I m Bus war es kalt, und ich war zu groß für die Sitze, obwohl sie riesig waren wie Kapitänsstühle; immer zwei in einer Reihe, und man konnte sie um hundertfünfzehn Grad nach hinten kippen.
Ich hatte meine eigene Reihe, was mir etwas schräge Beinfreiheit verschaffte, dennoch war ich zu groß. Ich konnte den Sitz auch nicht nach hinten kippen, da dort ein älteres Paar saß. Ich wollte ihnen nicht direkt im Gesicht sitzen. Deshalb blieb ich aufrecht.
Ich nahm mein Handy und überprüfte den Akkustand. Es würde bald ausgehen.
Ich dachte an Ann Gables und fragte mich, ob es in meiner Verantwortung lag, einen ungeklärten Kriminalfall zu lösen. Dann überlegte ich, welche Verbindung es zwischen ihr und Faye Matlind geben konnte.
Ich ging ins Internet und suchte nach Ann Gables. Es gab Bilder aus ihrem Schuljahrbuch und von ihrem Facebook-Account, außerdem fand ich Berichte über sie und die anderen vermissten Mädchen. Das FBI nahm an, dass sie eines der Opfer war. Wenn dem so war, könnte es mit Faye genauso sein.
Ich suchte ein paar Minuten und hörte dann auf, da ich feststellte, dass ich von diesen Berichten keine neuen Erkenntnisse erhalten würde. Deshalb sah ich mir andere Schlagzeilen an und wurde auf etwas aufmerksam. Es ging um die Jagd nach Oskar Tega. Ich zuckte mit den Schultern. Ich könnte genauso gut etwas anderes lesen, da ich im Bus aus Mississippi saß und nicht vorhatte, nach Black Rock zurückzukehren.
Ich klickte auf den Artikel und überflog ihn. Tega war den Behörden entwischt, über das Meer geflüchtet und vermutlich nach Texas gekommen, wo er eine seiner Farmen abgefackelt hatte. Nichts, was ich nicht bereits wusste. Am Ende eines Abschnitts wurde kurz erwähnt, dass er nicht mit dem Boot entkommen sei, sondern mit einem Wasserflugzeug.
Ich runzelte die Stirn und starrte auf das Display. Wasserflugzeug?
Hank, jener alte Flugzeugmechaniker von vor zwei Tagen, hatte von einem Wasserflugzeug gesprochen. Er hatte mir den Unterschied zwischen einem Wasserflugzeug und einem Flugboot erklärt. Das Flugboot wurde auch als Wasserbomber bezeichnet, da es Waldbrände überflog und tonnenweise Wasser über den Flammen abwarf. Ich dachte daran, was er erzählt hatte. Er war von Jackson zum Jarvis Lake gefahren, um das Wasserflugzeug eines reichen Mannes zu betanken. Doch tatsächlich war es ein Flugboot gewesen. Er hatte gemeint, dass dieser Mann mit reichen Freunden zum Angeln kam.
Ich dachte an mein Gespräch mit Maria, der Kellnerin. Was hatte sie über Texas gesagt? Oskar Tega hatte Texas besucht, seine Produkte mitgenommen und dann seine Angestellten ermordet. Und auffällig war, dass er dabei alles verbrannt hatte. Seine Männer hatten die Farm und fast den ganzen Ort in Brand gesteckt und alle Beweise vernichtet, doch die Polizei wusste, dass sie es gewesen waren.
Warum verwischte man seine Spuren, wenn allen klar sein musste, dass es Tega gewesen war? Ich konnte nicht begreifen, warum sich jemand die Mühe machte, alle Beweise zu zerstören, wenn es nichts an der Tatsache änderte, dass jeder wusste, wer es gewesen war.
Ich las weiter, doch es gab nichts Neues in diesem Artikel. Ich suchte weiter.
Wie lautete der Name der texanischen Stadt?
Ich war mir sicher, dass Maria ihn genannt hatte, doch ich konnte mich nicht erinnern, und das war ungewöhnlich für mich. Normalerweise erinnerte ich mich an alles. Ich wählte Marias Nummer aus dem Gedächtnis. Das Telefon klingelte lange, und ich kam auf ihre Voicemail. Ich legte auf und hinterließ keine Nachricht. Ein paar Sekunden später erhielt ich eine SMS.
„Wer ist da?“
Ich antwortete: „Widow. Können Sie sprechen?“
Sie schrieb: „Bin bei der Arbeit. Was ist denn?“
Ich schrieb: „Akku fast leer. Wie lautet der Name des texanischen Ortes mit Tegas Farm?“
Sie antwortete: „?“
„Granjas?“, schrieb ich.
Es verging etwas Zeit, und ich nahm an, dass sie zu tun hatte.
Dann antwortete sie: „Crosscut.“
Ich schrieb zurück: „Danke.“
Ich ging wieder online. Die Warnung über den niedrigen Akkustand wiederholte sich. Ich ignorierte sie und suchte nach Crosscut, ging die Ergebnisse durch, bis ich das Gewünschte fand. Crosscut war eine Kleinstadt in Westtexas, weit entfernt von jeder Großstadt. Dort gab es nichts außer Wüste – ein perfekt abgeschiedener Ort, um heimlich Drogen herzustellen.
