität zu dieser Linie neigen können, ähnlich wie etwa die Unterscheidung zwischen Nomos und Physis bei den Sophisten unserem Gebrauch der Natur/Kultur-Differenz ähnelt, aber den Naturrechtsbegriff auf der Seite der Physis expliziert, während wir sie als Implex der Einheit der Differenz von Nomos und Physis selbst ansehen (wissenssoziologisch könnte man sagen: Das dürfen wir, weil wir zwar in einer Klassengesellschaft leben, denken und schreiben, die Zurechnung von Hand- und Geistesarbeit, erkennender und normativer, naturbearbeitender und kultureller Arbeit aber in der Sozietät, die uns hervorgebracht und geprägt hat, nicht so rigide binär organisiert ist wie in einer Sklavenhaltergesellschaft oder auch einer feudalen – der bürgerlichen Emanzipation und dem Kapitalverhältnis sei Dank).

 

Lasuren und Impasto sind »Technik«, jedenfalls für die Künstlerin, sensorische nodes von Computernetzwerken, Gensequenzierung und -rekombination aber auch, denn es lassen sich damit (wie dies der Künstler Eduardo Kac getan, das heißt: veranlaßt hat) transgene, bei richtiger Beleuchtung grünlich strahlende Hasen schaffen, die »etwas aussagen«, oder »lokative Kunstwerke«, die Ubicomp-gestützte, dynamisierte Variante der Land Art sozusagen, bei der irgendwelche Objekte, mit Transceivern bestückt und mit GPS-Satelliten verlinkt, herumgeschoben oder anderweitig bewegt werden, so daß relationale Einrichtungs- oder Freilandskulpturen bzw. -choreographien entstehen.

Wo die Computertechniker von Skalierbarkeit reden, spricht die Kunst von Disziplinen, Gattungen, Werken, Prozessen und jedenfalls »Maßgaben« (Hacks), die sie aber nicht einfach erfüllen, sondern mit ihrer techne (die der einschlägige kritische und historische Diskurs heute, Aristoteles zum Trotz, Praxis nennt) immer wieder neu setzen muß, um sie, wenn sie denn der Verpflichtung zum novum gerecht werden will, an das sie ihr Schicksal gebunden hat, seit sie autonom wurde, im nächsten Schritt, der dem Material, das sie selbst geschaffen hat, ins darin sichtbare Nochnichtseiende folgt und das Nichtmehrseiende aufhebt, schon wieder zu überschreiten, noch bevor die Kritik oder sonst eine Sorte Rezension ihr noch recht in die jeweils aktuelle Immanenz jener Maßgaben gefolgt ist.

Was an technischen (im Alltags- wie im künstlerischen Verständnis dieses Adjektivs) Mitteln (technischen im Alltagsverständnis wie im künstlerischen) in den Künsten zugelassen oder gar verlangt wird, hängt nicht nur von den sogenannten Darstellungsabsichten ab, sondern spätestens ab dem von Duchamp und anderen Kunstaufhebern explizit gemachten Epochenschritt, der das von der Kunst bereits geschaffene seinerseits für kunstfähiges Material erkannt hat, oft auch von der Absicht, solcherlei Vorsätze gerade nicht aufkommen zu lassen (das einschlägige Stichwort heißt »Anti-Expressivität«, gemeint ist der Versuch, künstlerisch Äquidistanz zum Woher und Wohin des künstlerischen Moments selbst zu halten, also das zu tun, was wir oben als das Offenhalten für Zwecke mittels ihrer Negation beschrieben haben).

 

Außer auf die Maßgaben, das heißt den Anschluß an etwas Allgemeines und die Vergleichbarkeit damit, verlangen für die im engeren Sinn künstlerische techne auch die internen Maß- und Mischungsverhältnisse der Kunstmittel Beachtung, ihr Reichtum, ihre Armut, und da ist es nicht nur nicht dasselbe, wenn zwei dasselbe tun, sondern sogar dann, wenn eine oder einer zweimal dasselbe tut und sich dennoch verschätzt.

Der amerikanische Schriftsteller Mark Z. Danielewski, der sich um Anmutung und Gestaltung seiner in Typographie, Umschlägen, Internet-Vermarktung und kanonischen Kontext seiner Werke mindestens so viele und so präzise Gedanken macht wie Kunstschaffende aus dem visuellen Bereich um ihre Kataloge und Künstlerbücher, hat in kurzem zeitlichen Abstand zwei gleich reiche, gleich komplexe, gleich avantgardistische Bücher geschrieben, bei denen es beide Male um Totalitäten sensu Hegel oder Lukács geht; viel mehr kann man in die Romanform, die einiges aushält, nicht hineinpacken, als er das in House of Leaves (2000) und Only Revolutions (2006) getan hat, und obwohl also äußerlich die Maßgaben des Genres »avantgardistisches Monsterbuch«, gesetzt in der Hochmoderne von Bänden wie Gertrude Steins The Making of Americans, Pounds Cantos oder Joyces Finnegans Wake, in geradezu vorbildlicher Weise erfüllt waren, erzielte House of Leaves bei Kritik und Publikum, in Amerika wie im Ausland, schönste Erfolge, während Only Revolutions nach wenigen Leuchtpulsen vom Radar verschwand – der erste Roman, den wir im achten Kapitel schon kurz kennengelernt haben, ist eine neo-gothic novel über ein Haus, das innen größer ist als außen, ein Buch, in dem der Durchgang zum gesammelten Weltwissen des Verfassers über Raum und Zeit als kantische Kategorien der Anschauung erschlossen wird und »Gesellschaft« als theologisches Szenario vorkommt, in dem »die anderen« Hölle, Fegefeuer und Paradies sind; der zweite dagegen erzählt gleichzeitig die Liebesgeschichte zweier niemals alternder, am Ende jedoch todgeweihter archetypischer Teenager, des amerikanischen zwanzigsten Jahrhunderts, der Idee und Wirklichkeit des Werdens im Unterschied zum Sein und dreitausend anderer Dinge, die eine Geschichte haben oder haben sollten. Das erste Buch bietet so ein überschaubares Geschehen in überschaubaren Zeitrelationen, das zweite ein überschaubares, das der Zeit selbst enthoben sein will. Auch im ersten Buch kommt »alles« vor, vermittelt aber ist dieses alles über eine Form, die sich klein macht, im zweiten ist alles über alles vermittelt – an den sprachlichen Einzelschönheiten kann man den Unterschied sogar quantifizieren: Das zweite, erfolglose Buch hat mehr davon, nur sind es eben fürs Empfinden (und Kritisieren) zu viele, weil sie sich nicht an etwas schmiegen, dem man »folgen« kann (oder will), wer immer »man« dann im einzelnen ist.

 

Die Lehre der kleinen Differenz zwischen jenen beiden großen Entwürfen und ihren Verwirklichungen ist nicht, daß Danielewski in seiner Zweiten Symphonie die ökonomischen Aspekte der techne etwa hätte vermissen lassen, sondern daß man beim Kunstmachen nie vergessen (und das Publikum nie vergessen lassen) darf, daß die Künste nicht die Welt oder Kenntnisse von ihr vermitteln, sondern Haltungen zur Welt, über Auswahl und Inbeziehungsetzen von Weltelementen, die so zueinander gruppiert werden, daß in ihrer Anordnung diese Haltung (also etwas Normatives, ein assortment epistemologischer Vorlieben) sinnlich (im Visuellen sagen sie gern: anschaulich) erfahrbar wird.

 

Hier liegt auch die Gefahrenquelle im Konzept des »Gesamtkunstwerks«, gegen das sich deshalb Leute, die das Klassische schätzen, zu allen Zeiten, die derartige Debatten überhaupt erlaubten, ausgesprochen haben, mitunter scharf und streng: Jedes Kunstwerk ist ohnehin ein Gesamtkunstwerk nach seiner Gerichtetheit auf reine Bedeutsamkeit, jedes Kunstwerk meint das Gesamte einer spezifischen Art und Weise, die Welt zu erfahren. Wer in der Neuzeit überhaupt je die künstlerische techne geschätzt hat, schließt sich in diesem Punkt Aristoteles an – es mag eine radikale Liberale wie Ayn Rand sein, die nicht müde wurde zu wiederholen, Kunst sei »the selective re-creation of reality according to an artists metaphysical value-judgments« (Zwischenrufe sind überflüssig, man muß nicht lange klären, was das denn sei, reality, metaphysics oder value, mit Wittgenstein und der ordinary language philosophy darf man hier einfach darauf verweisen, daß diese Begriffe im Gebrauch sind und man ihren Gebrauch kennen kann), oder ein Faschist wie Ezra Pound, der empfiehlt, »es neu zu machen«, und dazu erklärt, »es« sei eben alles, oder ein überzeugter Kommunist wie Peter Hacks, der lehrte: »In der Kunst hören die Dinge auf, zu sein, und fangen an, zu bedeuten.« Der von Hacks für die kognitive Möglichkeitsbedingung alles Künstlerischen gewählte Ausdruck »Haltungen« gefällt uns eine Spur besser als Rands »metaphysical value judgments«, aber im Bereich der Benennung soll es gern geben, was sich auch sonst aus Kunstfragen schwer austreiben läßt: Geschmacksentscheidungen.

 

Kunst behauptet Welten sinnlich, um ihre sonstigen, spezifischen Behauptungen weltlich zu versinnlichen – der Surrealismus hat nicht deshalb gezündet, weil da irgendwelche Leute ihren Mitmenschen Träume erzählten oder aufmalten, was jenen herzlich gleichgültig gewesen wäre, sondern weil sich diese Kunst aufführte, als böte sie tatsächliche modale Fenster für den Einblick in eine Welt, die wirklich ein Traum war. »Eine Welt« aber ist eben nichts Subjektives oder Zufälliges, und um die von so einem Weltgesamten gehaltene Objektivität des Traumgeschehens, das sonst subjektiv, beliebig, uninteressant wäre, geht es bei Picabia, Breton, Buñuel.

