Der Morgen hatte für Grace Harding nicht gut angefangen. Nach einer unruhigen Nacht war sie spät aufgewacht und musste sich beeilen, um Kaffee aufzubrühen, ihre Bücher und Papiere zusammenzusuchen und sich auf die Arbeit vorzubereiten. Cliff war dabei alles andere als hilfreich gewesen: Er wollte, dass sie im Bett blieb. Ungünstiger hätte sein Timing nicht sein können, denn sie musste um neun in der Stadtbücherei sein, weil sie heute diejenige war, die öffnete. Sie hastete im Schlafzimmer umher, zog sich so rasch wie möglich an, und Cliff nutzte die Gelegenheit, ihr zu sagen, dass sie nicht zu arbeiten brauchte. Im Gegenteil, er würde es begrüßen, wenn sie in Erwägung zöge, in den Ruhestand zu gehen.
Natürlich musste sie arbeiten! Grace war die leitende Bibliothekarin, und sie liebte ihren Job. Daran hatte sie Cliff auf dem Weg aus der Tür erinnert. Sie war schon fast bei der Bücherei angekommen, als ihr eingefallen war, dass sie das Haus verlassen hatte, ohne ihm einen Abschiedskuss zu geben.
Jetzt war der Vormittag zur Hälfte herum, und sie fühlte sich immer noch getrieben, leicht desorientiert und schlecht organisiert. Als sie in Bremerton ankam, wo sie eine Besprechung mit dem Bibliothekar hatte, der die neuen Bücher bestellte, entdeckte sie, dass sie ihre Notizen zu Hause liegen lassen hatte. Die Besprechung erwies sich als Zeitverschwendung, und das war ihre Schuld.
Als Grace in die Stadtbücherei von Cedar Cove zurückkam, musste sie zugeben, dass sie ernstlich über Cliffs Vorschlag, in den Ruhestand zu gehen, nachdachte. Bisher hatte sie ihr ganzes Erwachsenenleben lang gearbeitet. Nach der Geburt ihrer beiden Töchter hatte sie Abendkurse am Olympic Community College belegt. Später wechselte sie an die Universität von Washington, um ihren Abschluss in Bibliothekswissenschaft zu machen. Als sie den in der Tasche hatte, hatte sie das Glück, eine Anstellung in der Stadtbücherei zu finden.
Die frühen Jahre waren gute für Dan und sie gewesen. Er hatte sich an der Erziehung und Versorgung der Kinder beteiligt und sie unterstützt, als sie wieder zum College und zur Uni ging. Obwohl sie stets knapp bei Kasse waren und trotz der Probleme, mit denen Dan zu kämpfen hatte, wusste Grace, dass er sie über alles liebte. Erst als Maryellen und Kelly zur Schule kamen und älter wurden, wurden seine depressiven Phasen allmählich unerträglich. Sie überschatteten ihre Ehe und ihr Familienleben und wurden immer schlimmer, bis er schließlich verschwand.
An ihre Ehe mit Dan zu denken, ohne in Trauer und Niedergeschlagenheit zu verfallen, fiel ihr schwer. Grace verstand nicht, warum ihre Gedanken an einem so geschäftigen Tag wie heute ausgerechnet darum kreisten.
»Grace.« Loretta, eine ihrer Kolleginnen, betrat ihr Büro. »Vorn wartet ein Herr, der dich sprechen möchte.«
»Hat er gesagt, wie er heißt?«
»Nein, er sagte nur, er sei ein alter Freund der Familie und wolle einen Büchereiausweis beantragen.«
In dem Moment wusste Grace, dass es sich nur um Will Jefferson handeln konnte.
»Er macht einen freundlichen Eindruck«, setzte Loretta hinzu.
Es war wohl unvermeidlich, Will wiederzubegegnen. Früher oder später musste das einfach passieren. Also straffte sie die Schultern und folgte Loretta nach vorn.
Und richtig. Will Jefferson lehnte träge am Tresen, als hätte er alle Zeit der Welt. Als er Grace erblickte, lächelte er und stellte sich gerade hin.
