KAPITEL 46

I ch stand allein in der kalten, feuchten Nacht und hatte nur den Nebel als Deckung. Das musste ausreichen.

Ich schlich zwischen den Bäumen hindurch bis zum Rand der Gebäudegruppe auf dem Grundstück. Ich lief zum nächstgelegenen Haus und drückte den Rücken dagegen. Es war aus Holz, roch nach feuchten Balken und nach Tieren. Es war kein Geräusch zu hören.

Ich schob mich an der Wand entlang zu einem Fenster. Ich kroch darunter, ohne einen Blick zu riskieren. Das Fenster befand sich in der Nähe der Hintertür. In neun von zehn Fällen war das die Stelle, wo jemand innen mit einem Gewehr stand. Ich ging auf Zehenspitzen zum zweiten Fenster und blickte hinein. Der Raum war still und leer. Es schien eine Art Schlafzimmer zu sein. Ich sah keine persönlichen Dinge – keine Bilder, keinen Schmuck auf dem Schminktisch, keine Laken auf dem Bett. Es gab überhaupt keine Anzeichen dafür, dass hier jemand wohnte. Die Schranktür war weit geöffnet – keine Schuhe auf dem Boden, keine Kleider an der Stange. Leer. Es war nicht sauber, doch es wirkte auch nicht schmutzig. Es schien einfach ein zusätzliches Gebäude zu sein. Auffällig war nur der Tiergeruch, denn ich sah keine Hunde oder Katzen. Gar keine Tiere.

Ich ging zur Hintertür, drückte auf den Türgriff und hatte Glück. Sie war unverschlossen. Leise öffnete ich die Tür. Dann warf ich mich gegen die Außenwand, falls jemand im Innern in meine Richtung zielte. Nichts. Ich betrat das Gebäude mit der gezogenen CZ 52.

Ich hatte gelernt, dass man zum Abdrücken bereit sein sollte, wenn man eine Waffe zog. Ich war nicht bereit dazu, denn diese Scheißwaffe war es nicht wert, damit zu schießen. Doch im Dunkeln sah ein Pistolenlauf wie ein Pistolenlauf aus, und ich konnte zumindest jemanden damit erschrecken. Deshalb war es besser als nichts.

Zum Glück war niemand in dem Gebäude. Ich brauchte nur wenige Sekunden, um das zu überprüfen. In dem Haus gab es nur vier Räume, die alle klein waren. Das einzige Nützliche, was ich fand, war eine große Taschenlampe. Sie war dreißig Zentimeter lang, klobig, und konnte als Knüppel benutzt werden. Deshalb nahm ich sie mit. Sie konnte mir wesentlich nützlicher sein als das Relikt aus dem Kalten Krieg, das Sheldon mir gegeben hatte, vor allem beim Nahkampf.

Ich verließ das kleine Haus und ging zum Hauptgebäude, das sich daneben befand. Der Nebel war jetzt dünner geworden, und ich erkannte die Umrisse von Fahrzeugen und anderen Gebäuden. Das Haupthaus war das einzige mit brennenden Lichtern. Um dorthin zu kommen, musste ich über den Hof, der ungefähr dreißig Meter lang war. Ganz sicher konnte ich mir nicht sein, da es dunkel und noch immer zu neblig war.

Ich schob die CZ 52 in den Gürtel. Die Taschenlampe musste jetzt reichen.

Ich ließ das Licht aus, schlich gebückt weiter und überquerte so den Hof. Auf halbem Weg zum Hauptgebäude konnte ich die roten Ziegel erkennen. Aus der Ferne wirkte da Haus neu, doch beim Näherkommen sah ich, dass es das nicht war. Es war ein altes zweigeschossiges Gebäude. Die neuste Ergänzung war eine graue Holzveranda um die Vorderseite herum. Eine Verandaschaukel schwang im Wind. Die Außenbeleuchtung brannte, doch sie wurde vom Nebel gedämpft. Im Haus war ein Licht an. Das war alles. Es war spät in der Nacht, weshalb die Dunkelheit im Innern nicht ungewöhnlich war. Ich nahm an, dass die Hausbewohner keine Besucher erwarteten, am wenigsten Tega. Ich war mir sicher, dass Tega seinen Besuch als Überraschung geplant hatte.

Ich hatte den Hof zu zwei Dritteln überquert, als ich ein seltsames Geräusch vernahm. Es klang wie das ferne Läuten einer Boje. Ein leises Ding. Ding. Ding. Das Geräusch war seltsam in der Stille. Ich blieb stehen und drehte mich, um herauszufinden, von welcher Quelle es kam. Dann erkannte ich, dass es von oben kam, vom Fahnenmast. Ich spähte hinauf in die Dunkelheit. Meine Augen folgten dem riesigen Mast. Er ragte über mir auf. Aus der Nähe wirkte er noch größer. Es war, als würde man unter dem Washington-Monument stehen und nach oben blicken. Die Spitze war bei diesem Wetter nur verschwommen zu erkennen, doch ich konnte die Fahne ausmachen. Sie war zerknüllt und flatterte wie ein nasser Sack im Wind.

