B evor ich zu meinem Motel zurückkehrte, ging ich noch für zwei Stunden durch die Stadt, da ich mir einen Eindruck vom Nachtleben verschaffen wollte. Ich hielt bei ein paar Spelunken. Eine war eine Country-Bar. Die Band dort spielte ein paar Rocksongs, die nach Country klangen. Sie waren gar nicht so schlecht, eine lokale Band, von der ich noch nie gehört hatte und wahrscheinlich auch nie wieder hören würde. Doch es machte Spaß, ihnen zuzuhören.
Die zweite Bar war eine Musikkneipe voller alternder Hipster. Beide Bars waren gut besucht, nicht gerammelt voll, wo sich die Leute von einer Wand zur anderen drängten, doch gut besucht. Ich nutzte die Gelegenheit, und bestellte mir in der Hipster-Bar ein Bier – keine Shots, keine starken Getränke, nur ein Bier. Ich wollte mich nicht betrinken.
Nachdem ich die Bar verlassen hatte, ging ich zum See und blickte hinaus aufs ruhige Wasser. Ich spürte die warme Brise, die angenehme Luft auf dem Gesicht und am Hals. Jarvis Lake war ein künstlich angelegter See, und solche Seen waren immer ruhig. Für hohen Wellengang gab es keinen Grund. Auf der anderen Seite sah ich Lichter von Häusern und Autos. Ein paar Boote schwammen auf dem Wasser, mit kleinen Blinklichtern, um anderen Booten ihre Position zu zeigen.
In der Nähe war ein Steg, an dem auch jetzt, nachts, Leute angelten. Aus der Ferne hörte ich Stimmen und Gelächter. Ich blickte nach links und sah das Eckhart Medical Center. Ich ging darauf zu, da ich neugierig geworden war.
Black Rock war eine vergleichsweise arme Stadt. Die Gebäude im Ort waren alt, doch gut in Schuss und wurden genutzt. Es gab kaum welche, die jünger als zehn Jahre alt waren. Die meisten neueren Geschäfte befanden sich in alten, renovierten Häusern.
Das Eckhart Medical Center war eine Ausnahme. Die Gebäude waren hübsch –und teuer. Sie waren weiß gestrichen – frisch, wie es schien – und hatten an allen Fenstern geschlossene grüne Fensterläden. Nichts davon war ungewöhnlich, doch die Sicherheitsvorkehrungen machten mich stutzig.
Ich ging näher zu dem Grundstück, so nah es ging, ohne Misstrauen zu erregen. Es gab zwar keine Wachtposten, doch abgesehen von der Vorderseite war überall Stacheldrahtzaun. Nur an den beiden Eingängen gab es keine solchen Sicherheitsmaßnahmen. Der eine Eingang war dunkel, mit einer kleinen Glastür ohne sichtbare Markierungen oder Hinweise. Wahrscheinlich für Mitarbeiter. Am anderen Eingang befand sich eine automatisch öffnende Doppeltür mit einer schwarzen Gummimatte davor. Auf dem Schild darüber stand: „24-Stunden-Gemeindeklinik.“ Wie die erste Kellnerin, Hazel, erzählt hatte, war das die medizinische Einrichtung der Stadt.
Sowohl Hank als auch Hazel hatten erzählt, dass man hier Tierforschung betrieb. Doch welche Tiere erforderten Sicherheitskameras und einen Stacheldrahtzaun? Vielleicht ging es eher darum, Aktivisten fernzuhalten, als Tiere an der Flucht zu hindern.
