Im Kreis ihrer Freundinnen aus dem Henry M. Jackson senior Center strickte Charlotte Rhodes in wütendem Tempo. Die anderen Damen plauderten miteinander, aber in Charlottes Kopf drehten sich die Gedanken fast so schnell, wie ihre Hände sich bewegten.
»Charlotte«, sagte Helen Shelton, »du wirkst, als wärst du gar nicht hier, sondern tausend Meilen entfernt.«
Sie schreckte auf. »Oh.« Tatsächlich hatte sie der Unterhaltung ihrer Freundinnen nicht zugehört, aber es war ihr peinlich, dass diese es bemerkt hatten. Entschuldigend lächelte sie Helen an. Sie war ebenfalls eine wahre Strickkünstlerin, und Charlotte mochte sie besonders gern. Helen war Witwe und lebte in einem netten Häuschen in der Poppy Lane. Die beiden Frauen hatten sehr viel gemeinsam und verbrachten so manchen Nachmittag damit, zu stricken und Geschichten auszutauschen.
Doch gerade machte Charlotte sich Sorgen wegen ihres Sohnes und seines kürzlichen Umzugs nach Cedar Cove. Oberflächlich betrachtet schien Wills Entscheidung, sich im Bundesstaat Washington zur Ruhe zu setzen, logisch, aber das Hintergrundwissen, das Charlotte hatte, machte sie aus gutem Grund misstrauisch.
»Bess hat dich gebeten, dir ihre Strickarbeit anzusehen«, sagte Helen. »Ich komme nicht ganz dahinter, was sie falsch gemacht hat.«
»Natürlich.« Charlotte legte ihr eigenes Strickzeug beiseite und nahm die halbfertige Socke ihrer Freundin unter die Lupe. In den sechzig Jahren, die sie nun schon mit Nadeln und Wolle arbeitete, hatte sie so manchen leicht zu behebenden Fehler entdeckt. Wenn jemand mit einem Strickproblem an sie herantrat, gab sie als Erstes immer den Rat: Lies das Strickmuster. Verstehst du die Anweisungen nicht gleich beim ersten Mal, dann lies sie noch einmal.
Sie warf einen Blick auf das Sockenmuster, das von einer Strickerin zur nächsten weitergereicht worden war und schon ziemlich zerfleddert wirkte. Den Fehler, den Bess gemacht hatte, fand sie ziemlich schnell und brachte ihn rasch in Ordnung, indem sie mit einer Häkelnadel eine versehentlich fallen gelassene Masche hochholte.
Die Damen am Tisch waren ihre allerbesten Freundinnen, und doch konnte Charlotte ihnen nicht ihr Herz ausschütten. Frauen ihrer Generation taten so etwas einfach nicht. Familienprobleme blieben in der Familie. Sie wurden nicht mit Außenstehenden besprochen, mochten diese auch noch so enge Freunde sein.
Sie beneidete Olivia und Grace um ihre Freundschaft. Es gab einfach nichts, worüber die beiden nicht miteinander reden konnten. Aber Charlotte konnte ihre Enttäuschung über ihr ältestes Kind mit niemandem teilen außer ihrem Mann. Ben war zwar nicht Wills Vater, aber Teil ihrer Familie.
Wie könnte sie ihren Freundinnen sagen, dass ihr einziger Sohn einen schwachen Charakter hatte? Wie könnte sie ihnen offenbaren, dass Will sein Ehegelübde gebrochen hatte? Nicht nur einmal, sondern wiederholt. Seine Ex-Frau Georgia hatte dieses Geheimnis für sich behalten, solange sie konnte, bis die Ärmste es einfach nicht länger ertragen hatte. Charlotte konnte ihr das nicht verübeln. Wenn Clyde noch am Leben wäre, dann wäre Wills Verhalten ihm zutiefst peinlich, und er würde sich dafür schämen. Außerdem würde er seinem Sohn zweifellos die Leviten lesen. Vielleicht war es ganz gut, dass Clyde nicht mehr unter ihnen weilte, sodass ihm diese Enttäuschung erspart blieb.
Ben war zu Hause, als sie vom Strickkreis zurückkam. Er öffnete ihr die Tür, als sie sich der Treppe näherte, die sie langsam und ein wenig mühsam erklomm.
»Du siehst aus, als würdest du die Last der ganzen Welt auf deinen Schultern tragen«, sagte er, nahm ihr die Tasche ab und schob sie sanft ins Haus. Charlotte steuerte automatisch die Küche an.
»Möchtest du eine Tasse Tee?«, fragte sie.
»Wenn wir uns dabei unterhalten.«
Sie wusste nicht sicher, ob sie reden konnte. Ihre Kehle fühlte sich an, als würde sie zuschwellen. Sie schluckte heftig und nickte, weil sie unbedingt reden musste. Sie musste die Gefühle, die sie so bedrückten, teilen.