Sie hatten sie oben gelassen?

Das wunderte mich. Rednecks waren nicht nur für ihren Fanatismus bekannt, sondern auch für ihren Patriotismus. Und echte Patrioten zogen ihre Fahne täglich hoch und holten sie am Abend wieder ein. Doch jetzt hatten sie sie bei diesem unangenehmen Wetter hängen lassen? Das erschien mir ungewöhnlich.

Ich ging weiter. Ich erreichte die Veranda und die Vordertür. Keine Lichter gingen an – kein Lebenszeichen. Ich spähte durch ein mannsgroßes Fenster – noch immer nichts. Dann griff ich nach der Türklinke. Die Tür war unverschlossen und ging mit einem grellen Quietschen auf.

Niemand kam herausgelaufen. Keine Männer mit Waffen. Keiner von Tegas Männern. Niemand.

Ich stellte die Taschenlampe an und schwenkte damit durch das Innere des Hauses. Es hatte eine offene Struktur. Eine breite und beeindruckende Treppe verlief geschwungen in die erste Etage. Ich überprüfte alles mit der Taschenlampe. Nichts.

Ich ging nach oben. Ich war nicht leise, auch nicht laut, sondern machte normale, wenn auch vorsichtige Schritte. Oben an der Treppe sah ich, dass es drei Türen gab. Alles Schlafzimmer. Alle weit geöffnet und leer. In dem Haus war niemand, wenn sie sich nicht auf dem Dachboden oder in Schränken versteckt hatten. Das verstand ich nicht. Wo waren alle?

Ich ging wieder nach unten. Der Lichtstrahl der Taschenlampe fiel auf die Stufen und streifte dann über den Boden. Ich bewegte die Lampe durch das Wohnzimmer, um einen besseren Eindruck zu bekommen. An der Rückwand war zerbrochenes Glas. Möbel waren zersplittert und umgeworfen. Ich hatte mich vorher zu sehr beeilt, um es direkt zu bemerken. Ich hätte es sehen müssen. Überall im Wohnzimmer gab es Kampfspuren. Ein großer Perserteppich in der Nähe der Vordertür war mit feuchten Fußabdrücken übersät.

Blöd, Widow, dachte ich.

Ich stellte mein Headset an. Eine Computerstimme fragte: „Wen möchten Sie anrufen?“

Ich sagte: „Sheldon Eckhart.“

Die Stimme erwiderte: „Dieser Kontakt ist unbekannt.“

Sheldon hatte ihren eigenen Namen und ihre eigene Nummer natürlich nicht gespeichert. Ich dachte eine Sekunde nach und sagte dann: „Rückruf.“

Die Stimme sagte: „Anruf erfolgt.“

Sheldon war die letzte Person, die hier angerufen hatte, deshalb wurde ihre Nummer gewählt. Es klingelte, und sie meldete sich.

Ich sagte: „Wir sind zu spät. Das Haupthaus ist verwüstet, hier sind Kampfspuren, zerbrochene Möbel und Glas.“

„Das klingt nicht gut.“

„Bleib weg. Ich sehe mir mal die Scheune an.“

Ich sah mich schnell im Haus um. Es gab keine Waffen. Das fand ich ungewöhnlich für Rednecks. Ich stellte mir vor, dass sie ihre Gewehre wie Trophäen über dem Kamin hängen hatten, doch diese Leute hatten nichts.

Ich zuckte mit den Schultern, stellte die Taschenlampe aus und nahm sie in die linke Hand. Dann zog ich die CZ aus dem Gürtel, hielt sie in der Rechten, entsicherte sie und hielt die Mündung gesenkt. Ich musste vorsichtig sein, wenn ich mit einer geladenen, nicht erprobten Waffe durch das Haus ging. Matlind hatte gesagt, dass es hier auch Kinder gab.

Ich verließ das Haus und bog um die Ecke. Ich sah die Scheune weiter hinten über einem Hügel und hinter ein paar Bäumen. Ein Kiespfad führte dorthin. Als ich mit Hank an der Straße vorbeigefahren war, hatte es ausgesehen, als wäre die Scheune näher am Haus, doch jetzt sah ich, dass sie ein Stück weiter war. Ich ging über den Pfad und machte dabei wenig Geräusche. Auf halbem Weg sah ich andere Häuser, die eher nach Familienbehausungen aussahen. Sie hatten Gärten mit Schaukeln und Tiergehegen.

Doch ich sah kein Lebenszeichen.

Ich ging bis zu den Scheunentoren, die geschlossen waren. Die Scheune hatte zwei Stockwerke aus weiß angestrichenem Holz, das zu den Ziegeln des Hauses passte. An der Seite neben den Bäumen parkte ein weiterer SUV. Das Licht war aus, das Auto leer.