Noch etwas anderes wurde mir bewusst, vielleicht deshalb, weil ich bereits eine Menge Leute am Tag und am Abend gesehen hatte: Es gab hier keine Minderheiten – ich hatte keine einzige schwarze Person gesehen, keine Asiaten, keine Ausländer, und nur eine Latina. Black Rock war eine Kleinstadt, doch hier lebten sicher ein paar Tausend Menschen. Wie konnte es sein, dass alle weiß waren? Wir hatten 2014 und nicht 1955, doch Maria war die einzige Angehörige einer Minderheit, die ich gesehen hatte. In jeder Bar, jedem Diner, Café, Geschäft oder auf der Straße hatte ich nur Weiße gesehen. Die Südstaaten und vor allem Mississippi hatten einen schlechten Ruf wegen des hier herrschenden Rassismus. Doch das war vielleicht vor vierzig oder mehr Jahren so gewesen, denn nach meiner Erfahrung waren die Leute in Mississippi heute genauso tolerant wie jeder andere auch.
Es war seltsam.
Ich streifte meine Neugierde über das Eckhart Medical Center ab und kehrte zurück zum Motel.
* * *
Als ich wieder auf meinem Zimmer war, bemerkte ich, dass ich vergessen hatte, mir neue Kleidung zu kaufen. Dann würde ich am nächsten Tag dieselben Sachen tragen müssen. Doch ich wollte nicht wieder darin schlafen und am nächsten Tag dreckige Sachen tragen. Deshalb zog ich mich aus und wusch die Sachen im Waschbecken. Ich hatte das noch nie zuvor gemacht, nahm aber an, dass es so gehen würde. Schließlich wusch man – oder eher die Frauen – schon seit Tausenden von Jahren die Wäsche in Flüssen und Bächen.
Ich reinigte die Jeans zunächst mit Shampoo aus der kleinen Flasche in der Dusche. Dabei brauchte ich fast den ganzen Inhalt. Ich war mir nicht sicher, ob das ein gutes Waschmittel war, doch es war sicher besser, als eine schmutzige Hose zu tragen.
Ich drehte die Jeans in ein Handtuch, um etwas Feuchtigkeit auszuwringen, dann warf ich sie über die Duschstange, damit sie dort trocknen konnte. Als nächstes nahm ich mein Shirt und spülte es im Waschbecken aus. Für die restliche Kleidung nahm ich Seife und bewahrte ein bisschen Shampoo für meine Haare auf. Das Shirt war einfacher zu waschen als die Jeans. Es war aus Baumwolle und nahm die Seife schneller auf als die Jeans. Ich ließ das heiße Wasser laufen und seifte das Shirt von beiden Seiten ein. Dann spülte ich es aus, wrang es trocken und zog die Enden in verschiedene Richtungen, damit es beim Trocknen nicht faltig wurde. Schließlich hängte ich es neben die Jeans. Danach reinigte ich die Socken und ließ sie an der Seite des Beckens.
Ich wusch mir das Gesicht und merkte, dass ich wie erschlagen war. Ich wollte schlafen. Ich konnte am Morgen duschen und saubere Kleider anziehen, obwohl sie dann womöglich noch nicht ganz trocken waren.
Ich zog meine Unterwäsche aus. Ich wollte sie nicht reinigen und gewiss auch nicht wieder tragen. Deshalb warf ich sie in den Mülleimer.
Bevor ich ins Bett ging, blickte ich in den Spiegel und schlug mir vor die Stirn. Toll, Widow! Die Zahnbürste hast du völlig vergessen!
Ich musste wohl noch einiges über das Nomadenleben lernen. In der Navy hätte ich einfach gefragt oder wäre zum Proviantmeister gegangen. Ich ging zum Bett, zog die Decke zurück und glitt hinein. Dann machte ich das Licht aus. Es wurde dunkel.
* * *
Um 1:37 Uhr wachte ich auf. Ich wusste es so genau, weil ich auf mein Handy blickte, bevor ich aufstand, um nachzusehen, woher der Lärm kam. Später dachte ich daran, dass ich um diese Uhrzeit Dr. Chris Matlind kennenlernte – und die drei Männer, die ihm körperliche Gewalt antun wollten.
Jedenfalls hörte ich zuerst Stimmen und Rufe und Geräusche durch die Wand. Es klang nach Misshandlung. Ein paar Leute sprachen mit so starkem Akzent, dass es sich fast anhörte wie unterdrückte Comicstimmen.