Ähnlich erregten Konstruktivismus, Impressionismus oder Kubismus nicht deswegen ihre jeweiligen Öffentlichkeiten, weil da Farben oder Formen plötzlich in nie gekannter, aber radikal vom Eigensinn der Kunstschaffenden diktierter Weise antimimetisch, antireferentiell, antirealistisch eingesetzt wurden, sondern weil die Malerei, einmal in Mittel wie Farben und Formen zerlegt, in ihren inneren Maßverhältnissen neu kalibriert werden konnte, um eine Welt zu zeigen, die kubistisch, impressionistisch, konstruktivistisch konstituiert war. Dieser Weg über die Bearbeitung isolierter Arbeitsmittel, Wiederholung des Schrittes von der Alltagserfahrung zur künstlerischen im Binnenraum der Kunst selbst, war in der entscheidenden Phase des Modernismus wohl der moderne Weg schlechthin, bei jüngeren Künsten als der Malerei, etwa dem Kino oder der Rockmusik, dauerte es dann unter der Fuchtel allgemeiner kapitalistischer Zeitregimes mitunter nur noch ein Menschenalter, bis dieser Weg eröffnet wurde, Albert Aylers berühmter Satz von der Musik, die nicht aus Noten, sondern aus Klängen bestehe, bezeichnet ebenso einen solchen Schritt (der sich kaum noch daran erinnert, daß schon die Musik aus Noten gegenüber der nicht vom Gedicht getrennten Musik einer war, der sich ihm vergleichen läßt) wie die Geburt der modernen Lyrik aus der Einsicht, daß man Gedichte nicht aus Stimmungen, nicht einmal aus Sätzen, sondern aus Worten (und bei Dada dann: Silben) macht. In New York, London, Tokio und Berlin wurde in den Achtzigern des letzten Jahrhunderts die Rockmusik gerade zu dem Zeitpunkt zunächst auf ihre Effekte reduziert und dann als andere Rockmusik neu erfunden, deren Zeit-, Rhythmus- und Raumerleben sich von demjenigen der Welt, die in den Fünfzigern, Sechzigern und Siebzigern »Rock« oder ähnlich geheißen hatte, radikal unterschied, als mit Hip Hop und Techno bereits die nächste Phase zu sich zum Kommen begann, die mit Synthese, Sampling, auch Lyrik ihre eigenen Radikalisierungen ins Werk setzte. Wenn Popmusik als etwas gedacht werden kann, das aus Geräuschmonaden zusammengesetzt ist, die eine Welt des Glücks suggerieren (eine spezifisch soziale, etwa tribale, sexuelle …), dann kann man diese Bausteine aus den damit bislang aufgemachten Welten herausbrechen und neu arrangieren, um andere Welten herzustellen, oder »eine Ebene tiefer« die klangerzeugenden technischen Dispositive der Musikapparate selbst anders zueinander in Beziehung setzen, als das vor dem elektroakustischen Digitalismus möglich war. Visuelles, Akustisches, Statisches, Bewegtes, Sprachliches, Nichtsprachliches, Syntaktisches, Semantisches, Grammatisches, Gesamtkunstwerk, Einzelmomente: Wir scheinen schon vom Film zu sprechen; also sollten wir das jetzt auch explizit tun.

III.
Love Song for Stan Brakhage: Ein mediengeschichtlicher Exkurs

Es ist, als würde sichtbar gemacht, was ein Stern spürt, wenn er über sein Leuchten nachdenkt: Schwarz auf knochenweiß liest man »Mothlight«, dann ahnt die Netzhaut pfefferminzgrüne Pflanzenzacken. Unruhige Äderchen legen sich auf Zimtlandschaften, eine safranrote Maserung weicht zurück vor Hirschkäfern, die ihre Geweihbäume ineinanderschieben, bis sich blaue Lider überm Anblick schließen. Ein Blinzeln. Wir sehen Fluchtlinienschrapnell, wie in Anime-Action-Szenen; alles saust weg in eine Ferne, in der das Pulsieren des Bildrhythmus zum Punkt zusammenschrumpft. Ein krikelkrakeliger Schriftzug erscheint: »By Brakhage«, damit wir wissen, wer der Künstler war, der uns da eben mit Schönheit überfallen und entrückt hat. Noch ein Schauder: Diesmal weiß auf schwarz, »Nightmusic« heißt das nächste Werk. Wie Einfälle platzen Rauchgelbwolken in Rubinhohlspiegel. Kobaltflocken fressen Tintentierchen und spucken lila Windbüschel aus. Wieder eine Überraschung – diesmal ist die Schrift nicht handgeschrieben, sondern in nüchterner Typographie gehalten, »Lovesong«. Der Schock des Erwachens, der den Helden Neo im ersten »Matrix«-Film durchfährt, zwickt uns in alle Sinne; das Sichtbare weicht uns aus, eine Art Bienenstockwabenwölbung, ein künstliches Zelleninneres. Schließlich reißt der Kokon auf, und Heidelbeerhände werfen mit Aquarellfetzen. Dunkle Tropfen aus Ölglanz kreuzen horizontale Regenatmosphären. Was ist das?

 

Das sind drei Kurzfilme, die der 1933 geborene, 2003 gestorbene amerikanische Künstler Stan Brakhage geschaffen hat.

Die Stücke, deren Wirkung wir zu beschreiben versucht haben, sind allesamt ohne Kamera hergestellt, unter direkter Einwirkung von Manipulationstechniken auf das Filmmaterial: »Mothlight« als Collage von biotischem Krimskrams (zum Beispiel Grashalmen und Mottenflügeln), »Nightmusic« und »Lovesong« als Malerei im Bildrechteck. Die Filme führen uns in Wälder, Gebüsch, vegetabile Existenzweisen. Anders als das sonst bei der Naturfilmerei gern in den Mittelpunkt gestellte Tierleben ist diese Wachstumswelt stumm. Mit Ton hat Brakhage selten gearbeitet; er fand, das lenke nur ab.

Wie in den beschriebenen Wundern blaues Laub von rotem Dorn durchstochen wird, wie hier Ranken sich ringeln, Keime aufgehen, Verzweigungen entlang Sproßachsen wuchern, gestaltlose Botanik zittert, das alles erinnert Zuschauer heute vielleicht an den irrwilden, phytochromen und phototropen Blütenübermut von James Camerons Avatar. Auf den nicht unwichtigen Unterschied aber muß hingewiesen werden, daß Cameron uns eine Welt, die es nie gegeben hat, mit Menschenaugen zeigen will, die diese ausgedachte Welt so naturalistisch wie möglich wahrnehmen (am besten gleich dreidimensional), während Brakhage uns umgekehrt eine durchaus gewöhnliche Welt aus Wasser, Grashalmen und Staub im Morgenfenster, die es bekanntlich wirklich gibt und die wir alle kennen, vor ein paar Augen führt, wie man sie noch nie besessen hat. Camerons Welt ist unwirklich, sein Blick naturalistisch; Brakhages Welt hingegen ist die gegebene, sein Blick jedoch antinaturalistisch.

 

Seit es Filme überhaupt gibt, wird darin mit Tricks gearbeitet, auf die man hereinfallen wollen muß, um genießen zu können, wie hier wirkliche und erfundene Welten und Blicke die Überführung des Naturschönen ins Kunstschöne erlauben und umgekehrt. Als Georges Méliès kurz nach der vorletzten Jahrhundertwende »Le voyage dans la lune« und »Le voyage à travers l’impossible« drehte und damit ein visuelles Traumidiom zeugte, das, von Frankreich ausgehend, in Deutschland (»Metropolis«, 1926), Rußland (»Aelita«, 1924) und bald darauf bis heute in Amerika die weitestreichenden Folgen hatte, wurde eine Weise, das Nichtvorhandene unmittelbar als Vorhandenes hinzustellen, kulturfähig, die man zu Unrecht unter die »Illusionen« rechnet. Es geht dabei nämlich nicht darum, daß Leute etwa glauben, sie führen wirklich zum Mond oder befänden sich mitten unter schlaksigen para-indianischen Katzenschlümpfen auf dem Planeten Pandora (darum geht es nur, soweit der Film, außer Kunst, immer auch Rummelplatzattraktion war, ist und sein wird). Sinn und Zweck der Veranstaltung ist vielmehr, wie bei jeder Kunst, das Unternehmen, Haltungen (mit einer Filmmetapher: Einstellungen) zur wirklichen Welt mitzuteilen, indem man bestimmte, mit Absicht aus dieser wirklichen Welt herausgebrochene Elemente so gruppiert, daß dabei der Anschein einer Zweitschöpfung, einer Parallelwelt herauskommt, der man ansieht, daß sie von einer Intelligenz geschaffen wurde, die ebenjene Haltungen einnimmt. Das technisch Interessante ist hierbei stets die Frage: Was kann das überhaupt sein, »Elemente der wirklichen Welt«? Woraus besteht die denn?

 

Die Antwort darauf hat sich in der mehrtausendjährigen Geschichte der Künste vielfältig verändert. Was für Pixel man nimmt, welche Auflösung, welche Pixeldichte möglich scheint, das alles ist ständigen Schwankungen, sozialen und ästhetischen Gezeitenkräften unterworfen.

Wie das Fernrohr weit Entferntes und das Mikroskop winzig Kleines erstmals sichtbar machte, so erlaubte es die Erfindung der Perspektivmalerei, des Romans, der Oper, der Photographie et cetera, Dinge in den Blick zu nehmen, die vorher unterm Radar der Kunst hindurchflogen oder über ihren Verstand gingen. Die Maler der Renaissance dachten, es ginge um Anatomie und Räumlichkeiten, die der Moderne, es ginge um Farben und Formen. Musiker warfen sich zunächst auf Stimmungen, in Dur oder Moll kodiert, später dann auf die zwölf Töne, das Angebot der Polyrhythmik, endlich die Maschinen der Klangerzeugung selbst. Marcel Duchamp fand, man könne eigentlich alles herausbrechen, was man in der Welt findet; und wer dachte, danach geht’s nicht weiter, mußte mit der Entwicklung der konzeptuellen Künste erleben, daß man auch die verschiedenen Akte des Herausbrechens selbst wiederum zu Elementen der (Kunst-)Welt erklären, aus ihr isolieren und zu neuen Kunstwelten gruppieren kann. Was also ist »Material«? Das kommt immer auf die Künste selber an.

Stan Brakhage schien eingangs zu denken, sein Material seien Naturschönheiten wie Geburt, Küsse, Koitus, Tod und Verwesung. Dann meinte er, Maya Deren, die Mutter der filmischen Avantgarde, die er sehr bewundert hat, sei auf der richtigen Spur gewesen, als sie mit Schneidetechniken dem Thema Zeit auf den Leib rückte (»At Land«, 1944, »Meshes of the Afternoon«, 1943-59) und mit Kamerahaltungen die Bewegung des menschlichen Körpers in tänzerischem wie kriegerischem Ausdruck einfing (»A Study in Choreography for Camera«, 1945, »Ritual in Transfigured Time«, 1945-1946). Brakhage, Genie des Wesentlichen, zog von dieser bei Deren gezeigten Bewegung folgerichtig noch den eigentlich beliebigen, konkreten bewegten Körper selbst ab und zeigte bald darauf nur noch, was Bewegung, Entwicklung, Veränderung selbst sind, in synästhetischem Flimmern.

Neben der Bewegung, der Entwicklung, der Farbe, der Stille und all den anderen ineinanderwirkenden, auseinander hervorgehenden Eigenschaften der Filmkunst, die er wie wenige andere verstanden und verwirklicht hat, gehört heute, auf dem Stand von DVD und YouTube, auch die nie vorher größere Reichweite und damit Erreichbarkeit der bewegten Bilder, ihr Verfügbarsein für Kopie und Bearbeitung, zum zeitgemäßen Begriff von »Material«, das bearbeitet werden kann.

