13. KAPITEL

Brynne starrte Alejandro verständnislos an, als er eine Reisetasche aus dem Schrank nahm und zu packen begann.

Sie waren gerade zusammen im Bett gewesen, hatten sich leidenschaftlich geliebt, und jetzt wollte Alejandro sie allein lassen, als sei nichts geschehen?

„Alejandro …“

„Ich habe im Augenblick absolut keine Zeit“, unterbrach er sie schroff, während er die letzten Sachen in seine Tasche legte. „Ich muss meinen Piloten anrufen und ihm sagen, dass er das Flugzeug sofort fertig machen soll.“

Sie konnte es immer noch nicht glauben, als er schon zum Telefon griff und mehrere Tasten drückte. „Du willst auf der Stelle abreisen?“ Ohne mit ihr über das zu sprechen, was gerade zwischen ihnen geschehen war? „Da bleibt nicht viel Zeit, um Michael aufzuwecken und unsere Sachen zu packen …“

Irritiert drehte er sich zu ihr um. „Warum willst du eure Sachen packen?“

„Damit wir dich begleiten können!“

Er sollte sie mit nach Australien nehmen? Damit sie im Hotel auf ihn wartete, wann immer er ein paar Minuten Pause hatte? Die Verhandlungen würden zäh werden, und es würde losgehen, sobald er in Australien eintraf.

Nein!

Er hatte keine Ahnung, was heute Abend zwischen Brynne und ihm passiert war. Sie sah so reizend aus, als sie unten auf dem Sofa schlief, und lag so weich und warm in seinen Armen, als er sie nach oben trug. Er konnte gar nicht anders, als sie in sein Schlafzimmer zu bringen und sie zu lieben.

Aber er wusste, dass Brynne nicht wie die Frauen war, mit denen er seit Francescas Tod zu tun gehabt hatte.

Erstens war sie die Tante seines Sohnes.

Doch vor allem war er Brynnes erster Liebhaber gewesen! Er war verunsichert und wusste nicht, wie er mit dieser Entdeckung umgehen sollte.

Seine plötzliche Abreise musste ihr grausam erscheinen, doch er brauchte ein wenig Zeit für sich. Er musste sich darüber klar werden, wie es nach dieser unerwarteten Entdeckung weitergehen konnte. Wenn es überhaupt weiterging …

„Sei nicht albern, Brynne.“ Kopfschüttelnd sah er sie an. „Ich habe nicht vor, dich und Michael mitzunehmen.“

„Aber …“

„Consuelo?“, sagte Alejandro ins Telefon, als er seinen Gesprächspartner endlich erreichte. In schnellem Spanisch gab er eine Reihe von Anweisungen, ehe er den Anruf grußlos beendete und sich wieder an Brynne wandte.

Doch sie war inzwischen gegangen, und nichts deutete mehr auf ihre Anwesenheit hin. Nur die zerwühlten Bettlaken zeigten, dass er vor wenigen Minuten im Bett gelegen hatte. Mit ihr.

Er holte tief Luft und strich sich das Haar zurück. Er wusste, dass er sich gerade nicht besonders freundlich verhalten hatte, aber die Entdeckung, dass sie noch unschuldig gewesen war, brachte ihn vollkommen durcheinander.

Wahrscheinlich zum ersten Mal in seinem Leben wusste er nicht, was er sagen oder tun sollte. Robertos Anruf bot ihm die günstige Gelegenheit zur Flucht. Ihr plötzliches Verschwinden aus seinem Schlafzimmer schien darauf hinzudeuten, dass sie ebenfalls Abstand brauchte.

Er räumte oberflächlich auf und zog das verräterische Bettlaken ab. Als er kurz darauf in die große Halle kam und dort Brynne stehen sah, konnte er seine Missbilligung nicht verbergen.

Brynne hatte sich angezogen, sie trug eine Jeans und ein enges Top. Die Haare waren frisch gebürstet und zusammengebunden. Alejandro hatte gehofft, ihr vor seiner Abreise nicht noch einmal zu begegnen. Er brauchte Zeit, um zu begreifen, was zwischen ihnen geschehen war. Erst dann würde er mit ihr darüber sprechen können.

Brynne sah seine Überraschung ebenso wie sein Missfallen, weil sie ihn am Fuß der Treppe erwartete, und das Herz wurde ihr schwer.

Und mit diesem Mann hatte sie gerade geschlafen. Ihm war sie so nahe gewesen wie keinem anderen Menschen je zuvor. Hier und da tat ihr Körper immer noch weh vom ungewohnten Liebesspiel.

