KAPITEL 27

I ch hob die Waffe auf. Es war tatsächlich eine Heckler & Koch P30L. Ich entfernte den Schalldämpfer und steckte sie in meine Tasche. Es ging nicht mehr darum, leise zu sein. Nicht mehr. Ich ging in meine Zelle, setzte mich dort auf die Bank und schlüpfte in meine Schuhe. Ich hatte sie vor dem Schlafen weggetreten. Die Schnürsenkel waren noch festgebunden.

Ich ging an den anderen Zellen vorbei durch den Flur ins Büro. Niemand war da. Ich suchte nach meinen Sachen und fand sie in einem Umschlag mit der Aufschrift „Widow“ im Beweismittelschrank in einer kleinen Stahlschublade, die beim Öffnen quietschte. Mein Ausweis, die Geldkarte, und das Handy waren die einzigen Gegenstände darin. Ich nahm den Inhalt heraus und steckte ihn in meine Taschen.

Ich untersuchte das restliche Revier, ein Zimmer nach dem anderen. Nichts. Dann fragte ich mich, wo der diensthabende Deputy war. Es musste doch jemand das Gefängnis beaufsichtigen, während ich dort war. Doch es gab nirgendwo ein Lebenszeichen.

Was auch immer geschehen würde, ich wollte nicht wieder zurück in die Zelle. Auf keinen Fall. Ich schob mir die Waffe in den Gürtel und verließ die Polizeiwache.

Die Nachtluft war feucht und windig. Dünne, fast nicht existierende Wolken bewegten sich schnell über den Himmel, als würde jemand die Zeit vorspulen. Immer wieder sah ich Sterne. Die hellen Sterne waren einer der Vorzüge des Landlebens.

In der Ferne konnte ich den See erkennen, ein ganzes Stück hinter dem Eckhart Medical Center. Er wirkte ruhig.

Die Straßen waren ebenfalls ruhig. Ich hörte das schwache Heulen einer Steelguitar aus der Country-Bar an der Straße. Vom Norden her vernahm ich das einschläfernde Brummen eines Pestizidlasters, der nachts über die Straße fuhr und Insektenmittel versprühte. Mit seinem Brummen war er fast selbst eine Plage in der stillen Stadt.

Ich wollte über den Parkplatz vor dem Polizeirevier gehen, als ich etwas Ungewöhnliches hörte, ein weiteres Geräusch. Es war ein Piepen, nein, eher ein Klingeln – ein vertrautes Geräusch, wie der Anschnallhinweis im Auto.

Ich bückte mich und sah mich vorsichtig auf dem Parkplatz um. Ich legte die Hand an den Griff der P30L, schussbereit, falls es nötig war. Ich sah nach links, nach rechts. Blickte mich um. Das Haus war leer, doch auf dem Parkplatz standen Autos. Es gab dort fünf Polizeiwagen und zwei Trucks, alle mit reflektierenden Polizeilogos an den Türen.

Eins der Fahrzeuge hatte kein Signallicht auf dem Dach, und dem gegenüber standen zwei Zivilfahrzeuge. Alle Wagen standen ordentlich in zwei Reihen – außer einem. Ein Streifenwagen war mitten auf dem Parkplatz, zur Straße gerichtet.

Ich richtete mich wieder auf, um besser sehen zu können. Die Beifahrertür stand weit auf, doch es war niemand im Auto. Es sah unbesetzt aus, doch durch die offene Tür piepte es die ganze Zeit vom Sicherheitsgurtalarm im Armaturenbrett.

Ich kroch zu dem Streifenwagen, dabei nutzte ich die geparkten Autos als Deckung. Ich hatte die Pistole noch nicht gezogen. Wenn da ein Cop im Fahrzeug oder in der Nähe war, sah es übel aus. Denn er hatte das Recht, mich ohne Warnung zu erschießen, wenn er mich mit einer Waffe in der Hand sah. Für ihn wäre ich ein entlaufener bewaffneter Gefangener. Kein Richter der Welt würde ihm unter diesen Bedingungen die Verwendung der Waffe vorwerfen.

Ich näherte mich dem Wagen und erschrak. Gemson lag auf der Vorderbank. Das Armaturenbrett war voller Blut, als wäre es über die Vorderseite des Autos gespritzt worden. Man hatte ihm offenbar in den Kopf geschossen.

Ich zog die P30L aus dem Gürtel und sah mich um. Es war niemand zu sehen. Vermutlich hatte ihn der Mexikaner erschossen, um an die Schlüssel zu kommen und Zugang zu meiner Zelle zu haben. Ich blieb stehen. Um mich zu vergewissern, zog ich das Magazin aus der Waffe und zählte die Kugeln. Eine fehlte, dazu die aus der Zelle.

Toll. Jetzt hatte ich die Waffe, mit der ein Cop erschossen worden war. Obendrein ein Cop, mit dem ich in der Öffentlichkeit eine Auseinandersetzung hatte. Vor Zeugen.

Warum hatte der Kerl gewollt, dass ich mich aufhänge, wenn er gerade Gemson erschossen hatte? Ich hatte keine Ahnung. Ich konnte mir höchstens vorstellen, dass es eine Art Botschaft sein sollte. Oder das Töten hatte diesen Typen auf kranke Weise angemacht. Vielleicht gefiel es ihm, wenn seine Opfer sich selbst umbrachten. Viele Profikiller hatten ihren eigenen Stil. Vielleicht war Selbstmord der Stil des Mexikaners.

Da Gemson ein bewaffneter Deputy gewesen war, hatte er wahrscheinlich kein Risiko eingehen wollen und ihm eine Kugel in den Kopf gejagt. Ich senkte die Waffe und drückte die Tür auf. Ich beugte mich vor und sah nach Gemsons Puls. Plötzlich packte er mit der linken Hand mein Gelenk. Er lebte noch.