Ben deckte Tassen und Untertassen auf, während sie Wasser zum Kochen brachte und die Teeblätter dosierte. Kurz darauf saßen sie sich am Küchentisch gegenüber, aber bevor sie ihnen Tee einschenken konnte, griff Ben nach ihrer Hand.
»Geht es um Will?«, fragte er.
»Wo ist er? Weißt du das?«
Ben zuckte mit den Schultern. »Er ist vor ein paar Stunden weggefahren. Sagte, er will sich mit einem Makler treffen, um sich Wohnungen anzuschauen.«
»Hat er gesagt, wohin er ziehen möchte?«
»Er hat mir erzählt, er würde gern eine Wohnung in unserer Nähe finden, im Bereich der Innenstadt.«
»Das habe ich befürchtet«, seufzte sie.
»Warum?«, fragte Ben sichtlich verblüfft. »Mir kam es sehr fürsorglich von ihm vor, in unserer Nähe sein zu wollen. Für den Fall, dass einer von uns ihn braucht, meinte er.«
»Quatsch!«, stieß sie heftig hervor.
Bens Augen wurden groß. Solche Ausbrüche kannte er von ihr nicht.
»Ich kenne meinen Sohn«, erläuterte sie. »Dass er in der Innenstadt leben möchte, hat nichts mit seiner angeblichen Sorge um unser Wohlergehen zu tun.« Ihre Hand zitterte, als sie Tee einschenkte. »Wir sind nicht die Einzigen, die in der Nähe leben«, murmelte sie und presste bestürzt ihre Lippen zusammen.
Ben runzelte verständnislos die Stirn.
»Es geht um Grace«, erklärte sie und stellte die Teekanne wieder auf den Tisch.
»Glaubst du ernstlich, dass er immer noch besessen von ihr ist?«, fragte Ben. Es kam ihm offenbar weit hergeholt vor, dass Will so übertreiben könnte. »Er weiß, dass sie mit Cliff verheiratet ist, oder?«
»Natürlich weiß er das. Aber so eine Kleinigkeit wie ein Ehering hat ihn auch früher nicht gehindert.« Übelkeit stieg in ihr auf. »Ich kenne meinen Sohn«, wiederholte sie. »Konkurrenz spornt ihn nur an. Das ist einer der Gründe, warum er in der Geschäftswelt so erfolgreich war.«
»Mit anderen Worten: Er verliert nicht gern.«
»Er hasst es.« Charlotte hätte dafür jede Menge Beispiele aus der Jugend ihres Sohnes aufzählen können, ließ es aber. »Er wird in die Innenstadt ziehen, und in einer oder zwei Wochen wird er sich einen Büchereiausweis besorgen.«
»Wegen Grace …«
»Aus keinem anderen Grund. In den letzten fünfunddreißig Jahren hatte er nie das Bedürfnis, sich einen Büchereiausweis zuzulegen. Jetzt aber wird ihm das immens wichtig sein. Merk dir meine Worte!« Nervös trommelte sie mit den Fingern auf der Tischplatte.
»Was Grace angeht, ist es zu spät«, meinte Ben. »Sie ist glücklich verheiratet.«
»Ich weiß.« Und Charlotte empfand es als ihre Pflicht, dafür zu sorgen, dass nichts dieses Glück zerstörte. Grace war für sie wie eine zweite Tochter. Deshalb dachte Charlotte gar nicht daran, untätig herumzusitzen und zuzusehen, wie ihr eigener Sohn Grace’ Leben ruinierte. Es würde ihm nicht gelingen, sie noch einmal zu verführen, aber er war durchaus in der Lage, sich störend in ihre Ehe zu drängen, Spannungen heraufzubeschwören und Misstrauen zu säen.
»Warum machst du dir dann solche Sorgen?«
Bevor sie antworten konnte, wurde die Haustür geöffnet. Herein kam Will, sichtlich unbekümmert und eindeutig mit sich selbst zufrieden. Seine Augen leuchteten auf, und er lächelte, als er die Küche betrat. »Da bin ich wieder. Und ich hätte gern eine Tasse Tee.«
»Wie ist es gelaufen?«, fragte Charlotte, stand automatisch auf, um ihm eine Tasse zu holen, und stellte wieder einmal verblüfft fest, was für ein gut aussehender Mann er war. Mit sechzig wirkte er tatsächlich noch attraktiver, als er es als junger Mann gewesen war. Er war groß und stattlich, körperlich fit. Geschmack und Stil hatte er ebenfalls – schon als Teenager hatte er sehr auf seine Kleidung geachtet. Sie erinnerte sich, dass er immer modebewusster gewesen war als seine Altersgenossen. In letzter Zeit wurden seine Haare an den Schläfen allmählich grau, was ihm ein distinguiertes Aussehen verlieh. Angesichts seiner äußeren Erscheinung und seines ausgeprägten Charmes war es kein Wunder, dass Frauen auf ihn hereingefallen waren. Sogar vernünftige, klar denkende Frauen wie Grace.