In dem betreffenden Fall hatte es keine Hinweise gegeben, nicht einmal auf irgendeine Drogenherstellung. Deshalb war es eine logische Frage, woher die Drogenbehörde überhaupt davon wusste. Ich suchte weiter und überflog Artikel und alte Berichte über Tega, so schnell es meine Augen erfassten – was ziemlich schnell war. Doch ich fand nichts. Keinen Nachweis, der darauf schließen ließ, dass Oskar Tega ein Drogenhändler war. Die einzige Verbindung, die die Cops zwischen seinen Aktivitäten und Drogen schlossen, kam daher, dass Drogenkartelle bekannterweise seine Partner waren – doch nirgends war davon die Rede, dass er selbst etwas herstellte.
Dann kam mir eine andere Idee. Ich suchte nach vermissten Mädchen in der Region um Crosscut. Für den Landkreis gab es zahlreiche Fälle vermisster Mädchen – hauptsächlich Reisende. Genau wie in Black Rock.
In meinem Kopf ging ein Alarm an. Das war die Verbindung – Tega.
Ich rief Grady erneut an. Es klingelte lange. Ich hörte einen Piepston, und Grady ging dran: „Was?“ Jetzt hatte er gesehen, dass ich anrief.
„Der Typ in den Nachrichten, der Drogenbaron.“
Grady fragte: „Welcher Typ?“
„Oskar Tega.“
„Tega? Was ist mit dem?“
Ich sagte: „Er verkauft keine Drogen.“
„Was?“
„Tega ist nicht im Drogengeschäft. Er handelt nicht mit Drogen.“
„Wovon zum Teufel reden Sie überhaupt?“
Ich sagte: „Oskar Tega handelt nicht mit Drogen. Die Bundesbehörden haben ihn falsch eingeschätzt.“
„Was hat er mit all dem zu tun?“
„Ich bin mit diesem alten Flugzeugmechaniker nach Black Rock gekommen. Er sagte, dass er einen reichen Mann auf dem See treffen würde. Der Reiche hatte ein Wasserflugzeug.“
„Und was zum Teufel soll das heißen?“
Ich sagte: „Oskar Tega ist vor der Drogenbehörde aus seinem Strandhaus in Mexiko geflüchtet. Er ist mit einem Wasserflugzeug entkommen.“
Stille am anderen Ende. Ich nahm das Handy vom Ohr und sah auf das Display. Ein rotes Batteriesymbol blinkte, doch die Verbindung bestand noch.
„Grady?“
„Wollen Sie damit sagen, dass er herkommt? Aber warum?“, fragte Grady.
„Sehen Sie sich mal Crosscut im Internet an.“
Er sagte: „Ich kenne Crosscut. Es war in den Nachrichten.“ Eine weitere Pause. Dann fragte Grady: „Sie glauben, dass er hier Drogen macht? In meiner Stadt?“
„Ich glaube nicht, dass er überhaupt im Drogengeschäft ist. Denken Sie mal an die vermissten Mädchen, Grady. Mädchen aus Ihrem ganzen Landkreis. Und den Nachbarkreisen.“
„Ja.“
„Genug vermisste Mädchen, um Verdacht zu erregen, doch verteilt auf vier Kreise, sodass niemand einen Ort ausmachen kann, der damit in Verbindung stehen könnte.“
Er zog keine Schlüsse.
Ich sagte: „Überlegen Sie mal, Grady. Die Entführungen sind über ein größeres Gebiet verteilt, um die Tatsache zu verbergen, dass alle an denselben Ort gebracht werden.“
Stille.
Dann sagte ich: „Überlegen Sie mal, warum Tega seine Häuser in Crosscut abgefackelt hat, nachdem er ging. Warum hat er das getan? Die Drogenbehörde hatte sowieso herausgefunden, dass sie ihm gehörten. Warum hat er sie dann grundlos niedergebrannt? Und welchen Unterschied hätte es gemacht, wenn die Cops die Farm mit ihm in Verbindung brachten? Er hatte bereits alles ausgeräumt und war schon lange weg.“
Grady blieb stumm.
Ich sagte: „Und der mexikanische Killer. Warum ihn schicken? Warum der Versuch, mich umzubringen? Warum Matlind töten? Worum ging es?“
Warum hatte er meine Mom getötet? , dachte ich. Wahrscheinlich, weil sie ihm zu nah gekommen war.
Stille – doch ich konnte Grady atmen hören. Ich konnte mir seinen Gesichtsausdruck vorstellen, während er zusammenzubringen versuchte, was ich bereits wusste.
Er sagte: „Ich weiß nicht.“
„Um mich zum Schweigen zu bringen. Er hat den Killer geschickt, um uns zum Schweigen zu bringen.“
„Dann wollte er nicht, dass einer von Ihnen redet? Aber warum? Was haben Sie gewusst?“
„Es war nicht das, was ich wusste. Es war das, was einer von uns oder die Cops später herausfinden würden.“
„Was ist das?“
„Tega ist kein Drogenhändler. Er zerstört keine Beweise und tötet Zeugen, um zu verbergen, wer er ist. Er macht das, damit die Wahrheit nicht ans Licht kommt. Er kommt nach Black Rock, und er wird jeden Beteiligten umbringen und Ihren Ort bis auf die Grundfesten abbrennen, nur um sein Geheimnis zu wahren.“
„Welches Geheimnis? Was ist …?“
Dann Stille – kein Schweigen, kein Rauschen, sondern Stille im Handy. Kein Geräusch.
Ich wartete lange, dann rief ich: „Grady! Grady!“
Ich blickte auf das Handy. Es war tot. Und mein Ladegerät hatte ich im Motelzimmer steckengelassen.
Scheiße!
Oskar Tega würde nach Black Rock kommen – oder war bereits dort –, und früher oder später würde er den Ort in Schutt und Asche legen.