Zunächst wusste ich gar nicht, was los war.
Ich ging ins Badezimmer und nahm meine Hose. Sie war noch immer sehr feucht. Ohne jegliche Heizquelle hatte ich nicht erwartet, dass sie schon ausreichend trocken war, um sie anzuziehen, doch ich musste irgendetwas tragen. Ohne Hose konnte ich kaum zu meinen Nachbarn gehen. Also schlüpfte ich in die feuchte Jeans und knöpfte sie zu. Kein Gürtel, keine Schuhe, kein Shirt. Ich wurde zu wütend, um mir noch etwas anzuziehen. Ich sah nicht einmal nach, ob mein Shirt schon trocken war.
Flüchtig sah ich mich im Spiegel an. Ich war noch immer wie im Halbschlaf. Mein Gesicht wirkte erschöpft, und meine Beine waren feucht von der Jeans. Die Haare hingen mir ins Gesicht, und ich sah aus wie ein Wesen aus einem Albtraum, wie ein Höhlenmensch mit einem einzigen Gedanken in seinem Primatenhirn: töten. Ohne zu lügen, genau so fühlte ich mich auch.
Ich stürmte barfuß aus meinem Zimmer hinüber zu Zimmer dreizehn. Die Tür war halb geöffnet. Als ich näherkam, hörte ich die Stimmen besser. Ein Mann sprach deutlich, klang sogar gebildet, doch seine Stimme war nasal, als würde er sich die Nase halten. Er sagte: „Schlagt mich bitte nicht mehr. Ihr habt mir die Nase gebrochen.“ Und seine Stimme war begleitet von nasalen Geräuschen.
Eine andere Stimme sagte: „Du hast ihm die Nase gebrochen, Daryl.“ Der Tonfall war alles andere als mitleidig. Es klang vergnügt.
Eine andere, tiefere Stimme sagte: „Ich weiß, was er gemeint hat, Jeb. Nimm seine Arme. Dieser Stadtjunge kommt jetzt in den Truck.“
Die nasale Stimme sagte: „Ich will sie nur zurück. Bitte schlagt mich nicht mehr. Gebt sie mir nur, und wir werden gehen.“
Eine dritte, bisher unbekannte Stimme sagte: „Daryl, lass mich ihn mit dem Knüppel schlagen.“
Daryl sagte: „Nein, Junior. Ich glaube, Pa wird ohne gebrochene Knochen mit ihm reden wollen. Außerdem sollten wir ihn in den Truck bringen, anstatt ihn zu tragen.“
Jeb sagte: „Genau, Junior, er kohopriert ja. Kein Grund, ihm eins mit dem Knüppel zu geben. Noch nicht.“
Es heißt „kooperiert“ , dachte ich instinktiv, wie mein Englischlehrer in der vierten Klasse.
Bevor ich die Tür öffnete, hörte ich die Verärgerung von dem Mann, der wahrscheinlich Junior war, ein hörbarer Ausdruck, wie ein lautes Seufzen von einem undankbaren Kind.
Dann trat ich mit dem linken Fuß unten an die Tür, nicht fest und nicht leicht. Gerade so, dass die Tür langsam in einer Art dramatischen Szene aufschwang, quietschend wie in einem Spukhaus, wenn alle innehalten und auf den Eingang starren. Wenn man mit potenziell gewalttätigen Situationen umging, war es klug, taktische Strategien zu nutzen – was ich nicht bei der Navy gelernt hatte, sondern wie es mir von meiner Mom eingeprügelt wurde. Sie hat mir beigebracht, immer zuerst mit dem Kopf zu kämpfen, und dann, wenn alle Möglichkeiten der Theatralik, Diplomatie und intellektuellen Versuche gescheitert waren, hatte ich noch die andere Möglichkeit, um mit einer potenziell gewalttätigen Situation umzugehen.