Dass er nicht mit ihr darüber reden wollte, machte ihr nichts aus, im Gegenteil. Denn sie war sich absolut sicher, dass er diesen Vorfall bedauerte, während für sie das Erlebnis in seinen Armen wunderbar gewesen war; einfach unglaublich, viel besser, als sie es sich jemals vorgestellt hatte.

Sie wusste, dass es an Alejandros Erfahrung lag. Doch gerade seine Erfahrenheit bedeutete ja, dass sie selbst nur eine weitere Eroberung für ihn darstellte. Für sie war der heutige Abend vielleicht etwas ganz Besonderes, aber Alejandro schien es überhaupt nichts zu bedeuten. Warum sonst hatte er es jetzt so eilig, von ihr fortzukommen?

Traurig, aber wahr.

Ebenso wahr wie die Erkenntnis, dass ein simpler Anruf von seinem Bruder ausreichte, um aus dem feurigen Liebhaber den zielstrebigen Geschäftsmann zu machen, für den sie ihn schon immer gehalten hatte. Und der er zweifelsohne immer bleiben würde.

Er sah demonstrativ an ihr vorbei und holte tief Luft. „Es ist mir klar, dass du glaubst, wir müssten reden …“

„Nein, das denke ich ganz und gar nicht“, erklärte sie entschlossen. „Im Gegenteil, ich denke, es ist für uns beide das Beste, wenn wir den heutigen Abend aus unserem Gedächtnis streichen. Vergiss es ganz einfach“, fügte sie mit rauer Stimme hinzu.

Einen Moment lang vergaß Alejandro sein eigenes Unbehagen. Was sollte er aus seinem Gedächtnis streichen? Ihr überwältigendes Liebesspiel? Den Moment, in dem sie in all ihrer Schönheit in seinen Armen lag? Ihre Erregung, die ihn alle Vernunft vergessen ließ?

Er musterte sie jetzt forschend, doch aus den verschlossenen Gesichtszügen konnte er kein Gefühl herauslesen.

„Vergiss es“, hatte sie gesagt. War sie in der Lage, diesen Abend zu vergessen? Würde sie diese Stunden mit ihm einfach beiseiteschieben können, wenn es für sie Zeit war, nach England zurückzukehren? Würde sie ihn vergessen?

Trotz seiner eigenen Unsicherheit musste er feststellen, dass ihm dieser Gedanke ganz und gar nicht behagte.

„Und was ist, wenn unser Beisammensein ungeahnte Folgen hat?“

Sie warf ihm einen kurzen Blick zu. „Ich glaube nicht …“ Sie brach ab und erbleichte, als ihr die Bedeutung seiner Worte aufging. „Es gibt absolut keinen Grund, anzunehmen …“

„Es gibt auch keinen Grund, nicht anzunehmen“, unterbrach er sie. Dass sie so tat, als hätte ihr Liebesspiel überhaupt keine weiteren Konsequenzen, ärgerte ihn nur noch mehr. „Habe ich recht?“, hakte er drängend nach.

Brynne wusste natürlich, dass er von einer Schwangerschaft sprach. Aber das war nicht sehr wahrscheinlich, oder?

Doch immerhin …

„Ich habe ganz offenkundig nicht verhütet – und du?“, bohrte Alejandro hartnäckig nach.

Sie wünschte, er würde nicht länger auf diesem Punkt beharren, denn sie hatte weiß Gott schon genug andere Sorgen. Zum Beispiel, was er jetzt wohl von ihr hielt. Und, was noch wichtiger war: Was dachte sie jetzt von ihm?

Denn wenn ihr der heutige Abend etwas gebracht hatte, dann war es die Einsicht, dass eine Zukunft ohne Alejandro ziemlich freudlos sein würde. Und leider war sie sich ziemlich sicher, dass es genau so kommen würde.

„Nein“, erwiderte sie mit ausdrucksloser Stimme. „Doch das heißt noch lange nicht, dass es … irgendwelche Nachwirkungen geben wird.“

„Würdest du es mir erzählen, wenn es welche gäbe? Oder würdest du wie Joanna das Kind von mir fernhalten?“

Angesichts der Verbitterung, die aus diesen Worten sprach, zuckte Brynne zusammen. Sie zweifelte nicht daran, dass er Joannas Entscheidung respektierte, ihm nichts von Michael zu erzählen. Doch sein harter Tonfall zeigte ihr auch, dass er sich trotzdem über Joanna ärgerte. Und wenn sie es genauso machen würde, wäre er ebenfalls wütend.