Olivias älterer Bruder war schon als junger Mann bemerkenswert gut aussehend gewesen, und die Jahre hatten nichts daran geändert. Er machte immer noch einen flotten, selbstsicheren Eindruck. Als Teenager war Grace hoffnungslos in Will verschossen gewesen. Damals hatte er sie kaum zur Kenntnis genommen, was vermutlich der Grund dafür gewesen war, dass sie sich so geschmeichelt gefühlt hatte, als er nach Dans Tod Interesse an ihr zeigte.
»Grace.« Er schenkte ihr sein freundlichstes Lächeln. »Du siehst großartig aus, wie immer.«
Und er war lässig und charmant wie immer. »Hallo, Will. Du bist also gekommen, um dir einen Büchereiausweis zu holen?« Sie dachte gar nicht daran, Höflichkeiten mit ihm auszutauschen oder ihm das Gefühl zu geben, sie würde sich über seine Anwesenheit freuen. Wenn er einen Büchereiausweis haben wollte, konnte er den auch ohne ihre Hilfe bekommen.
»Ich war mir nicht sicher, ob du weißt, dass ich in der Stadt bin«, fuhr er offenbar unbeeindruckt von ihrer kurz angebundenen Reaktion fort.
»Ich habe davon gehört.«
»Ich vermute, Olivia hat es dir erzählt.«
Grace reagierte nicht darauf. »Kann ich dir mit irgendetwas helfen?«
»Ja, tatsächlich, das kannst du.« Will setzte jetzt seinen ganzen Charme ein. »Was hältst du davon, mit mir zu Mittag zu essen? Wir haben ein paar Dinge zu besprechen, und es wäre gut, reinen Tisch zu machen.«
Genau das konnte Grace niemals zulassen. »Ich denke nicht. Nur für den Fall, dass du es vergessen hast: Ich bin verheiratet.«
Will runzelte die Stirn. »Ich lade dich nicht zum Mittagessen ein, um mich mit dir zu verabreden oder deinen Mann zu ärgern. Ich glaube nur, wenn wir beide in derselben Stadt leben, wäre es am besten, darüber zu reden, was passiert ist. Ich weiß, dass du die Sache bereust, und offen gesagt, mir geht es auch so.«
Er klang aufrichtig, und einen Moment geriet Grace ins Schwanken.
»Cliff neigt doch nicht zu Eifersucht, oder?«
»Natürlich nicht«, erwiderte sie auf seine implizite Unterstellung, dass Cliff besitzergreifend und unvernünftig war. »Aber ich habe dir nichts zu sagen. Deine Schwester ist meine beste Freundin, abgesehen davon haben wir nichts miteinander gemein.«
»In Ordnung«, murmelte Will. »Das kann ich akzeptieren.« Er wirkte enttäuscht. »Übrigens, ich habe eine Wohnung in Cedar Cove gemietet, in der Nähe des Parks am Wasser.«
Irgendwie empfand sie es nicht als überraschend, dass er keine fünf Minuten Fußweg von der Stadtbücherei entfernt wohnte.
»Ich war schon immer eine unersättliche Leseratte«, fuhr er fort.
Mit anderen Worten: Er verkündete ihr gerade, dass er vorhatte, oft in die Stadtbücherei zu kommen. Großartig, einfach großartig.
»Lass es mich wissen, wenn du etwas brauchst«, erwiderte sie, »und ich sorge dafür, dass sich eine der Angestellten darum kümmert.« Sie wollte klarstellen, dass sie nicht jederzeit für ihn zur Verfügung stand, wenn er beschloss, sich ein Buch ausleihen zu wollen.
Es fühlte sich gut an, Will Jefferson zu zeigen, dass sie völlig über ihn hinweg war, und das schon sehr lange. Ohne es zu wollen, hatte er ihr ein paar wertvolle Lektionen über ihr Leben erteilt. Schmerzhafte Lektionen. Außerdem würde sie seinetwegen nicht ihre Ehe gefährden, und je eher er das begriff, desto besser.
»Nett, dich wiederzusehen, Will«, sagte sie beiläufig. »Ich hoffe, du nutzt die Bücherei gut.«
»Genau das habe ich vor«, erwiderte er leise und blieb stehen, als hätte er noch mehr zu sagen.