Ich hatte die Szene nicht so gut überblickt, wie ich es hätte tun sollen, denn erst als die Tür ganz offen war, wurde mir klar, dass diese Typen womöglich Waffen bei sich hatten.
Bescheuert, Widow, dachte ich. Anfängerfehler. Kein Fehler, den ein bei den SEALs ausgebildeter Agent machte.
Doch dann sah ich die Männer und fühlte mich gleich besser. Sie hatten keine Pistolen und keine Messer, zumindest nicht in der Hand. Hätten sie Pistolen gehabt, dann hätten sie sie wahrscheinlich auf mich gerichtet. Und sie hätten sie auf den armen Kerl mit der blutigen Nase gerichtet. Warum sollten sie ihn mit Fäusten und einem Baseballschläger traktieren, wenn sie eine Waffe auf ihn richten konnten?
Sie standen reglos da, vor Schreck erstarrt. Ich kannte den Ausdruck von Angst im Gesicht eines Mannes. Ich hatte schon viele Gegner erschreckt. Meistens Männer gleicher Statur oder gleichen Rangs oder mentaler Stärke, nicht wie diese Kerle. Ich hatte schon als Kind mit Schulhofschlägern und Rednecks gekämpft. Diese drei passten wie ein schlechtes Klischee in die beiden Kategorien.
Sie trugen Kleidung, die praktisch austauschbar war. Blaues Flanellhemd. Grünes Flanellhemd. Ärmel abgerissen. Ein weißes, fettverschmiertes T-Shirt. Eine Truckermütze. Alle hatten Arbeitsstiefel an den Füßen, alle schmutzige, zerrissene Jeans. Diese Kerle waren zweifelsohne Rednecks. Ihren Geruch konnte man nur als Gestank bezeichnen.
Der Eine, den sie Junior nannten, hielt einen antik aussehenden Louisville-Schläger in der Hand. Das erinnerte mich an ein Buch, das ich auf dem Meer gelesen hatte – The Walking Dead. Eigentlich war es eine Graphic Novel, doch ich bin da nicht so pingelig. In dieser Serie gab es einen Bösewicht namens Negan, der einen Baseballschläger mit Nägeln und Draht hatte. Er nannte ihn Lucille. Tolle Serie.
Das Ende von Juniors Louisville-Schläger war fleckig und zum Teil gesplittert. Er war schon benutzt worden.
Bei wem?, fragte ich mich.
Ich kannte die Antwort auf diese Frage nicht, doch ich wusste, dass er nicht an mir benutzt werden würde. Soviel war verdammt sicher.
Die Männer ähnelten sich, nur einer von ihnen war zahnlos, abgesehen von einem einzigen Vorderzahn, der so aussah, als würde er auch nicht mehr lange dort sein. Einer der Männer war etwas dicker, doch sie sahen alle so aus, als hätten sie schon so manchen Hotdog-Wettbewerb mitgemacht.
Der Mann links war offensichtlich ihr Anführer, denn die anderen beiden sahen ihn fragend an. Vielleicht war dieser Daryl der älteste Bruder, falls es Brüder waren. Sie konnten aber auch Cousins sein.
Kleiner Gen-Pool.
Der Mann an der zweiten Stelle war Junior, daran bestand kein Zweifel, denn er hielt den Schläger, und er war der mit dem einen Zahn. Er hatte anscheinend das kleinste Hirn, war der Trottel der Bande.
Der Mann hinter dem Opfer musste derjenige sein, den sie Jeb nannten.
Das Opfer war ein junger, drahtiger Mann mit kurzen, braunen Haaren. Er schien gut in Form zu sein, doch offensichtlich war er kein Kämpfer. Er hatte dieses Fitnessstudio-Aussehen, doch ich bezweifelte, dass er jemals in seinem Leben richtig gekämpft hatte.
Auf dem Boden neben seinen Füßen lag eine Brille. Ein Glas war zerbrochen. Ich vermutete, dass sie ihm heftig ins Gesicht geschlagen hatten. Einmal, um die Brille aus dem Gesicht zu schlagen, und dann erneut, um ihm die Nase zu brechen.