»Ich habe eine kleine Zweizimmerwohnung nahe der Harbor Street gefunden«, verkündete Will triumphierend.
»Nahe der … Harbor Street?«
»Unten am Wasser«, sagte er, als sie ihm seinen Tee reichte.
Charlotte kannte nur eine Apartmentanlage am Wasser. »Mir ist dort kein Schild aufgefallen, dass etwas zu vermieten wäre«, sagte sie alles andere als begeistert. Natürlich hatte Will sich eine Wohnung gesucht, die praktisch neben der Stadtbücherei lag.
»Ich bin dort Untermieter«, erklärte er. »Mir wäre ein gehobeneres Objekt lieber gewesen, aber fürs Erste wird mir das reichen.«
Charlotte warf Ben einen Blick zu. Der verstand sofort, nickte, stand auf und entschuldigte sich höflich.
Sie wartete, bis er die Küche verlassen hatte, und wandte sich dann direkt an ihren Sohn. »Es handelt sich nicht zufällig um Linnette McAfees Wohnung?«
»Genau um die.« Er klang überrascht. »Woher wusstest du das?«
»Ich habe mit ihrer Mutter gesprochen. Corrie findet es schrecklich, dass ihre Tochter aus Cedar Cove fortzieht.« Aber Linnette war entschlossen, zu gehen, ob die Wohnung nun untervermietet war oder nicht.
»Nun, ihr Verlust ist mein Gewinn«, sagte Will, als fände er das witzig. »Ich sollte schon irgendwann nächste Woche einziehen können.«
»Dann sollte ich dir wohl gratulieren«, murmelte Charlotte.
»Ich werde euch nicht mehr nerven, aber ich bin immer noch in der Nähe«, meinte Will.
Dazu sagte Charlotte nichts. Stattdessen stand sie auf und trug ihre immer noch volle Teetasse zur Spüle. Ihrem Sohn den Rücken zugewandt, versuchte sie, sich zu sammeln. Sie drehte sich zu ihm um, bemüht, seine Absichten einzuschätzen, und beunruhigt von der Tatsache, dass sie ihrem einzigen Sohn das Schlimmste zutraute.
»Bist du sicher, dass du das Richtige tust?«, fragte sie zaghaft.
Will wirkte verwirrt. »Natürlich bin ich sicher. Ihr seid zwar beide gesund, aber ich empfinde es als meine Pflicht, in der Nähe zu wohnen, für den Fall, dass ihr mich braucht.«
»Olivia und Jack leben keine zwei Meilen von hier.«
Jetzt erst schien Will aufzufallen, dass Ben die Küche verlassen hatte. Wenn er sich von seinem Stiefvater Unterstützung erhofft hatte – tja, der war nicht da.
»Willst du damit sagen, dass es dir lieber wäre, wenn ich nicht in Cedar Cove leben würde?«, fragte Will geradeheraus.
»Ganz so weit würde ich nicht gehen«, erwiderte Charlotte. Will war schließlich trotz allem ihr Sohn, und sie war froh, ihn in der Stadt zu haben – solange seine Absichten ehrenhaft waren.
»Wo liegt dann das Problem?«, fragte er und warf die Hände in die Luft.
»Das Problem ist Grace Harding.«
»Grace?«, wiederholte er stirnrunzelnd. »Was hat Grace damit zu tun?«
Hätte sie ihn nicht so gut gekannt, hätte Charlotte sich wahrscheinlich gefragt, ob sie sich etwas einbildete. »Ich weiß, was du getan hast«, erklärte sie, nicht länger bereit, so zu tun, als wüsste sie nichts von seinem Verhalten. Bisher hatte sie nie etwas dazu gesagt, aber Will musste erkennen, dass er nicht jeden hinters Licht geführt hatte. »Das ist alles, was ich dazu zu sagen habe.«
Sein Blick wurde finster. »Ich schätze, Olivia konnte es gar nicht erwarten, dir alles brühwarm zu erzählen«, grummelte er sichtlich verärgert.
»Falsch. Ich habe mir selbst zusammengereimt, was zwischen euch beiden gelaufen ist.«
Will atmete langsam aus. »Ich versichere dir, Mutter, dass deine Befürchtungen gegenstandslos sind. Ich freue mich für Grace und … ihren Mann. Ich wünsche ihnen nur das Allerbeste. Grace hat ihre Wahl getroffen, und obwohl ich wünschte, sie hätte sich entschieden, mich zu heiraten …«
»Dich zu heiraten!«, fuhr Charlotte auf. »Du warst zu der Zeit mit Georgia verheiratet.«
»Wir wollten uns scheiden lassen«, entgegnete er vollkommen ruhig.