Nicht bereit, ihm zuzuhören, wandte Grace sich ab und eilte zurück in ihr Büro. Sie stellte fest, dass ihre Hände zitterten. Obendrein wusste Cliff immer noch nicht, dass Will nach Cedar Cove gezogen war.
An diesem Abend traf Grace sich mit Olivia zu ihrem wöchentlichen Aerobic-Kurs. Hinterher fragte ihre Freundin sie beinahe sofort, ob etwas nicht stimme – Olivia kannte sie einfach zu gut.
»Warum glaubst du, dass irgendetwas nicht stimmt?«, erwiderte Grace und mied es, ihre Freundin anzusehen, als sie sich nach dem Training umzogen. Sie standen nebeneinander in der Umkleide und beachteten die Frauen um sie herum nicht. Grace beugte sich vor, um ihre Schuhe auszuziehen.
»Erstens, du hast dich während des ganzen Kurses nicht ein einziges Mal beklagt.«
»Ich beklage mich nie«, wehrte Grace empört ab.
»Du machst Witze, oder? Jedes Mal, wenn wir kaum hier sind, sagst du mir, dass es angenehmere Wege geben muss, in Form zu bleiben. Und wenn wir in der Halle sind, schnaufst und stöhnst du, als müsstest du jeden Moment zusammenbrechen.«
Grace richtete sich auf und stemmte die Hände in die Hüften. »Das ist überhaupt nicht wahr!«
»Oh doch.«
Grace musste unwillkürlich lächeln. »Wir klingen wie damals in der Highschool.«
»Das ist nicht wahr.«
Jetzt lachten sie beide und wandten sich zum Gehen. »Cliff will, dass ich in den Ruhestand gehe«, erzählte Grace, als sie zum Parkplatz liefen.
»Ruhestand?«, fragte Olivia entgeistert. »Dafür bist du noch viel zu jung.«
»Nicht wegen des Alters.«
Olivia blieb neben ihrem Auto stehen und schaute sie fragend an.
»Cliff würde gern reisen und möchte, dass ich mitkomme«, fuhr Grace fort.
Olivia nickte, öffnete die Tür ihres Wagens und warf ihre Sporttasche hinein. »Kommt das nicht etwas plötzlich?«
»Nicht wirklich.«
Olivia zögerte kurz. »Das hat doch nicht etwa was mit Will zu tun, oder?«
»Lustig, dass du deinen Bruder erwähnst«, sagte Grace und entriegelte ihr eigenes Auto. »Er war heute Morgen in der Bücherei.«
Verärgert presste Olivia die Lippen aufeinander. »Und was wollte er?«
»Einen Büchereiausweis. Sagte er jedenfalls.« Grace lehnte sich gegen ihr Auto. »Anscheinend brauchte er dafür meine Hilfe, denn er hat darum gebeten, mit mir persönlich zu sprechen.«
Olivia verschränkte die Arme vor der Brust. »Na klar doch.«
»Dann hat er mich zum Mittagessen eingeladen – angeblich, um darüber zu reden, was zwischen uns geschehen ist. Ich habe abgelehnt. Und darauf hingewiesen, dass ich inzwischen verheiratet bin.«
»Das weiß er längst«, murmelte Olivia.
»Ich habe ihm klipp und klar gesagt, dass ich nicht daran interessiert bin, unsere Beziehung wieder aufzunehmen.« Grace genoss es, das zu erzählen.
»Gut«, meinte Olivia aufmunternd und nickte dazu.
Grace freute sich über ihre Reaktion, machte sich aber immer noch Sorgen wegen Will. Wer wusste schon, was er als Nächstes tun würde? »Ich glaube nicht, dass es ihn kratzt, dass ich verheiratet bin.«
»Warum sollte es auch?«, meinte Olivia verächtlich. »Sein Ehegelübde hat ihm offensichtlich nicht viel bedeutet. Georgia hat mir erzählt, dass mein Bruder immer wieder Affären hatte. Ich verstehe nicht, warum sie sich das so lange hat bieten lassen.«
Das Wissen darum, dass sie beinahe selbst zu einer seiner Affären geworden wäre, belastete Grace. Die Angelegenheit war ihr immer noch peinlich. Wie dumm sie doch gewesen war. Wie leicht sie über ein Verhalten hinweggesehen hatte, von dem sie wusste, dass es falsch war. Sie hatte ihm so unbedingt glauben wollen, dass sie sämtliche Prinzipien über Bord geworfen hatte, mit denen sie aufgewachsen war.