Material, diese Behauptung sollte der Exkurs in Brakhages Werk bebildern, ist das, woran techne vollzogen werden kann; oder als Implexbeziehung: Künstlerisches Material ist alles, was techne (jemals in der Geschichte der Künste) so behandelt (hat), daß seine Eignung, bedeutungstragender Weltausschnitt zu sein und eine unwirkliche Welt zu bedeuten, sinnliche Wirklichkeit wird.

IV.
Wie man Bedeutung behauptet

Großer systematischer Ehrgeiz könnte dazu inspirieren, die Kunsttechniken zu katalogisieren, wie Freud die Traumtechniken (Verschiebung, Verdichtung, Verleugnung et cetera) katalogisiert hat: sammeln und verstreuen, ausschneiden und einfügen, Anschlüsse herstellen und durch Rahmung wieder abknapsen, Zeit und Raum verändern durch gezielte Veränderung von Sinnesmarkierungen und Zeit und Raum. Das Inventar, der Maschinenpark, fortsetzbar sicher um vieles und Schönstes, könnte stützen, aber nicht allein ausmachen, was wir von den Künsten sagen wollen. Soweit man das Ästhetik nennen kann, soweit es Produktions- und Wirkungsästhetik als miteinander vermittelte Kategoriennetze zur Erscheinung bringen, ihre Implikaturen explizieren will, kommt es dabei nicht auf diese Instrumente, sondern auf dreierlei Abstrakta an:

 

1. Kunst arbeitet, womit immer sonst, jedenfalls mit Reizen, und Reize bedingen menschliche Aktivität (und sei’s nur niedrigenergetische: »etwas empfinden«, »nachdenken«). Wir nehmen das, so allgemein es klingt, durchaus politisch, als Voraussetzung für nicht allein ästhetische, sondern überhaupt menschliche Geschichte, damit auch für Fortschritt: Das Aktivitätsniveau heraufzusetzen ist, wohin es auch führen mag, zunächst einmal im Interesse aller, welche die Welt für veränderungswürdig halten (Wallace Stevens, kein Kommunist, spendierte dem Kommunismus einmal das mehrdeutige Lob, er sei jedenfalls ein Unternehmen zur Förderung der menschlichen Aufmerksamkeit). Reize zu setzen, sie irgendwo zu situieren, ist dabei nach unserem Verständnis der Künste in diesen nicht so sehr Eröffnungszug einer bestimmten Kommunikationsleistung als vielmehr eine zunächst einmal sich selbst genügende und genießende Ausnutzung der permanenten low-level-Kommunikationserwartung des Menschenhirns (das Menschliche, auf dem wir hier herumreiten, ist kein Metaphysikum. Es meint einfach die statistische Wahrheit, daß ein Hund, den man durchs Museum laufen läßt, jedenfalls seltener vor einem prächtigen Tafelbild stehenbleibt, um es zu betrachten, als ein Mensch und den Unterschied zwischen einer mit Bedacht irgendwo aufgestellten Holzskulptur einerseits, einem zufällig dahin geratenen Baum andererseits nicht besonders beachtenswert findet). Das Hirn ist ein Apparat zum Erkennen, Unterscheiden, Vergleichen und Speichern von Mustern, der seine spezifischen Leistungsschwächen hat und beispielsweise auf Sensorisches angewiesen ist, welches er sonst (weil es nun mal sein Job ist, Daten abzugleichen) zur Not selbst spinnt: Sensorische Deprivation führt allgemein zu Halluzinationen, ein berühmtes Einzelsinnbeispiel sind die Formen und manchmal Farben, die man in völliger Dunkelheit sieht. Sozial macht sich dies zum Beispiel in etwas bemerkbar, was Redakteurinnen in den Medien als »Freie-Mitarbeiter-Syndrom« kennen und fürchten: Kommuniziert man nicht mit den unterbezahlten Abhängigen, die nicht in den Büros der Institutionen (Sender, Blätter, Websites), die sie beliefern, verkehren, teilt man ihnen nicht jeden Schritt mit und läßt sie auch nur ein bißchen im Unklaren darüber, was mit ihrem Artikel, ihrem Foto, ihrer Zeichnung, ihrem Soundfile geschieht (und oft genug läßt es sich nun mal nicht vermeiden, Funkstille zu halten, weil die Arbeitsabläufe und Zeitverhältnisse an solchen Orten ständig Unschärfen, Verzögerungen et cetera hervorbringen), dann geht im Verstand auch der Gutwilligsten die Suche nach in der Sache begründeten Anlässen fürs Warten los – was hat man da gegen mich, gegen meine Arbeit, wer verhindert da was, wo und wann habe ich etwas falsch gemacht? Der normale menschliche Schlendrian oder einer von zehntausend denkbaren Wechselfällen: Das können die Gründe nicht sein; das Hirn funktioniert nicht bayesianisch, es sucht nach Mikrokausalitäten und Strukturen, was mir im Sozialen geschieht, denkt das Individuum, muß nicht nur einen Grund haben, sondern auch ein anderes Individuum oder mehrere als Verursachende. Die Kunst nutzt das für eine Art unmarkierter Kommunikation aus, man verlängert selbst bei aleatorisch zustande gekommenen, unsignierten oder anders nichtsubjektförmig entstandenen Sachen gleichsam intuitiv zu: Das soll mir etwas sagen, das ist gemacht worden, damit ich dies oder jenes denke oder empfinde, das verweist auf etwas, das erwartet von mir Erwartungen. Die Künste leisten auf Reiz-Reaktions-Ebene das, was diverse Sekten für ihre Meditations- und anderen Psychotechniken behaupten: Nutzung der ungenutzten Teile des Gehirns, Ansprache an sie. Das Bewußtsein wird dadurch zwar nicht, wie die Phrase sagt, »erweitert«, dafür aber wenigstens nicht so arg unterfordert wie sonst – schon das entbindet eine kunstspezifische Form von jouissance, welche die Psychoanalyse ganz richtig »Funktionslust« nennt.

 

2. Kunsterfahrungen unterminieren, wenn man auf sie reflektiert, in sehr grundsätzlicher Weise den »Mythos des Subjektiven« (Davidson), das heißt, sie widersprechen dem Glauben, das, was ich sinnlich erfahre, sei mir irgendwie unmittelbarer gegeben als das, was irgendwo draußen wirklich der Fall ist – sie sind, wenn gestattet ist, den Heideggerschen Ausdruck positiv zu wenden, reichhaltig uneigentlich, weil man, wenn man sie macht, a) nicht denken muß: »Das ist x«, sondern b) denken darf: »Das meint x« – selbst wenn »x« die Verweigerung der Mitteilung wäre, die Sprachpragmatik hat nämlich recht, »man« (also auch die Kunstschaffenden) kann nicht nicht kommunizieren. Aus beidem folgt, daß das, was da gesagt wird, mich, der es erfährt, nicht in der Weise betrifft, in der meine Erfahrungen mich eigentlich betreffen sollten – es ist »nicht wirklich«. Das einfachste und zugleich schlagendste Beispiel für Tiefe und Reichweite dieses Umstands sind Leidensdarstellungen oder überhaupt Unangenehmes. Die musikalische Dissonanz ist selbst dann, wenn sie Ausdruckscharakter und Mitteilungswert hat, ja Wahrheitswert haben soll wie eine Proposition, etwas anderes als ein erlebtes auditorisch-kognitives Trauma; aus der Aufführung von Schönbergs Ein Überlebender aus Warschau kann ich mich verabschieden, wenn es mir zu nahe geht, aus der Erfahrung, ein Überlebender aus Warschau zu sein, kann ich das ohne Einbuße an identitätskonstitutiven Erinnerungen nicht; das Bild »Guernica« ist ein Bild, keine bombardierte spanische Stadt. Aber auch das Blau eines Bildes von Klein ist nicht das Blau einer Physis, denn bei letzterem kann ich, wenn ich keine konsequente deterministische Theistin (und sogar Fatalistin) bin, nicht fragen: Was ist damit gewollt, gemeint? – bei Klein schon. »Was will uns der Dichter damit sagen?«, läßt sich nur fragen, wo alle davon ausgehen können, daß tatsächlich etwas gesagt, nicht nur etwas gemacht (oder gar: nur etwas passiert) ist. Aliquid stat pro aliquo: Allen saussureanischen Trunkenheiten des letzten Jahrhunderts zum Trotz muß etwas natürlich zunächst einmal etwas sein, bevor es für ein anderes stehen kann, dann aber geht es sofort Implexbeziehungen ein und errichtet selbst welche, die Vermessungsversuche wie den alten Augenmaß-Satz ars longa, vita brevis ins Leben rufen – der allerdings verkehrt ist; die Kunst ist immer kürzer als das Leben, umfaßt es aber, wie das bei Dingen, die innen größer sind als außen, dennoch oft genug mit mehr als hinreichender Vollständigkeit. »Das Leben«: Nun ja, das einzelne der Einzelnen ist wirklich kürzer, aber die Welt in der Zeit geht endlos offen weiter, während die Welt des Romans mit der Lektüre und der Erinnerung daran lebt und stirbt. Prinzipiell ist damit, was immer Umberto Eco dagegen haben mag, auch das längste und breiteste Kunstwerk abgeschlossen, endlich, die Wirklichkeit aber nie (mit den Implexrelationen, die entstehen, wenn die beiden einander juxtaponiert werden, und zwar innerhalb der Künste selber, hat die Moderne ausdauernder gespielt als jede Kunstepoche vor ihr, nicht nur im epischen Gedicht von Leuten wie Zukofsky und Pound), das, als Lebenswerk angelegt, große Geschichtsprozesse in die (Werk-)Schicksale der Verfasser einmanteln sollte. Die Illusion der Offenheit ist freilich erwünscht, sie kommt zustande, wo die Offenheit für Zwecke, von der wir oben gesprochen haben, durch eine möglichst (also niemals: beliebig) große Anzahl von Anschlüssen und möglichen Verweisperspektiven suggeriert wird. Der Wahlspruch derjenigen Literatur, die dies weiß, ist immer Pounds Definition der eigenen und der bewunderten Arbeit als »language charged with meaning to the utmost possible degree«. Das in diesem Kraftfeld leuchtendste Beispiel für die Beziehung zwischen der Uneigentlichkeit der Kunsterfahrung einerseits und der nicht eskamotierbaren Tatsache, daß es sich gleichwohl um Erfahrungen handelt, andererseits ist bekanntlich die Ironie, und zwar beileibe nicht nur die romantische. Im kunstgemäßen Gelingensfall ist ironischer Zeichengebrauch von etwas beseelt, das man auf die Formel »Nicht wörtlich, aber dennoch, ja gerade deshalb todernst gemeint« bringen könnte: Karl Kraus fiel zu Hitler eben doch etwas ein, aber mit dem Satz, der behauptet, es sei nicht so, sagt er etwas, das für alle weiteren Einfälle der unhintergehbare Daseinsgrund ist: daß mit »Hitler« ein Ereignis vorliegt, gegen das »Einfälle« jedenfalls das falsche Antidot sind. Die berühmten »performativen Widerspüche« sind universelle Glieder der Binnenskelette aller Künste, weil ihr Grunderfahrungsmodus, als Erfahrung von etwas, das gar nicht ist, selbst schon einen solchen performativen Widerspruch darstellt (also nicht nur: einer ist, sondern, ganz wörtlich: einen darstellt).