Charlotte wusste, dass er log. »Ach, Will«, flüsterte sie schweren Herzens. »Glaubst du ehrlich, du könntest mich so leicht belügen? Ich bin deine Mutter. Ich kenne dich.«
Er hatte es noch nie gemocht, zur Rede gestellt zu werden, schon gar nicht von ihr. Nun biss er sich auf die Unterlippe, genauso wie er es als kleiner Junge getan hatte. »Lass mich dir versichern, Mutter, ich habe nicht die Absicht, mich mit Grace einzulassen. Das meine ich ehrlich. Wie gesagt, ich wünsche ihr und Cliff, dass sie glücklich sind. Richtig oder falsch, ich habe sie verloren, und das akzeptiere ich. Ich trete zur Seite.«
»Meinst du das ernst?«, fragte Charlotte und schaute ihm in die Augen.
Will grinste und sah dabei kein bisschen wie ein Mann aus, der seine eigene Mutter belügen würde.
»Pfadfinderehrenwort.« Er breitete einladend seine Arme aus, und als sie seine Einladung annahm, umarmte er sie und drückte sie sanft.
Kurz danach ging er wieder fort, ohne zu sagen, wohin. Ben saß im Wohnzimmer auf seinem Sessel und las, und Harry, ihr Wachkater, lag auf seinem Schoß.
»Geht’s dir jetzt besser?«, fragte Ben, als sie sich zu ihm gesellte.
»Ich … glaube schon. Ich hätte es keinen Tag länger ausgehalten, ohne ihm zu sagen, was ich denke. Ich musste Will sagen, wie wenig mir sein Verhalten gefällt.«
Ben legte sein Buch, die Memoiren des Generals U. S. Grant, beiseite. »Vergiss nicht, ich weiß, wie es ist, Kinder zu haben, die einen enttäuschen. Du bist damit nicht allein, meine Liebe.«
Er sprach aus Erfahrung. Sein Sohn David hatte permanent finanzielle Probleme und kam oft zu ihm, um Ben um Geld zu bitten. Vernünftigerweise hielt er jedoch an seinem Entschluss fest, seinem Sohn kein Geld zu leihen, bevor er nicht alles zurückgezahlt hatte, was er sich bereits von ihm geborgt hatte.
»Manchmal wünschte ich mir, das Problem mit Will wäre ein finanzielles«, sagte sie. »Er hat mich gebeten, ihm zu vertrauen, was seine Absichten in Bezug auf Grace angeht. Ehrlich, ich hatte keine andere Wahl, als ihm zu sagen, dass ich das tun werde.«
»Das sehe ich auch so«, sagte Ben, während er Harry hingebungsvoll streichelte. Der Kater schnurrte vor Begeisterung. »Wir können nur abwarten.«
»Ja, aber was tue ich, wenn er sein Wort bricht?« So gern sie geglaubt hätte, dass Will sich ehrenhaft verhalten würde, tief in ihrem Inneren hegte sie den Verdacht, dass dem nicht so war.
»Charlotte, meine Liebe. Mach dich nicht unnötig verrückt. Jeder Tag bringt auch so schon genug Kummer mit sich. Nimm ihn beim Wort, bis du Grund hast, ihm zu misstrauen. Dann, wirklich erst dann, stell ihn zur Rede.«
Sie nickte. »Mit anderen Worten: Alles zu seiner Zeit.«
Ben streckte ihr die Hand entgegen. »Genau«, erwiderte er und lächelte.
Charlotte ging zu ihm hinüber und legte ihm den Arm um die Schultern. »Ich bin so froh, dich geheiratet zu haben. Sie sind ein sehr weiser Mann, Mr. Rhodes.«
Ben küsste ihre Finger. »Ich war klug genug, die schönste Frau des Universums zu heiraten. Jetzt zu etwas anderem: Hast du nicht heute Morgen etwas von einem Apfelkuchen gesagt?«
»Das habe ich«, erwiderte sie lachend.
»Apfelkuchen ist im August mein Lieblingskuchen, weißt du.«
»Ich dachte, das wäre im Oktober«, neckte sie ihn.
»Hmm. Du könntest recht haben. Aber wir wollen das nicht zu genau nehmen, oder?«
Charlotte konnte nicht anders. Sie lachte wieder. Oh, wie sie ihn liebte. Zwanzig Jahre nach dem Verlust ihres ersten Ehemanns, den sie angebetet hatte, hatte sie die Liebe wiedergefunden. Sie konnte nur hoffen, dass auch ihr Sohn eine Frau finden würde, die stark genug war, ihn trotz seiner Fehler zu lieben. Stark genug, sich trotz seiner Schwächen bei ihm Respekt zu verschaffen.
Wenn es eine solche Frau überhaupt gab.