»Er hat mir gesagt, er hätte vor, oft in die Bücherei zu kommen«, fuhr sie fort.
»Nein!« Olivia reagierte geschockt.
»Ich habe ihm gesagt, wenn er irgendetwas braucht, soll er mich das wissen lassen«, fügte Grace hinzu und genoss die Verwirrung in der Miene ihrer Freundin.
»Nein!«
»Doch. Und dann habe ich ihm gesagt, dass ich gern jemanden bitten werde, sich darum zu kümmern.«
Ganz langsam stahl sich ein Lächeln auf Olivias Lippen. »Jetzt bin ich bereit für Kaffee und Kuchen.«
»Ich auch.«
Fünf Minuten später trafen sie sich am Pancake Palace. Goldie sah, wie sie auf den Parkplatz fuhren, und als sie das Restaurant betraten, hatte sie ihnen bereits Kaffee eingeschenkt.
»Kokosnusscreme?«, fragte sie, als Grace und Olivia in ihrer Lieblingssitznische Platz nahmen.
Beide nickten.
»Was muss ich tun, um euch dazu zu überreden, mal etwas anderes zu probieren?« Doch Goldie wartete die Antwort nicht ab, sondern ging kopfschüttelnd zurück in die Küche.
»Mir ist aufgefallen, dass du meine Frage nicht beantwortet hast«, sagte Olivia und ließ ihren Autoschlüssel in ihre Handtasche fallen. »Hat das Gerede, sich zur Ruhe zu setzen, etwas mit dem Besuch meines Bruders zu tun?«
Grace ließ sich die Frage durch den Kopf gehen, ein wenig aufgeschreckt durch Olivias Andeutung.
»Du hast erwähnt, dass Cliff möchte, dass du in den Ruhestand gehst, und praktisch im selben Atemzug erzählt, dass Will in der Bücherei war.«
Hatte sie das? Vielleicht hingen die beiden Dinge tatsächlich zusammen, und sie hatte das nur nicht erkannt. Die Vorstellung, sie könnte ihren Ruhestand in Erwägung ziehen, nur um Will aus dem Weg zu gehen, brachte sie ins Grübeln.
Nein, so schwach oder feige war sie nicht. Nein, sie würde nicht zulassen, dass er ihr ins Leben pfuschte. Diese Macht über sich würde sie ihm nicht geben.
Olivia griff nach ihrem Kaffeebecher. »Will hat sich für einiges zu verantworten«, sagte sie grimmig.
»Das hat nichts mit ihm zu tun«, widersprach Grace, und zugleich wurde ihr klar, dass das der Wahrheit entsprach.
Zum Glück brachte Goldie ihnen in diesem Moment den Kuchen an den Tisch, sodass sie das Thema wechselten.
»Mm.« Olivia genoss ihren ersten Bissen mit geschlossenen Augen. »Wie hat übrigens Maryellen die Neuigkeiten aufgenommen?«
»Welche Neuigkeiten?« Grace blickte fragend von ihrem Kuchenstück auf.
»Hast du heute Morgen die Zeitung nicht gelesen? Die Kunstgalerie in der Harbor Street schließt am ersten Oktober.«
»Oh, nein.« Wenn sie an diesem Morgen nicht so in Eile gewesen wäre, hätte Grace einen Blick in die Zeitung werfen können. »Ich hatte Gerüchte gehört, aber gehofft, dass es nicht so weit kommen würde.«
Olivia nickte.
»Ich rufe sie morgen an und erzähle dir dann, was sie dazu sagt.« Das war bestimmt eine bittere Enttäuschung für ihre Tochter und ihren Schwiegersohn. Maryellen hatte maßgeblich zum Erfolg der Galerie beigetragen, und Jon verkaufte immer noch einige seiner Werke dort.
Grace wünschte, Maryellen hätte die Zeit, die Energie und das nötige Geld, um die Galerie selbst zu kaufen, aber im Moment war das absolut nicht möglich.