 

3. Kunst ist neben anderem, was sie, wie wir gesehen haben, ist und tut, auch eine Erkenntnisweise, freilich vermittelt durch ein »als ob«, das Gesamte ihrer uneigentlichen Erfahrungsformen: eine Erkenntnis der Welt, die ist, aber nicht der Welt, wie sie ist, wenn auch unter Verwendung von Dingen und Sachverhalten, die sind – Bedeutung generiert man nur aus etwas, das ist, sie ist selbst ein rein innerweltlicher Vorgang. Picabias Losung, daß der Kopf rund sei, damit das Denken die Richtung ändern könne, und die alberne Perspektivistik der Gestaltlehre – mal sieht man eine Vase, mal zwei Menschenköpfe im Profil – verdunkeln beide diesen sehr wichtigen Tatbestand: Man kann mehreres und Verschiedenes sehen, aber es macht einen Unterschied, ob man etwas sieht, das da ist, oder etwas, das man dazudenken muß – zwei Profile, eine Vase, aber wer vor diesem Bild oder einer Kippfigur ausruft: »Das ist doch das rote rotierende Nichts namens Wilfinger Mittwoch!«, hat jedenfalls eine Eigenleistung erbracht. Die Kunst macht sich nichts aus nichts, aber sie kann fast alles aus fast allem (sogar aus Kunst) machen. Dieses »alles für alles« macht auch die Kunstkritik zu etwas, das innen größer ist als außen: Wenn sie wirklich etwas Wichtiges über Kunst sagt, sagt sie immer auch über Dinge Wichtiges, die etwas anderes sind als Kunst, und wer Carl Einstein, Clement Greenberg, Rosalind Krauss, T.J. Clark oder Adorno als Koryphäen des Fachjournalismus sehen will, muß schief gucken. Was Alfred Sohn-Rethel mit seiner maliziösen Bemerkung sagen wollte, Adorno habe eigentlich von Wirtschaft, Politik und ähnlichem nichts verstanden, ausgenommen seine »ästhetischen Provinzen«, in denen er sich ausgekannt habe, versteht man dennoch: Beim Schreiben über Musik hätte er sich wohl nie bei der Sorte Gemeinplätze erwischen lassen, die er zu stark unterbestimmten Begriffsansätzen wie der »verwalteten Welt« in Druck gegeben hat; der Mann, der mehreren Generationen von gesellschaftskritischen, akademisch ausgebildeten Deutschen den Ton vorgab und der zeit seines Wirkens lehrte, man dürfe bei der Kunstbeurteilung und -analyse niemals vom Allgemeinen zum Besonderen schließen, sondern dürfe umgekehrt selbst die höchsten Abstraktionen ästhetischer Theorie nur durch die Eigenbewegung von Konkretionen hindurch gewinnen, redete nicht von Militärischem, nicht von Streiks, Lohnkürzungen, Wahlen, und wenn er die DDR angriff, dann ging es nicht um die Normerhöhungen für Arbeiter vor dem berühmten 17. Juni, sondern um Kunstfreiheit, Gedankenfreiheit, um die Zensur modernistischer Kunst. Und doch: In wenigen Absätzen der Philosophie der Neuen Musik findet sich mehr soziologisch Erhellendes als in manch soziologischer Fachbibliothek; von den Dingen, von denen die Kunst etwas versteht, und das sind die meisten, verstand Adorno, sobald er zeigen konnte, was er von Kunst verstand, eine Menge. Daß jemand, der sich unter anderem auf Marx beruft, allerdings fürs Kulturelle sehr viel mehr Interesse aufbringt als für Dinge, die Marx beschäftigt haben, bleibt erklärungsbedürftig, ebenso wie der Umstand, daß seit spätestens dem Aufkommen des Imperialismus immer wieder Leute von Kunst, Kunstkritik und Antikunst zur Auseinandersetzung mit der Gesellschaft gelangen – wie paßt in ein linkes, der Aufklärung wie Marx verpflichtetes Bild ineinandergreifender politischer, wissenschaftlicher, philosophischer und künstlerischer Öffentlichkeiten ein Phänomen wie etwa der Situationismus, bei dem mitten im schönsten Systemwettstreit erstaunlich haltbare, diesen Kalten Krieg vergleichsweise intakt überlebende Gedanken von Menschen geäußert wurden, die sich zunächst in den Künsten artikuliert hatten, dann nach Antikünsten suchten, darüber das Bildungs-, das Freizeit-, das Urbanitätsproblem und Verwandtes ins Visier bekamen und sich zu alledem klarer und bei aller scharfen Polemik differenzierter äußerten als alle noch so gescheiten Krahls und Lefebvres? Warum geschah die Wiederbelebung des Marxismus zu Zeiten der wildesten Blüten der sogenannten Postmoderne häufiger entlang Gramscischer als irgendwelcher anderen Linien, über Kulturhegemonietheorien, und warum war Brecht nie so weg wie Lukács? Was hat es mit der »Kulturlinken« (und ihren niedlichen Flossen und Fühlern, der »Poplinken«, der »Lebensstillinken«) in den reichen Ländern des globalen Nordwestens auf sich, wie stehen diese nicht ideologisch, sondern materiell zu Avantgarde und Kulturindustrie? Die Lächler und Bescheidwisserinnen unter denen, die Marx gelesen haben, lassen an dieser Stelle meist das As der Warenformanalyse aus dem Hemdsärmel hüpfen; in den Künsten komme diese auf eine ihre metaphysischen Mucken und Grillen expliziter als sonst ausstellende Art zu sich selbst, weil da kein Gebrauchswert mehr stört – was wir die reine Bedeutungsform, die reine Verweisform, die allen Zweckbestimmungen offene und zugleich gegen jede Heteronomie gestisch gesperrte techne genannt haben, fällt in dieser Betrachtung mit der reinen Warenform unmittelbar zusammen. Der oben erwähnte Sohn-Rethel hat in der Warenform ja schlechtweg das kantische Transzendentalsubjekt erkennen wollen, den primo motore der Bewußtseinsphilosophie, und hat sich im Arbeitsumkreis seines Hauptwerks über »geistige und körperliche Arbeit« auch mit der in die Ware einfließenden techne sowie der Sonderstellung der Künste zu dieser befaßt, etwa im Hinblick auf Wissensökonomien, also die neuen Kenntnisse, welche Kunstschaffende etwa zur Renaissancezeit, beim ersten Versuch der bürgerlichen Selbstemanzipation, plötzlich erwerben mußten, um Kunstschaffende sein zu können. Die moderne Spielart der Trennung von Hand- und Kopfarbeit, die für die Hierarchievermittlung auf kapitalistischer Klassengrundlage fast so wichtig ist wie die Trennung der Lohnabhängigen vom Zugriff auf die Produktionsmittel, wurde von jenen Kunstschaffenden so pionierskühn mitetabliert, wie sie heute die digitale Tagelöhnerei des total flexiblen neoliberalen Casting-Kasperletheaters avantgardistisch austesten. »Freiheit« als Möglichkeit der Entkopplung von Tausch- und Gebrauchswert ist das Schmiermittel, das die Kunstschaffenden mit ihrer Bedeutungsproduktion, mit der Herstellung von bekanntlich arbiträr mit ihren Signifikaten kombinierbaren Semiotica dem kapitalistischen Verwertungsprozeß zuschießen, und in der großräumigen Organisation ihrer Arbeit – also dem, was bei Adorno und Horkheimer »Kulturindustrie« heißt – läßt sich allerwege beobachten, wie die Befreiung der Menschen von der Arbeit, die der Maschinisierung, Verwissenschaftlichung, Industrialisierung implizit ist, immer wieder zu ihrer Versklavung umgewidmet wird.

 

Man mag, wenn man sich diese drei Punkte vergegenwärtigt – wie Kunst mit Sinnlichkeit arbeitet, was für Subjekte sie voraussetzt und miterzeugt, wie sie Welt erkennt und zu deren sozialer Konstitution beiträgt –, vielleicht in Adornos Seufzer einstimmen, die Leute verrichteten unter kulturindustriellen Verhältnissen, welche die Künste an den Prozeß der Produktion, Akkumulation, Verwertung des Kapitals angeschlossen haben, der wiederum selbst heute, da das kaum noch sinnvoll erscheint, auf die Art und Weise um die Lohnarbeit oder ihre letzten verbliebenen Schatten zentriert ist, die wir im zweiten Kapitel beleuchtet haben, im Grunde sogar beim Vergnügen Arbeit, die Freizeit sei dem Kapitalverwertungsprozeß längst subsumiert – nur muß man dann freilich einsehen, daß das für Adornos kritische Tätigkeit oder das Webhosting im Dienste einer kommunistischen Kleingruppe erst recht gilt; verbeißt man sich auf solche abstrakten Allmachtsdiagnosen, fragt sich noch sehr, ob man das Antikapitalismus nennen soll oder schlicht reaktionär. Will die Kritische Theorie, wo sie gegen die industrielle und para-industrielle Beschaffenheit der jetzigen Künste wettert, Zunftwesen und Patronagesystem zurück, die ihre Produkte nicht auf dem Markt anbietende, sondern weisungsgebundene Künstlerin, soll, wie einige Übereifrige ja auch Marxens Rede von der Aufhebung der Arbeitsteilung mißverstanden haben, die ganze Ausdifferenzierung sozialer Subsysteme von Kunst bis Wissenschaft einfach einkassiert werden, auf mit dem gegenwärtigen, auch marxistischen Begriffsinstrumentarium schwer beschreibbare, im Grunde begriffslose, eigentlich mystische Weise?