Die drei Brüder oder Cousins oder Was-auch-immer starrten mich an. Dem einen hinter dem Opfer blieb der Mund offen stehen.
Mir fielen lange schwarze Strähnen ins Gesicht. Sie sahen wahrscheinlich nur meine Augen und sonst nichts.
Ich sprach zuerst: „Jungs. Ich versuche, nebenan zu schlafen. Ihr seid nicht gerade gute Nachbarn.“
Derjenige mit dem Namen Junior sprach stotternd. Vielleicht vor Angst. Er sagte: „Sie so-so-sollten sich um Ihre eigenen Sachen kümmern. Also ge-gehen sie einfach zurück in Ihr Zi-zi-zimmer, und wir vergessen, dass wir Sie gesehen haben.“
Die drei Männer warteten darauf, dass ich antwortete.
Was ich nicht tat.
Daryl sagte: „Jetzt hören Sie mal zu, Kumpel. Wir haben nichts mit Ihnen zu schaffen. Gehen Sie einfach zurück auf Ihr Zimmer, und wir vergessen das, wie Junior hier gesagt hat.“
In weniger als einer Sekunde hatte ich die drei eingeschätzt. Dann verbrachte ich weitere fünf Sekunden damit, sie von oben bis unten zu betrachten, wobei ich das ganz offensichtlich tat.
Ich sagte: „Leute, für mich sieht es ganz danach aus, als wäret ihr nicht erwünscht im Zimmer dieses Mannes.“
Ich drehte den Kopf und blickte kurz auf den zersplitterten Türrahmen. Einer von ihnen hatte die Tür aufgetreten. Dann sah ich sie wieder an und ließ gewalttätige Gedanken in meinen Augen aufblitzen.
Ich sagte: „Ihr seid in das Zimmer dieses Mannes eingebrochen. Habt ihn angegriffen. Ihr wollt ihn entführen. Und all das wäre auch gut gelaufen, doch ihr habt einen fatalen Fehler begangen, einen Riesenfehler.“
Schließlich sprach Jeb mit einem sarkastischen, idiotischen Unterton. Er fragte: „Ach ja? Was denn?“
Ich sagte: „Ihr habt mich geweckt. Ich mag es nicht, aufgeweckt zu werden. Nicht von drei inzestuösen Idioten wie euch.“
„Was wollen Sie dagegen tun?“, fragte Junior.
Er trat von den anderen weg und senkte seinen Schläger. Er machte sich Platz, um auszuholen – der zweite Fehler.
Das Zimmer war klein. Ich stand in der Tür, nicht ganz im Raum. Nur in der Tür. Aus Juniors Position musste er mit der linken Hand ausgreifen, den Schläger fassen, um den Schwung zu verstärken, sich dann mit dem rechten Fuß drehen und mit links vortreten. Als nächstes musste er den Schläger mit voller Kraft hochschwingen.
Selbst wenn er es dabei schaffte, Daryl nicht zu schlagen, dann hätte ich noch immer drei bis vier Sekunden, die er brauchen würde, um den Schlag korrekt auszuführen, denn er würde sich nach hinten rückversichern müssen, dass Daryl außer Reichweite des Schlags war. Drei bis vier Sekunden waren eine lange Zeit bei einem Kampf. Es war Zeit, die ich nutzen würde. In weniger als einer Sekunde musste ich nur einen Schritt zurück aus der Tür machen. Zurück ins Freie.
Nicht einmal eine Sekunde, nachdem ich den Gedanken verarbeitet hatte, handelte Junior. Sein Bruder Daryl hatte gesehen, was er tun würde. Ich sah, wie er Junior zunickte, um ihm zu sagen: „Mach es!“
Junior griff hinüber, packte den Schläger mit beiden Händen, drehte sich und holte aus. Daryl duckte sich zurück und fiel auf das Bett, damit ihn der Schlag nicht traf.