„Ich glaube, da gibt es einen kleinen Unterschied, meinst du nicht?“, sagte sie trocken. „Michael wird immer mein Neffe bleiben, und ich hoffe und erwarte, dass ich ihn auch in Zukunft besuchen kann.“ Sie spürte seine Anspannung. „Unter diesen Umständen wäre es schwierig, dir die Existenz eines Kindes zu verschweigen.“

Die Antwort war nicht das, was er hören wollte. Er wusste immer noch nicht, warum Brynne mit ihm geschlafen hatte. Was empfand sie? Er spürte instinktiv, dass er die Wahrheit erfahren musste, um einschätzen zu können, was wirklich zwischen ihnen geschehen war. Doch ihre Weigerung, darüber zu reden, deutete darauf hin, dass auch sie sich im Unklaren war.

„Wie wirst du Michael meine plötzliche Abreise erklären?“, fragte er schließlich.

Über dieses Problem dachte sie nach, seit sie verstanden hatte, dass Alejandro allein nach Australien reisen würde.

„Die Wahrheit“, sagte sie kurz angebunden. „Dass du plötzlich beruflich wegmusstest. Ich schätze, daran wird er sich in Zukunft ohnehin gewöhnen müssen.“

Er ignorierte ihre Stichelei. „Wäre es dir lieber, wenn ich nicht fahre? Und dass wir dort weitermachen, wo wir aufgehört haben?“, fügte er hinzu.

Ihre Wangen brannten. „Im Gegenteil“, stieß sie hervor. „Ich kann es kaum erwarten, dass du endlich gehst.“

„Dann sind wir also wenigstens in diesem Punkt einer Meinung.“

Brynne biss die Zähne zusammen. Sie war fest entschlossen, nicht in seiner Gegenwart zusammenzubrechen. Das hatte Zeit, bis sie allein war. Allein mit den quälenden Erinnerungen an die Zeit mit ihm.

Ihr Mund zuckte. „Und was soll ich Antonia erzählen, wenn sie anruft oder vorbeikommt?“

„Das wird sie nicht“, erklärte er knapp.

„Und wenn doch?“ Bei dem Gedanken, Antonia noch einmal zu begegnen, verzog sie das Gesicht.

„Weder Antonia noch ihr Vater werden anrufen“, versicherte er so eindringlich, dass sie nicht mehr daran zweifeln konnte.

Natürlich, Alejandro würde Antonia selbst anrufen, sobald er in Australien angekommen war, vielleicht sogar schon früher.

„Gut.“ Sie nickte. „Also, du wolltest doch gehen, oder?“ Sie wünschte verzweifelt, er möge endlich verschwinden, bevor sie die Tränen nicht länger zurückhalten konnte und sich in eine peinliche Lage brachte.

„Brynne …?“

„Um Himmels willen, würdest du bitte endlich gehen!“, rief sie ungeduldig. Die geballten Fäuste waren so verkrampft, dass sich die Nägel schmerzhaft in die Handflächen bohrten. Wenn er nicht bald ging, würde sie noch eine Närrin aus sich machen.

Er merkte, dass er sie jetzt, wo der Zeitpunkt gekommen war, nicht mehr verlassen wollte. Das war natürlich albern, denn vor wenigen Minuten noch hatte er sich nichts sehnlicher gewünscht, als von ihr wegzukommen. Er wollte den Erinnerungen an die zärtliche Stunde mit ihr entfliehen und versuchen zu verstehen, was zwischen ihnen geschehen war. Wie würde sich ihre Beziehung in Zukunft weiterentwickeln?

„Also gut“, sagte er. „Maria kennt meine Telefonnummer in Australien, falls du sie brauchst“, fügte er nach einer kurzen Pause hinzu.

„Ich glaube nicht, dass es dazu kommen wird“, erklärte sie, ohne ihn anzuschauen. Ihr Gesichtsausdruck war wie versteinert, als könnte sie es gar nicht erwarten, dass er endlich verschwand.

Alejandro warf ihr einen letzten Blick zu, dann stürmte er aus der Villa, ohne sich noch einmal umzudrehen, denn er wusste, dass das sein Untergang wäre. Wenn er Brynne anschaute, würde er sich wieder an ihre Zärtlichkeit und ihre Leidenschaft erinnern – was nur dazu führen würde, dass er sie in die Armen nehmen und vergessen würde, dass er Zeit für sich brauchte. Er brauchte sie nur anzusehen, und sein Verlangen wurde neu entfacht.

Unbeweglich stand Brynne da.

Sie konnte sich einfach nicht bewegen.

Denn als Alejandro überstürzt das Haus verließ, begriff sie, dass sie ihn liebte. Verzweifelt und leichtsinnig hatte sie sich mit Haut und Haaren in Alejandro Santiago verliebt.