 

Das von theoretischen Anstrengungen wie der Luhmannschen, aber auch viel begrüßenswert fortschrittlicher Sozialtechnik selbst mitten im Kapitalismus genutzte Gute an der soziosemantischen Evolution, die uns besagte Ausdifferenzierung beschert hat, ist ja, daß durch die Scheidung der sozialen Subsysteme auch eine Vergleichbarkeit einsetzt, eine realistische Relativierung; das Leben wird vernünftiger und damit nach allen möglichen Seiten weniger hierarchisch. Das nimmt den Kunstschaffenden aber auch etwas von ihrer unbegriffenen, unbegreiflichen Souveränität (was sie nur vermissen, wo sie nicht einsehen wollen, daß die ohnehin scheinhaft war): Wo die Kunst an die Religion gebunden bleibt, und sei es mit dünnen Fäden, haben die Kunstschaffenden ein gewisses Deutungsmonopol über ihre Werke; noch Klopstocks Messias, Bachs Matthäuspassion zehren davon, daß darin implizit suggeriert ist, die beiden Urheber hätten Gott geschaut oder gehört auf eine Weise, die den Gläubigen nicht zukommt. Natürlich ist das Mumpitz und soll nicht nur Klopstock und Bach zur Geltung bringen, sondern auch die Geltung der Evangelien bestätigen, und da wird es auf eine Weise heikel, die man anders als durch die verschärfte Arbeitsteilung, die Luhmann Ausdifferenzierung nennt, schwer aus der Welt schaffen kann; die Vergleichbarkeit macht dann klar, daß Leute, die bestimmte (etwa religiöse) Haltungen besser illustrieren können als andere, deswegen noch nicht zuständig sind dafür, irgendein tatsächliches Wissen zu vermitteln. Man kann und sollte bei Künstlerwissen, das nur gut behauptet sein muß, nicht wahr (»gut erfunden«), deshalb nie sagen, es treffe nicht zu oder sei etwa »Angabe« (»Der Arno Schmidt tut ja nur so schlau«), weil das gleichbedeutend wäre mit dem Satz über eine Musik, die sei ja gar nicht gut, die klinge nur so. Man kann und sollte damit aber auch in den Zustand, in dem noch nicht alles Arbeit war, auch der Kunstgenuß, nicht zurückwollen, denn das romantische Geheimnis der Klage hierüber ist, daß jenes »Alles ist Arbeit geworden« einfach nur heißt: Alles ist vergleichbar geworden, seit die verschiedenen Erfahrungsformen ihre spezifischen Räume bekommen haben. In der Vergleichbarkeit aber scheint zugleich die situationsgebundene, freie Überwindung der Ausdifferenzierung für die freien Menschen selbst auf, ohne daß diese Ausdifferenzierung deshalb zurückgenommen würde: Ich darf selbst mitreden, wo ich jeweils was mache, aber ich kann nicht überall alles machen. Diese Souveränität aber ist nirgends schöner und reichhaltiger entworfen als in den Kunsterfahrungen, wie bei Kleists zweiter Unschuld wird man darin, aber in aufgeklärter Weise, wieder Kind – Peter Hacks:

»Das Kind trennt nicht scharf zwischen poetischer und wissenschaftlicher Aneignung. Sein Bezug zum Gegenstand ist heiter und ungenau. Es baut, überaus gemächlich, neben dem Reich der möglichen Dinge ein Reich der wirklichen Dinge auf, und diese Reiche bestehen, auf spaßhafte Weise zwar auch wieder unterscheidbar, doch kaum kämpfend, nebeneinander. Alle Erkenntnisse des Kindes sind Als-ob-Erkenntnisse, all seine Vermögen gleichsam probeweise, gleichsam ästhetisch. Das Kinderpublikum ist ein Publikum von Künstlern, woraus nicht folgt, daß das Kinderdrama das vortrefflichste Drama sei. Kunst mag ein Spiel sein, aber sie ist kein Kinderspiel.«266

Die Kritische Theorie, Schöpfung höchst erwachsener Denker, sieht diese Lage mit Unbehagen; man hat, bei aller Kunstbegeisterung dieser Leute, manchmal den Eindruck, sie sähen von den Als-ob-Erkenntnissen der Künste ihren eigenen Anspruch auf Wahrheit und Erkenntnis verhöhnt; wo dann avantgardistisch genug gearbeitet wird, mag die Schuld durch Sperrigkeit abgegolten sein, wo es aber allzu kulturindustriell-vergnüglich wird, fällt der Verdammungshammer. Wir wollen ein Beispiel hierfür genauer anschauen; es ist lehrreich.

V.
Kritische Kunstspießer und eine Fabrik namens Dickens

Ernst Bloch schreibt – und zwar nicht irgendwo in einem vergrätzten Tagebuch, sondern in seinem Hauptwerk, dem Prinzip Hoffnung:

»Wo freilich alles zerfällt, verrenkt sich auch der Körper mühelos mit. Roheres, Gemeineres, Dümmeres als die Jazztänze seit 1930 ward noch nicht gesehen. Jitterbug, Boogie-Woogie, das ist außer Rand und Band geratener Stumpfsinn, mit einem ihm entsprechenden Gejaule, das die sozusagen tönende Begleitung macht. Solch amerikanische Bewegung erschüttert die westlichen Länder, nicht als Tanz, sondern als Erbrechen. Der Mensch soll besudelt werden und das Gehirn entleert; desto weniger weiß er unter seinen Ausbeutern, woran er ist, für wen er schuftet, für was er zum Sterben verschickt wird.«267

Man möchte, wenn man Bloch mag – was wir tun –, nicht gerne stehenlassen, wonach das aussieht, nämlich daß der große Philosoph, kritisches Anti-Ausbeutungs-Schwänzchen der törichten Passage hin, antiamerikanisches kulturpessimistisches Ressentiment her, einfach einen Denkaussetzer gehabt haben muß, unter dessen gesträubter Oberfläche sogar schwer zu übersehende Spurenelemente von Rassismus zu identifizieren wären – denn es sind vielleicht nicht völlig zufällig Beispiele aus dem Bereich der sogenannten schwarzen Musik, des Mutterschiffs der gesamten musikalischen Popkultur im zurückliegenden Jahrhundert, die er da angreift. Daß er solche Sachen einfach aus intellektueller Schwäche und moralischer Blindheit geschrieben haben soll, das möchte man auf einem wie Bloch nicht gerne sitzenlassen. Könnte es also etwa sein, daß man das alles als eine Art manisch-depressive Episode lesen darf, also nicht nur bei Bloch, sondern analog auch bei Adorno: daß das Mißtrauen dieser Intellektuellen gegen – zum Beispiel – Jazz daher kam, daß Hitler sie aus Europa vertrieben hatte, und jetzt saßen sie in Amerika, dieses Emigrantenschicksal litten ja beide, und dort fehlte ihnen die Nestwärme der vertrauten Kulturwelt, die sie kannten, das Dörfliche und Kleinproduzentenhafte der Avantgarde mit ihren entsprechenden Aufführungen für kleine Zirkel, mit dieser leicht trüben Weihe, und statt dessen hatten sie es mit einer fabrikmäßig erzeugten Massenkultur zu tun. Da sie den Kapitalismus sowieso schon nicht mochten, wofür es schließlich eine Menge guter Gründe gibt, von denen wir einige ja auch nur deshalb kennen, weil sie von diesen beiden und ihresgleichen so vorbildlich und punktgenau ausformuliert wurden, haben sie ihr Heimweh und ihre Angst, daß alles Wahre, Schöne, Gute, das sie von zuhause her kannten, für immer weg war, und daß sie nun dieser anderen, lärmigen Kultur ausgeliefert waren, die ja dadurch, daß sie industriell erzeugt und mittels Massenmedien, Radio usw. vertrieben wurde, schon sagte: Das ist nicht nur für dich, den einzelnen Kunstgenießer, das ist für potentiell alle – als Liebesentzug empfunden, das heißt: daß selbst die Kunsterzeuger nicht mehr direkt mit ihnen, den kritischen Intellektuellen redeten, und also verhielten sie sich, wie man sich verhält, wenn man aus dem Dorf vertrieben wird und dann auch noch hört, daß die Dorfliebste einen vergessen hat und jetzt mit allen möglichen Leuten tanzen geht. Da fingen sie an, auf das Mädchen, die Kunst in ihrer neuen Gestalt zu schimpfen, wie verhurt sie sei und verblödet und was sonst. Dem inneren Bildnis der Jugendliebe in ihrem Herzen aber, der Hochkultur selber, der Avantgarde, hielten sie lebenslang die Treue, man findet das bei Bloch, wo das Echo des Expressionismus in seinen Schriften bis zum Schluß zu hören ist, und bei Adorno als ausdauerndstes Streiten für die neue Hochkunst bis zum letzten Buch, der Ästhetischen Theorie. An dieser Lesart stimmt einiges; aber ganz geht sie nicht auf. Denn selbst die Liebe zur Avantgarde, die Zuneigung zum fordernden Werk, die Solidarität mit den genialen Kleinproduzenten hat ihre Grenze bei Leuten aus der Linie, um die es hier geht – Adorno, über die Schicksale von Dodekakophonie und (damals noch nicht so genannter) algorithmischer Musik nach dem Zweiten Weltkrieg, im Aufsatz Das Altern der neuen Musik:

»Schönbergs eigene Bedenken schützen den vorm Mißverständnis, der sich der Beliebtheit dieser Technik, die geschichtlich heute so notwendig ist wie je, nicht mehr freut als etwa der Popularität Kafkas. Jenes Verfahren besitzt sein Existenzrecht durchweg nur in der Darstellung komplexer musikalischer Inhalte, die sich sonst nicht bewältigen ließen. Davon losgelöst, entartet es zum Wahnsystem.«268

Die um gewisse Echos auffallend unbekümmerte Verwendung des, gelinde gesagt, vorbelasteten Ausdrucks »entartet« ist bei einem so genauen Stilisten wie Adorno ein Fingerzeig. Was aber soll die zwölftönende Avantgarde sein, die nicht mehr jene Inhalte bearbeitet, die Adorno von Schönberg und Webern und seinen übrigen Komponistenidolen aus der Zeit vor der Katastrophe kannte? Ein Wahnsystem. Was sagt er also über die jungen Musiker, die er nicht mag? Ihre Kunst ist entartet, und sie sind verrückt. Genau das, mit denselben Worten also, was seine politischen, verbrecherischen Todfeinde über diejenige Kunst gesagt haben, die er mochte. Den Schlüssel zu den schmerzhaft peinlichen und jedenfalls traurigen Aussetzern bei Bloch und Adorno liefert einmal mehr die – dennoch, wie wir begründet haben, mit Vorsicht zu genießende und umsichtig zu dosierende – Wissenssoziologie: Noch die unabhängigsten, isoliertesten, verfolgtesten Denker müssen im Takt und der Melodie des historisch zu einem bestimmten Zeitpunkt Gedachten mitschwingen, weil die Gewalt, die Angst, die Verfolgung auch in der Sprache derer, die in einer gegebenen Gesellschaft die Ausgegrenzten oder in einer gegebenen historischen Situation die Bedrohten sind, ihre Spuren hinterläßt.