Im letzten Moment, den Junior brauchte, um mit seinem Schläger meinen Kopf zu treffen, trat ich zurück. Der Schläger kollidierte mit der Innenseite des Türrahmens. Heftig. Einen Meter entfernt zersplitterte das tief in der Wand befindliche Fenster. Billiges Glas splitterte wie Staub.
Man muss sich vorstellen: Wenn man mit einem Louisville-Schläger so fest wie möglich gegen einen Telefonmast schlägt, wird die Kraft vom Widerstand des Mastes durch den Schläger bis in die Handgelenke und Arme fahren und die auf dem Weg alle Knochen anknacksen oder sogar brechen. Und genau das geschah Junior.
Ich hörte seine Fingerknöchel und Gelenke knacken und brechen. Er würde diesen Schläger lange Zeit nicht mehr schwingen. Das war klar.
Seine Finger baumelten an den Händen, und der Schläger fiel zu Boden.
Dann trat ich wie ein verrückter Killer in den Raum.
Junior ließ sich auf die Knie fallen und wimmerte durch seinen zahnlosen Mund. Er klang wie ein sterbendes Tier. Seiner rechten Hand ging es besser als der linken. Er nahm die Linke in die Rechte und weinte wie ein Baby.
Daryl sah zu mir und reagierte. Er ging auf mich los und versuchte einen rechten Haken in meine Richtung, doch ich hatte lange Arme und einen großen Radius. Ich schwang einen rechten Aufwärtshaken. Ich war schneller als er, und während er auf mich zuspringen musste, konnte ich an meiner Position bleiben und ihn trotzdem erreichen. Mit der rechten Faust traf ich ihn mitten auf die Nase und zerbrach sie. Sein rechter Haken strich über meine linke Schulter und richtete keinen Schaden an. Es war wie ein Mückenstich. Noch schwächer, eher wie eine Fluse.
Ich zog den Arm zurück und sah zu, wie er zu Boden ging. Er griff an seine Nase und schrie laut auf, als er sie berührte. Das Blut lief ihm wie ein roter Fluss aus den Nasenlöchern, und die Nase war wie ein Uhrzeiger, der auf Viertel nach zeigte, vom Gesicht weggedreht.
Ich war mir nicht sicher, ob bei dem kleinen Mann, den sie angegriffen hatten, wirklich die Nase gebrochen war, doch bei Daryls Nase war der Fall eindeutig. Er konnte von Glück reden, dass seine Nase sich überhaupt noch in seinem Gesicht befand. Er konnte auch von Glück reden, dass keine Knochensplitter in sein Gehirn gedrungen waren und ihn umgebracht hatten. Vielleicht lag es daran, dass er nur ein winziges Gehirn hatte, falls überhaupt.
Ich blickte zurück zu Jeb – dem letzten Mann, der noch stand.
Ich grinste.
Er hielt sich nah bei dem kleinen Mann, nutzte ihn als menschlichen Schutzschild, als würde ich mit einer Waffe auf ihn zielen.
Ich trat näher. „Was meinst du, Jeb? Willst du es auch mal mit mir versuchen?“
Er begann zu zittern. Ich sah das deutlich, denn der Mann, an dem er sich festhielt, zitterte ebenfalls. Jeb spähte über die Schulter des Mannes zu mir. Er flehte: „Tun Sie mir bitte nicht weh!“
Ich sagte: „Hör zu, Jeb. Ich werde dir eine Chance geben, deine Jungs zu rächen.“
Ich kniete nieder und hob den Schläger auf. Ich legte ihn mir über die Schulter wie ein Baseballspieler, der sich für einen Schlag anstellte.
Dann sagte ich: „Ich würde sagen, der zweite Schlag wäre für dich.“
Ich zeigte mit dem Schläger auf Daryl. Er und Junior wälzten sich noch am Boden und hielten ihre gebrochenen Glieder, doch Junior tat etwas Dummes. Etwas wirklich Dummes. Wie ein verzweifeltes Tier. Er versuchte, wieder aufzustehen. Er musste wissen, dass ich ihn sehen konnte, denn ich blickte genau zu ihm hinunter.