Nicht einmal die Feinde und potentiellen Opfer des Faschismus also konnten faschistoiden Denkgesten und Sprachmustern ganz entrinnen, sie drückten ihnen auf Jahre hinaus, bis ins Exil, ja bis in die Nachkriegszeit ihre Prägungen in den Sprachleib. Das ist nun aber gerade kein verkappter Freispruch der Nazis, etwa in dem Sinne, jene seien ebensogut wie Bloch oder Adorno irgendwie Kinder ihrer Zeit gewesen, sondern im Gegenteil eine verschärfte Anklage: Nicht einmal die Gedanken und die Formulierungen der zur unfreien Öffentlichkeit nicht länger Zugelassenen sind noch frei, wo die Unfreiheit allgemein wird.

 

Ein weiteres Mal gewendet aber bedeutet dies auch, daß reale Zuwächse an Freiheit, Zurückweichen der Gewalt, Indirektwerden der Zwänge, Zunahme von Vermittlung etwa über Ausdifferenzierung selbst ohne begriffliche oder politische Konsolidierung etwas Wünschenswertes sind, und die Spezialisierung der Avantgarde, die Adorno ablehnt, als Symptom der Ausdifferenzierung ebenso verteidigt zu werden verdient wie, auf abermals einer anderen Ebene, die Schwellensenkung für Musik und Tanz, das ästhetische Genießenkönnen selbst noch der Entfremdung (als typisch uneigentliche, also künstlerische Erfahrungsform), die Bloch verleumdet. Hier, wenn irgendwo, liegen die fortschrittlichen Momente von Kulturindustrie und Pop, die allerdings im Zuge der allgemeinen Verwerterei und der Erschließung jugendlicher Kaufkraft mitunter von Intellektuellen, die auf die Hinterlassenschaft der Kritischen Theorie ihrerseits kritisch reagiert haben, allzu rosig gemalt haben. Bei Pop nämlich, bei der Massenkultur und ihrer Gegenkultur, die beide entweder industriell gefertigt sind oder in Nischen mit dem von jener Industrie fallengelassenen Spielzeug hantieren, geht es außer um Anreize zum Kaufen und Verkaufen von irgendwelchem Ramsch jedenfalls oft genug – und sei es nur als Köder, den man sich genau ansehen muß, bevor man ihn schluckt – um die Aussicht auf Menschenkollektive, die eben nicht von Angst, von Gewalt und deren Androhung, von Verfolgung und Anpassung zusammengehalten werden, sondern von sozial organisierten Glücksversprechen, von der einvernehmlichen, unerwartbaren Erlebnissen den Weg ebnenden Verabredung (etwa innerhalb einer Band), vom Schwelgen in der Entgrenzung, von der Funktionslust der tanzenden Körper, des mitwippenden Fußes, der nickenden Köpfchen.

In solchen Realprozessen etwas zu sehen, das nicht auf seine Funktion als Inneneinrichtung des Unrechts beschränkt bleiben sollte, ist zumindest nicht unaufgeklärter als das von Bloch in einem Moment der kognitiven wie moralischen Schwäche gebellte Gegenteil.

 

Die Aufklärung selbst, als konkrete historische Erscheinung an der Schwelle zur bürgerlichen Selbstemanzipation, zum Kapitalverhältnis und zur Industrialisierung, konnte sich solche Gedanken naturgemäß noch nicht machen. Das hat sie nicht unbeschädigt gelassen; jeder Kopftuchstreit unter Massenmedienbedingungen, jede Inzidenz von semiotic warfare in den gründlich durchkulturalisierten reichen Gesellschaften zeigt, daß das Herunterbeten von Voltaireschen Sentenzen und Zitaten aus Nathan der Weise unzulängliche Instrumente des Fortschritts sind. Der in Fragen der Aufklärungsphilologie unbestritten klügste und kundigste Gelehrte der Gegenwart, Jonathan Israel, der sich für die radikale und die umkämpfte Aufklärung, also den Teil der Bewegung, dem auch unsere Sympathie gilt, jederzeit tapfer schlägt, hat in seinem mehrbändigen Mammutwerk auf Kunst kaum Gewicht gelegt; die Aufklärerinnen und Aufklärer, die er darstellt und paraphrasiert, scheinen ihm wenig Brauchbares hinterlassen zu haben, von gelegentlichen lustigen und bedenkenswerten Kuriosa wie dem Satz des Helvétius – »Bis zum allgemeinen Frieden ist die Kriegskunst die höchste Kunst«269 – einmal abgesehen.

Was ein aufgeklärter politischer Umgang mit den Künsten von Kants niedlicher Irrlehre über das »interesselose Wohlgefallen« haben soll, ist nicht leicht zu erkennen, im Gegenteil verstellt sie, wenn man sie glaubt, den Blick etwa auf die Gründe für den Haß auf »entartete Kunst«, der jedenfalls nicht »interesselos« genannt werden kann. Zwar hat Kant insoweit recht, als nur wenige Menschen auf den Gedanken kommen, etwa ihre sexuelle Lust auf Statuen zu richten und an diesen befriedigen zu wollen, aber er verschiebt die von uns oben unter 2. erkundete Eigenschaft der Kunst, daß die Reize, die sie vergibt, von unwirklichen Welten handeln, einfach ins Subjekt (nicht die Statue ist ihm ein falscher Mensch, sondern das sexuelle Interesse an ihr wäre ein falsches, der ästhetischen Erfahrungsweise unangemessenes), ein Denkfehler, der sich – noch einmal: wissenssoziologisch leicht faßbar – der bürgerlichen Individualmonadisierung verdankt, nicht der Gedankenlosigkeit des Philosophen. Ein Objektives wird subjektiviert, weil bürgerlich-aufgeklärte Philosophie der klassischen Epoche auf alles reflektieren kann, nur nicht auf ihre subjektphilosophischen Prämissen, was es dann leider dem im Imperialismus sich ausbreitenden Neopyrrhonismus so leicht macht, ihm diese Unfähigkeit retrospektiv um die Ohren zu hauen – denselben Fehler macht Kant ja, mit eiserner und fast schon wieder bewunderungswürdiger Zwangsläufigkeit, in seiner berühmten Aufklärungsdefinition, in welcher die Unmündigkeit »selbstverschuldet« ist, womit der Alleszermalmer noch hinter die plumpste Priestertrugstheorie des französischen Materialismus zurückfällt. Symmetrisch zum Unvermögen der Aufklärung, die künstlerischen Dinge auf dem Niveau der sich abzeichnenden kapitalistischen Realität zu denken, ist auch die Kunst der Aufklärung selbst nichts gegen die hochbürgerliche, und hält man Wieland gegen Goethe oder Musik, wie sie Thomas Paines Herz erfreut haben wird – James Hewitt schreibt neun Variationen von »Yankee Doodle« fürs Cembalo –, neben Beethoven, weiß man genug. Peter Hacks:

»Goethe sprach über Wieland so angemessen, wie die Klassik über die Aufklärung, deren größergewachsenes Kind sie ist, äußersten und freundwilligsten Falls sprechen kann. Heines Nachruf auf Nicolai klingt viel schnöder, ist aber genauso liebevoll. Unsere Klassiker sind keine Vatermörder. Sie stehen im Widerspruch zur Aufklärung insofern, als der Höhepunkt einer Sache im Widerspruch zu deren gewöhnlicher Seinsweise einmal stehen muß. Sie machen den Sprung, der sie von der Aufklärung trennt, deutlich und nehmen sie im übrigen gegen die gemeinsame Krätze, die Romantik, in Schutz.«270

Die Klassik schätzte indes Adorno nicht höher als die Romantik, deren gebrochene Sache, Fragment, verletzte Unendlichkeit ihm vielmehr schon Beckett präfiguriert haben muß. Aus dieser Liebe zu den Echos des Zerbrechens der Aufklärung in der Kunst, aus dieser Distanz zu ihrer Überwindung ins Gelungenere, die mit Adornos politischen Erfahrungen mehr zu tun hat als mit seinen ästhetischen Reflexionen als solchen, aber speist sich die dem Kantischen Fehler komplementäre Schwäche der Kritischen Theorie, Kunst anders als mit dem brennendsten Interesse, dafür aber ohne Wohlgefallen zu betrachten. Die Nähe dessen, der ein Kerzlein für die Kleinproduzenten der Avantgarde anzündet, zu Manufactum-Kitsch und dem Kunstgewerbe des Unverdaulichen, das in den siebziger Jahren entstand, ist unerfreulich, aber leicht aus ihren Denkvoraussetzungen herzuleiten; die Teilnahme von Millionen am Kulturindustriellen, die Standardisierung der Befriedigung der in der Dialektik der Aufklärung verächtlich als »gleiche Bedürfnisse« aller Massenindividuen angeschwärzten Sehnsüchte hat ihre Nachtseite in einem depressiven Elitismus, der gegen die Vermassung im Grunde nichts Schlaueres zu sagen weiß, als daß die Seele doch etwas Einzigartiges sei, und übersieht, daß Vermassung nur die eine, Vereinzelung aber die andere Seite der automatischen Knechtung ist, die das abstrakte Realverhältnis über alle, auch die Avantgarde und ihre liebenden Enkomiasten, verhängt. Ist das Entindividualisierte der »gleichen Bedürfnisse« nicht vom Neoliberalismus behoben? In Wahrheit machen Adorno und Horkheimer das Kunstproblem mit ihrer These von den Massen an der kulturindustriellen Tränke zu einem Rezeptions-, also, ökonomisch gesprochen, zu einem Verteilungsproblem, als wären sie grenznutzentheoretisierende Antimarxisten, die nicht imstande sind, es als Produktions- und Eigentumsproblem zu formulieren. Nicht der Standard macht die Massenware »billig« im Doppelsinn, sondern der Profitimperativ, der Passivitätsvorwurf ans Publikum, der in der Kulturindustriepolemik steckt, ist so zutiefst ungerecht, wie die situationistische Beschimpfung des »Spektakels« einseitig war, die sich kein Zeitalter vorstellen konnte, in dem wie in der Gegenwart nach einem treffenden Wort von Diedrich Diederichsen »Partizipation« das neue Spektakel ist. Nicht daß sie gleich sind, entwertet die Produkte der Serienproduktion, sondern daß sie gleichgültig sind gegen die legitimen Zwecke sowohl derer, die sie produzieren, wie derer, die an ihnen Kunsterfahrungen machen, ist das Verwerfliche an ihnen. Das war nicht immer so – Balzac und Dickens haben auch in Serie produziert und Massen erreicht; als alles Bürgerliche gegenüber den feudalen Resten einen Fortschritt bedeutete, war das auch in der Kultur der Fall.