Ich schwang den Schläger mit einer schnellen Rückhand. Nicht mit voller Kraft, nicht einmal annähernd, doch auch kein leichter Schlag. Ich traf Junior mitten auf den Mund, als er versuchte, sich auf ein Knie zu erheben. Der Schläger traf ihn und brach den Zahn ab. Da merkte ich, wie wichtig dieser eine Zahn für ihn gewesen sein musste, denn er schrie entsetzt auf, als er aus seinem Mund flog. Sein Kopf schlug nach hinten, und er fiel auf den Hintern. Doch das Erste, was geschah, war sein Schreien.
Jeb beobachtete alles entsetzt. Der Schrei wurde zu einem Wimmern. Und dann richtete ich den Schläger wieder auf Jeb. Ich drehte ihn in der Luft und fing die Spitze mit der rechten Hand. Den Griff hielt ich ihm entgegen.
Ich sagte: „Nimm ihn. Mach den dritten Schlag.“
Jeb starrte auf den Schläger, als wäre es eine Falle.
„Ich bin unbewaffnet. Sie können der Held sein.“
Jeb trat langsam zurück, wollte ausweichen, doch es gab keinen Platz, wohin er konnte. Ich blockierte den einzigen Ausgang.
Ich trat vor und über Daryl.
Jeb sagte: „Nein, nein. Ich will nicht. Bitte gehen Sie einfach.“
„Nimm den Schläger.“
Er blieb stumm. Er blickte runter zu Daryl. Ich wusste, dass Daryl, der jetzt hinter mir war, aufzustehen versuchte.
Diese Jungs wollen einfach nicht begreifen , dachte ich.
Ich drehte den Schläger erneut in der Luft und packte den Griff, dann drehte ich mich um, als wollte ich einen Golfball schlagen, und traf Daryl mit dem dicken Ende des Schlägers genau auf der Nase.
Ich tat es nicht so, als würde ich weit schlagen wollen, und ich tat es nicht so, als würde ich einen Baseball schlagen. Ich schlug dennoch kräftig genug, um alles an Knorpelgewebe und Knochen zu zerbrechen, was er noch in der Nase hatte, ohne ihn jedoch zu töten. Ich wollte keine Leiche herausschleppen müssen.
Er schrie fast so, wie ich bisher noch keinen hatte schreien hören. Fast.
Mit derselben flüssigen Bewegung fuhr ich wieder herum und sah zu Jeb und seiner Geisel.
Ich zeigte erneut mit dem Schläger auf ihn.
Ich sagte: „Niemand wird dir helfen. Lass diesen Mann los. Dann schlepp deine Jungs von hier weg oder ich nehme den Schläger und mache den dritten Schlag. Okay, Jeb?“ Seine Aufmerksamkeit wurde stärker, als ich seinen Namen sagte. Deshalb sagte ich erneut: „Jeb, wenn du dich für Option B entscheidest, dann werde ich dir schlimmer wehtun als ihnen. Viel schlimmer. Was soll es sein?“
Er schüttelte heftig den Kopf. Er sagte: „Lassen Sie mich gehen. Ich verspreche, dass wir weg sind.“
„Gute Entscheidung. Ich wusste, dass du der Kluge bist.“
* * *
Jeb brauchte ungefähr drei Minuten, um seinen zwei Kameraden zu ihrem Truck zu helfen. Nicht schlecht.
Ich sah, wie sie in einen brandneuen F-150 stiegen. Sie rasten davon und ließen eine dicke Staubwolke hinter sich zurück.
Der Ford hatte an der Rückscheibe einen großen, transparenten Aufkleber mit der Konföderiertenflagge. Es war der Truck von dem Redneck-Gelände mit den Wohnwagen und dem riesigen Fahnenmast, den ich am Tag zuvor gesehen hatte. Die Rücklichter verschwanden im Dunkel.
Ich kehrte zurück in das Motelzimmer und betrachtete den kleinen, drahtigen Mann, den sie zusammengeschlagen hatten. Ich fragte: „Alles okay?“
Der Mann hatte sich Taschentücher in die Nasenlöcher gestopft und betrachtete sich im Badezimmerspiegel.
Ohne mich anzusehen, sagte er: „Vielen Dank.“
„Sie sollten in die Klinik gehen. Mal die Nase ansehen lassen. Womöglich brauchen Sie einen Arzt.“
Er sah mich an und lächelte. Dann sagte er: „Das ist nur eine Nasenbeinfraktur mit starker Blutung. Keine große Sache. Ich bin Arzt.“
Ich nickte. Schwieg.
Er kam zu mir, hielt dabei den Kopf nach hinten geneigt, um die Blutung zu stoppen, und streckte die Hand aus, um sie mir zu schütteln. Es war gut, dass er den Kopf nach hinten geneigt hatte, denn so konnte er gut zu mir nach oben schauen. Er war ungefähr eins fünfundsiebzig groß, und ich ragte über ihm auf. Ich nahm seine Hand und schüttelte sie.
Er sagte: „Mein Name ist Chris Matlind.“
Ich konnte jetzt deutlich sehen, dass der Mann aufgewühlt war. Mehr als aufgewühlt – er sah schrecklich aus. Er war unrasiert und ungekämmt. Sein Haar war ungewaschen, und er roch. Es war nicht so schlimm wie der Gestank der schmierigen Rednecks oder wie Hanks muffiger Geruch, doch weit davon entfernt, angenehm zu riechen.
Das Zimmer war völlig überladen. In einer Ecke häufte sich Schmutzwäsche. Zwei große Koffer standen auf dem Boden, einer davon schwarz und weit geöffnet. Er war fast ohne Kleidung. Der zweite war ordentlich verschlossen in der hinteren Ecke. Er war rosa mit einem grünen Blumenmuster. Ich hatte noch nie einen Koffer gesehen, der mädchenhafter aussah, und war überrascht, dass ein Mann so etwas hatte.
Ich sagte: „Mein Name ist Widow.“
Er fragte: „Meinten Sie das so, was Sie diesen Kerlen gesagt haben? Ich meine, Sie ließen es so klingen, als hätten Sie sich nur eingemischt, weil sie Sie gestört hatten.“
„Sie haben mich aufgeweckt. Doch ich hätte nicht zugelassen, dass sie Sie mitnehmen.“
Er nickte.
Ich blieb stumm.
Dann fragte er: „Wollen Sie nicht fragen, was los ist?“
Ich sagte: „Nö. Nicht meine Angelegenheit.“
Ein enttäuschter Ausdruck trat auf sein Gesicht, als wollte er unbedingt, dass ich interessiert sei.
Ich zuckte mit den Schultern und fragte: „Was genau ist denn los? Warum haben diese Männer versucht, Sie von hier wegzuschleppen? Sie müssen etwas ziemlich Übles getan haben, dass ein paar fette Rednecks ihre Tür einschlagen und Sie zu entführen versuchen. Schulden Sie ihnen Geld oder etwas in der Art?“
„Ich schulde ihnen kein Geld.“
Er sagte nichts weiter. Ein Ausdruck kam auf sein Gesicht, ein Blick, als wäre er sich nicht sicher, ob er mir vertrauen konnte. Dann traten ihm Tränen in die Augen, und er sah so aus, als würde er jeden Moment in Tränen ausbrechen. Ich legte ihm die Hand auf die Schulter. Sein T-Shirt war blutgetränkt vom Nasenbluten. Ich versuchte, diesen Teil des Shirts nicht zu berühren.
Ich sagte: „Es ist okay. Sie können mir vertrauen.“
Er sagte: „Sie haben meine Frau. Sie haben sie als Geisel genommen.“