 

Immer weitergeschrieben – die Voraussetzung für die Verwertungsweise der Serie – hat Dickens aus durchaus kunstimmanenten Gründen, die Kunstschaffende auch in einer freien Gesellschaft haben könnten, weil nämlich nie das Buch dabei rauskam, das ihm nach seiner Fertigstellung noch gewachsen gewesen wäre. Er hat sie alle auf die Welt gebracht und dann, am Ende, sterben sehen müssen, sogar selbst umgebracht. Das Romanende bei Dickens: ist deutlicher als sonst eine Schließung, Besiegelung einer Totgeburt. Es bleibt nichts mehr zu tun, als irgendwie zu leben, nach Cartons Tod, nach Esthers Hochzeit mit dem guten Arzt, nach Pips völliger Selbsterkenntnis über den Rand des für sein Selbst vorgesehenen sozialen Nährbodens hinaus, einer Selbsterkenntnis, die keine »höheren Ziele« mehr übrigläßt. Nur der Geschmack des letzten Satzes in Candide ist dem vergleichbar, was Dickens den Ideen antut, denen seine Helden nachgehangen sind, und mit denen sie untergehen müßten, wenn sie sie eben nicht losließen, auf daß man sich trenne: der Geist in den Himmel, das Fleisch in den Alltag. Ihrer beider unerfüllbare Liebe auf dem Theaterboden der gegenwärtigen, der bürgerlichen Gesellschaft ist das Thema der Romane, das sie nicht erschöpfen können, und das seinen Autor erschöpft hat. Höher hinaus als in Bleak House kam die bürgerliche Romankunst gar nicht allzuoft, mit Proust zur Totalität des Subjekts, mit Joyce und Flaubert zur Totalität der Sprache, mit Balzac und Dostojewski zur Totalität des Ensembles der gesellschaftlichen Verhältnisse. Alle drei Sorten der Überbietung der Dickensschen Leistung aber sind gesellschaftlich unverdiente, individuell mit Leben und Verstand bezahlte Erfolge von Genies, in ihrer Art weder wiederholbar noch sonstwie lehrreich.

Bleak House jedoch erreicht alles, was dem Bürger als Romankünstler überhaupt zu erreichen statthaft ist – die Ironie liegt freilich darin, daß Dickens viel weniger Bürger war als die genannten Genies: Das Wahre am Bürgerlichen wird auf nachbürgerliche Temperamente warten müssen, solche wie Marx vielleicht. Nicht Orwell und nicht Zweig, nicht die Biographen und nicht die literarischen Feinde, die sich mit Dickens befaßt haben, reden irgendwo darüber, was für wichtige Beweggründe für Dickens’ Arbeit Haß und Neid auf die günstiger Geborenen waren, obwohl man Magwitch oder das Anwaltspack in Bleak House, ja selbst Fagin nicht begreift, wenn man das nicht weiß. Der einzige, der überhaupt etwas »in dieser Richtung« durchblicken läßt, ist Arno Schmidt, und der hat sich ja grundsätzlich nur mit Schriftstellern befaßt, die er für sich selbst halten konnte (das waren dann natürlich fast alle; außer Thomas Mann).

VI.
Fernsehen als Erzählproblem

Die ästhetisch-formgeschichtlichen, produktionsformalen Erben der Dickensschen Verfahrensweise, hocharbeitsteilig, tendenziell vergesellschaftet, durchindustrialisiert, findet man heute freilich nicht mehr einsam am Schreibtisch, sondern im Serienfernsehen – zum Beispiel bei »Dawson’s Creek«, einer realistisch-komödiantischen Teenager-Serie, die im Frühjahr 2003 in den USA zum letzten Mal ausgestrahlt und danach auf DVD angeboten wurde. Sie funktioniert wie David Copperfield von Dickens, erzählt nämlich, wie jener Roman den Lebensweg eines Dickens-analogen Helden, die Geschichte eines Menschen, der wie der Schöpfer der Show, Kevin Williamson, aus einer Kleinstadt nach Hollywood findet und dort schließlich seine Jugend in einer Fernsehserie wiederaufleben läßt. Früh will der jugendliche Held, dessen Pubertät die Show begleitet, Filmregisseur werden, probiert in seinem Heimstudio auch Fernsehformate aus, und so liegen lange vor dem Finale, das ihn schließlich da ankommen läßt, wo Williamson sein mußte, um sich »Dawson’s Creek« ausdenken zu können, zahlreiche Schlenker ins Selbstthematisierende nahe, ohne daß dabei, wie sonst in vergleichbaren Fällen so häufig, zwanghaftes postmodernes Augenzwinkern die Zuschauer hat verstimmen müssen. Im Vorspiel – vor der Titelsequenz samt Erkennungsmelodie und Darstellerclips – der letzten Folge der ersten Staffel kommt dieses Moment eindrucksvoll zu sich selbst: Wie in jeder Episode zuvor sitzen Dawson (James van der Beek) und seine fünfzehnjährige Sandkastenfreundin Joey (Katie Holmes) auf Dawsons Bett und schauen sich einen Film an – wir haben ihnen bis dahin schon zwölfmal dabei zugesehen, wie sie anderen dabei zusehen, wie die ein fiktives Leben bewältigen. Joey aber hat genug davon: Sie sieht es nicht mehr ein, ihr eigenes Leben zu verpassen, ständig auf ein Zeichen Dawsons zu warten, daß er endlich bereit ist, sich zu entscheiden, ob aus der Kinderfreundschaft etwas Erwachsenes, Intimeres und Anstrengenderes werden soll oder nicht. Und so erklärt sie ihm in einem Monolog, der unausgesprochen, aber deutlich auch an die Zuschauer gerichtet ist, gleichsam ständig von innen gegen die Mattscheibe klopft, daß sie die ständigen episodischen Scheinsensationen satt hat, daß man doch sowieso weiß, daß nach einer Stunde angeblicher Riesenereignisse im Leben der Serienfiguren letztlich alles beim Alten bleiben muß, weil das Serienformat, in dem man als Jugendlicher auch aufgrund der fixen Termine von Schule und erlaubter Freizeit existiert, das erzwingt. Der Witz daran ist, daß alles, was Joey sagt, zwar wirklich stimmt, die Episode, die dann folgt, das Leben Dawsons, Joeys und aller anderen Hauptfiguren aber dennoch grundlegend und unwiderruflich ändert.

 

Die im besten Wortsinn Verantwortlichen haben hier über etwas nachgedacht, über das vor lauter Medienkritik von den meisten Medienkritikern viel zu wenig nachgedacht wird, gemessen an dem Ausmaß, in dem es die Fernsehgewohnheiten von Vielfernsehern beherrscht: die Seriendynamik als solche.

 

Einmal außen vor gelassen, ob die sich im Moment, da wir dies schreiben, nicht selbst schon wieder grundlegend und unwiderruflich verändert – Stichwort: allmähliche Gerinnung zu »Werken« via DVD-Ausgaben der beliebtesten Shows –, ist die Schwierigkeit beim Schreiben über diese Sachen die, daß man sie nur anfassen kann, soweit es begriffliche Handhaben ästhetischer Rede gibt. Das aber geht nur, soweit diese Shows, im Gegensatz zu Fahrplänen oder Wolken, Kunst sind, und umgekehrt: Sobald jemand behauptet, es gebe diese Maßstäbe, erklärt er den Gegenstand zu Kunst, ob er will oder nicht. Ob etwas Kunst ist, hängt von Art und Vielfalt seiner freien Parameter ab, das heißt, man kommt nicht um die Frage herum: Inwiefern ist Serienfernsehen, und besonders das amerikanische, das immer noch weltweit die ästhetischen Standards setzt (nicht unbedingt die ökonomischen, Brasilien produziert billiger, aber eben doch mit weniger Nachahmungs- und kritischem Erfolg) etwas? Wie autonom kann etwas überhaupt sein, das sich richten muß nach der Vertriebsstruktur sowohl der Networks wie der Kabel(Zweit-)Verwertung, nach der Verwundbarkeit durch Boykottmaßnahmen von (vor allem religiösen) Elternorganisationen gegen die Werbekundschaft in den Pausen, nach der Abhängigkeit vom System der Stars, nach gewerkschaftlich erreichten Verpflichtungen wie der, daß pro Serie ein fixer Prozentsatz von Fremdautoren beschäftigt werden muß?

 

Künstlerische Autonomie – um deren innere wie äußere Gesetzlichkeit es uns in diesem Kapitel hauptsächlich geht – entsteht entgegen weitverbreiteten Annahmen nicht grundsätzlich durch absolute Unabhängigkeit von Regeln schlechthin, sondern durch etwas Relationales: Interessant ist nicht, wie viele Regeln eine Künstlerin beherzigt oder bricht, sondern wie viele davon auf eigene Rechnung aufgestellt und umgeschmissen werden. Wenn also etwa der Markt sechzehn Regeln aufstellt, müssen die Künstler eben zwanzig weitere dazuerfinden, schon hat die Kunst sich behauptet – vorausgesetzt, die Regeln werden fruchtbar benutzt, das heißt: Die Künstler sind gut in dem, was sie tun. Nach dem Gesetz, daß im Fernsehen, anders als im Auteur-Kino, keine gute Episode jemals nach einem schlechten Drehbuch entstanden ist, bedingt dieses Gesetz vor allem ein Primat der Autorenarbeit vor allem anderen. Alles andere steht frei, und so sind zwei große Schulen entstanden: die formalistische und die inhaltsbeflissene. Die Serienmacher der formalistischen benehmen sich wie klassische Avantgarde – man denke an Lynch/Frosts »Twin Peaks«, aber auch an »24«, die technisch faszinierende, inhaltlich aber recht hausbackene Thrillerserie mit Kiefer Sutherland (da geht es eigentlich nicht um die Geschichte – erste Staffel: Tochter eines Terroristenjägers wird entführt, um ihn zu erpressen, bei der Ermordung eines schwarzen Präsidentschaftskandidaten mit guten Erfolgsaussichten mitzuspielen, inklusive allerlei Doppelbödiges, weitere Staffeln: more of the same –, sondern ums Format: Jede Folge behandelt eine Stunde Echtzeit, es gibt 24 Folgen, das Ganze ist ein Tag. Strafferes Serienfernsehen gab es noch nie, und die daraus entstehenden Kontinuitäts-Herausforderungen ans Raum- und Zeitmanagement garantieren jede Menge interessanter Montagen, Computer-Fenster-Effekte und so fort).

 

Die inhaltsorientierte Schule dagegen setzt sich, wie die schönste agitatorische Kunst von Brecht bis Peter Weiss, aber ohne deren eindeutige Parteinahme, allerlei Zeitproblemen aus, und bekommt so plötzlich riesige Schwierigkeiten, längere filmische Essays über die nicaraguanischen Contras (»Miami Vice«) oder die politischen Weiterungen des Ölgeschäfts (»Dallas«) in ihre diesen Dingen eigentlich fremden Krimi- oder Soap-Formate zu integrieren. In den letzten Jahren hat der kulturalistische »Mainstream der Minderheiten« (Tom Holert/Mark Terkessidis) dafür gesorgt, daß immer abseitigere, randständigere soziale Zonen serienkolonisiert wurden, bis hin zu sonst klassisch dem Film vorbehaltenen Lokalitäten wie dem Frauenknast. Die britische Mutter aller Frauengefängnis-Serien, die von ihren Echos in Deutschland und anderswo mehr schlecht als recht kopiert wurde, »Bad Girls«, entstand in enger Zusammenarbeit mit dem »Center for Crime & Justice Studies«, soziologisch-feldstudienartig gewonnene Rechercheresultate wurden ständig in die Handlung eingebaut – Privatisierungsbestrebungen, Versorgung, Drogen, Selbstverletzung, Mütter und Babys, der Umgang mit Aids und Hepatitis im Gefängnis.

Letztlich aber muß die inhaltliche Schule selbst eine formale werden, nämlich eine, die sich den Formgesetzen des Formats »Dokumentation« annähern muß – bald konnte man auf der »Bad Girls«-Site die polizeilichen Unterlagen einer der Hauptfiguren der vierten Staffel besichtigen, zu erzählen aber gab es in den späten Staffeln immer weniger, und immer dasselbe, wie bei den ermüdendsten Formalisten.

VII.
Was macht das novum aus den Künsten?

Seit Anbruch der Neuzeit muß sich die Kunst, ob sie sich nun vernünftig und konstruktiv gibt oder romantisch und unbewußt, zur gesellschaftlich gesetzten Größe »Vernunft« verhalten. Die Geburt dieser Größe war ein historischer Bruch (»Wir planen jetzt, was für eine Gesellschaft wir haben wollen, und setzen sie unter die für natürlich erklärte Bestimmung des von uns politisch durchgesetzten Rechts«), ihre Entwicklung vollzieht sich seither in immer neuen selbstähnlichen Brüchen – das ist die berühmte Krisenhaftigkeit der Moderne, die mit jeder neuen Runde vom Imperialismus bis zur »Globalisierung« Fortschritte und Schrecken auswirft: Seit man Pläne macht, Absichten artikuliert, diese in Widerstreit setzt, kurz, seit es das gibt, was Bürger unter Politik verstehen, herrscht eine im Alltagsbetrieb der Öffentlichkeiten (wenn auch nicht im privaten Kreis oder in sektenartigen Diskussionszusammenhängen der Dissidenz, des Protestes, der Opposition) kantische Einigkeit darüber, daß die Leute an dem, was ihnen an Üblem widerfährt, entweder individuell oder kollektiv selbst Schuld tragen, auf die Götter oder das Schicksal jedenfalls beruft man sich in den reichen Gesellschaften auf der Suche nach Mehrheiten fürs eigene Tun jedenfalls nicht (der Begriff der säkularen Gesellschaft ist ein politischer, kein psychologischer). Die Abgründe in diesem Bild, wenn also etwa allen auffällt, daß irgendeine ökonomische Krise vielleicht doch nicht nur von denen verursacht ist, die sie ausbaden müssen, sondern von etwas Abstrakterem, einem Funktionsprinzip, das sich zum Schaden der ihm Unterworfenen durchsetzt, werden mit hastig herbeiargumentierten Normativkonstruktionen schamhaft bedeckt: Es liegt an der Moral, die Investmentbanker waren zu gierig.

 

Wie geht die Kunst, die Reize zur Plausibilisierung nichtvorhandener Welten in die vorhandene Welt aussendet, um Haltungen zu dieser auszuprobieren, mit dieser Lage um, mit dauerhaft erregten, tatsächlichen Reizen aus der tatsächlichen Welt, von Bruchdaten der Ökonomie bis zu den moralischen Posen und Gesten, mit dem Schwung »historischer Umwälzungen«, die an der Tagesordnung sind und das ganze Leben ästhetisieren, vom Sport bis zu den Börsennachrichten, von den zu ökonomischen wie politischen Zwecken wiederbelebten Ritualen der Religionen bis zur Produktwerbung, dem ständigen novum, der sinnlichen Inflationierung dessen, was bei der Geburt der Moderne im Zuge der Selbstemanzipation des Bürgers »Revolution« hieß? Platt wird man die Ansicht nennen dürfen, daß die Künste unter solchen Bedingungen vor allem blühen müßten; der Spott des Peter Hacks, die Dramatik Brechts bestünde aus lauter Gewerkschaftsstücken, ist da schon wirklichkeitstauglicher. Natürlich ist die Revolution, ist auch das »Revolutionäre« als euphorische Kehrseite der Krise im manisch-depressiven Gesamtirrsinn des Kapitalismus ein Thema für die Künste, aber keineswegs eines, das sie auf Expressivität oder Romantik festlegen müßte, im Gegenteil: Gerade wenn die Umwälzerei am sprunghaftesten, chaotischsten, gefährlichsten und schrillsten vor sich geht, können die Kunstschaffenden es sich zum Ehrgeiz machen, sich besonders nüchtern und klar, konstruktivistisch oder photorealistisch zur Welt zu verhalten, da führt eine gerade Linie von David zu Warhol. Die Kälte in Schwarz und Gold des Bildes vom toten Marat hebt mehr Pathos auf als das wildeste Geschmier; und daher hat T.J. Clark den Tag, als dieses Bild im zweiten Revolutionsjahr der Öffentlichkeit enthüllt wurde, zum Geburtstag der Moderne in der Kunst erklärt, allerdings mit dem schönen dialektischen Stachel, der Erklärung hinzuzufügen, er habe dieses Datum nur gewählt, weil man dann wenigstens nicht übersehen könne, daß diese Zäsur eine ausgedachte, gesetzte, keine natürliche oder authentische sei (die Geste ist selbst modern, man stellt lästige und witzlose Ursprungsdiskussionen einfach ab, indem man sie durch Setzung entscheidet, indem man »den Mut« beweist, sich »seines eigenen Verstandes ohne Anleitung eines andern zu bedienen«). Der 25. Vendémiaire des Jahres 2 (also der 16. Oktober 1793) wird zum Wegstein für die Entwicklung der Haltung zur Welt, die David zeigt, und die paraphrasiert etwa besagt: »Wir sind uns so klar über das, was wir als Revolutionäre hier angestellt haben, daß selbst unsere Katastrophen und Tragödien von uns angeschaut werden können, ohne daß wir blinzeln oder zusammenzucken.«

Das welterschaffende Vermögen und Tun der Künste erhält mit der Haltung »Man kann die Dinge auch so sehen, wie sie wirklich sind« einen neuen Dreh, und damit ist der Tag nicht fern, an dem nicht nur ein Mordopfer wie ein Mordopfer aussieht, sondern ein Strich eben ein Strich, eine Farbe eben eine Farbe, ein Sound ein Sound ist. Insofern das »metaphysical value judgment« der Künste also auf einmal auch lauten kann: »Wir lehnen es ab, ›metaphysical value judgments‹ zu treffen«, neigen diejenigen, die sich ihnen am konsequentesten hingeben wollen, auch zur Abschaffung der Kunst mittels Kunst (ich tröste dich, indem ich dir sage, es gibt keinen Trost, es ist wirklich alles schlimm).

Anstatt zu sagen: »Es gibt keine richtige Haltung zur Welt«, können Künstlerinnen und Künstler jetzt allerdings auch sagen: »Es gibt keine Welt«, und damit doch etwas ganz anderes meinen als die Neopyrrhoniker – »The Marat is not a picture that shows us shifts and uncertainties ending up swallowing the world, or making the concept ›world‹ redundant (It leaves that to later brands of modernism)«, schreibt T.J. Clark, und dann aber:

»Matter is stubborn, or at least predictable, and goes on resisting the work of modernity. Even the proud inscription ›year two‹ is provisional. The numbers 17 and 93 are still to the left and right of it, only half erased, seemingly stuck to the wood of the orange box, as if David had tried to make them vanish but been defeated by his own materials. Technique is a perfidious thing, says the painter, but at least a hedge against the future. Anno Domini will doubtless return.«271

Wir Modernen werden, heißt das, die Geschichte, das Erbe auch unter der Fuchtel des sich ständig selbst neu hervorbringenden und dann wieder auslöschenden novum nicht los, weil ebendiese Kette der Hervorbringungen und Auslöschungen wieder Erbe, ästhetisches Mehrprodukt anhäuft – Lenin 1901 über die Frage, ob man im Zuge der Revolution auf die Wissenschaft und Kunst, die das alte, abzuschaffende Unrechtssystem hervorgebracht hat, verzichten, sie zerschlagen, durch Proletkult ersetzen, kulturrevolutionär schleifen sollte, ob also das revolutionäre Tun notwendig sei, weil man vernichten müsse, was in der falschen Ordnung gewußt und erfahren wurde:

»Ganz im Gegenteil: Das ist notwendig, um diese Schätze dem ganzen Volke zugänglich zu machen, um die Entfremdung der Millionenmassen der Landbevölkerung von der Kultur aufzuheben, die Marx so treffend als ›Idiotismus des Landlebens‹ bezeichnet hat. Und heute, da die Übertragung elektrischer Energie auf große Entfernungen möglich ist und die Verkehrstechnik einen solchen Entwicklungsgrad erreicht hat, daß mit geringerem (als dem jetzigen) Kostenaufwand Passagiere mit einer Stundengeschwindigkeit von mehr als 200 Werst befördert werden können, gibt es gar keine technischen Hindernisse mehr dafür, daß die gesamte, mehr oder minder gleichmäßig über das ganze Land verteilte Bevölkerung in den Genuß der Schätze von Wissenschaft und Kunst gelangt, die Jahrhunderte hindurch in einigen wenigen Zentren aufgehäuft wurden«.272

Daß »Kommunismus« jemandem, der so schreibt, etwas ganz anderes bedeutet als in der maoistischen Kulturrevolution oder, nur noch destruktiv, bei Wahnsinnigen wie Pol Pot, enthält eine historische Wahrheit, an der das ganze Schicksal sich revolutionär verstehender Künste, also aller im weitesten Sinn modernen, in a nutshell enthalten ist.

 

Aus dem Wissen, daß man das Kommunizieren als Mensch nicht lassen kann, könnten die Künste ab dem Moment, da Kunstschaffende nicht mehr automatisch privilegierte Besitzende nichtkünstlerischer (religiöser, politischer, wissenschaftlicher) Kenntnisse sein sollen, sondern nichts anderes mehr sind als eben Kunstschaffende, eine neue Funktion gewinnen, die der Technik des Explizitmachens von Normativitäten übers plan Moralische hinaus, von Evaluativen und Direktiven, die sinnlich wirken, ohne anders als welt- und geschichtsimmanent gerechtfertigt sein zu wollen. Die Künste können sagen, was alle anderen menschlichen Tätigkeiten wissen, aber nicht sagen können: Nicht zu kommunizieren ist den Menschen nicht nur unmöglich, es wäre, wenn es denn doch möglich wäre, das unter Menschen schlechthin Falsche – mehr noch: das Böse.