Ich sagte: „Sheldon, halte dich bereit. Wir müssen uns vielleicht beeilen.“

Ihre Stimme war deutlich im Kopfhörer. Sie fragte: „Warum? Was ist los?“

Ich trat näher an die Scheune. Ich sagte: „Die Lichter mit den Bewegungsmeldern. Sie gehen nicht an.“

Ich winkte mit der linken Hand, um sie zu aktivieren. Die Sensoren klickten, doch es kam kein Licht. Es blieb dunkel. Ich stellte die Taschenlampe an und betrachtete die Lichter.

„Die Glühbirnen sind ausgeschossen worden“, sagte ich.

Ich sah Einschusslöcher in den Gehäusen. Die Motoren surrten, doch das Licht blieb aus.

„Da ist noch etwas.“

Sie fragte: „Was denn?“

Ich leuchtete zu der Rückseite des geparkten SUVs.

„Hier steht Gradys Wagen.“

Sein Tahoe parkte direkt vor mir. Das Blaulicht war leblos wie der Rest des kalten Motors.

Sheldon sagte: „Oh, mein Gott! Ist er daran beteiligt?“

„Ich weiß es nicht. Ich glaube nicht.“

Sie fragte: „Was ist in der Scheune?“

Ich blieb still und ging näher zu den Türen. Ich leuchtete mit der Taschenlampe darüber. Dann klopfte ich an die Tür: nicht laut, sondern nur ein leises Klopfen. Keine Reaktion. Ich klemmte mir die Lampe unter den Arm und hielt die CZ 52 in derselben Hand. Mit der anderen packte ich den Türgriff und riss an der Tür. Sie schwang auf. Als nächstes zog ich an der anderen. Sie schwang ebenfalls leicht auf. Die beiden Türen hingen gut in ihren Scharnieren.

Ich blinzelte und versuchte, mich an die Dunkelheit im Innern zu gewöhnen. Ich sah schemenhaft mehrere Gestalten hoch über mir. Ich stellte mich breitbeinig auf, vergrub die Füße in der nassen, schlammigen Erde und hob die Pistole mit beiden Händen, bereit zum Schießen. Die Taschenlampe fiel mir aus der Achsel und versank im Schlamm.

Ich rief: „Halt!“ Dabei verwendete ich meine kräftige und laute Cop-Stimme, doch keiner der Männer vor mir reagierte. Aus der Distanz konnte ich keine Details ausmachen, doch es sah aus, als sie sich bewegen würden.

Ich rief: „Stehenbleiben!“ Dann ließ ich mich schnell auf ein Knie herunter, nahm die Taschenlampe und blickte zu den Männern im Innern. Ich zählte mehr als ein Dutzend. Ich erkannte nicht, wer es war und auch nicht, ob sie bewaffnet waren. Doch ich vermutete, dass sie meinen Anweisungen folgten, denn keiner schoss.

Ich stand auf und trat ein. Ich machte ein paar Schritte und erstarrte. Grady war da. Auch die Rednecks, die ich in Matlinds Zimmer getroffen hatte. Es sah aus, als wären alle wehrhaften Männer der Stadt hier, die ich kannte. Die Deputys des Sheriffs. Lewis.

Die Luft war erfüllt von einem schrecklichen Gestank. Ich leuchtete durch den Raum und sah Glaskolben, riesige Hülsen, ein teures Luftfiltersystem. Hier hatten die Rednecks eindeutig Meth gekocht. Überall standen die Beweise herum. Es sah aus, als hätte ich sie in flagranti erwischt, doch das war es nicht, was tatsächlich geschehen war.

Ich schob die Waffe zurück in meinen Gürtel und griff an meinen Kopfhörer. „Sheldon?“

„Ja. Hast du die Frauen gefunden?“

„Nein. Nur die Rednecks und Grady sowie seine Deputys.“

Es war still in der Leitung. Dann fragte sie: „Du hast sie gefunden? Dann ist Grady beteiligt?“

Ich sagte: „Nein, er ist tot. Sie sind alle tot. In der Scheune. Jemand hat ihnen Hände und Füße gebunden und sie an die Balken gehängt.“

Sie rang nach Luft. „Alle tot? Alle?“

„Ja. Mausetot. Es ist gerade erst geschehen.“

„Hast du nicht gesagt, dass Oskar Tega gerade erst gekommen ist? Wie hat er so schnell herkommen können?“

„Er muss Hilfe gehabt haben. Männer, die schon da waren. Er hatte auch einen Mann in meine Gefängniszelle geschickt, um mich zu töten. Ich dachte, das war ein einzelner Mann – ein Auftragskiller –, doch vielleicht hatte Tega bereits eine ganze Gruppe hier. Vielleicht hatte er ein Team von Killern, das schon länger beauftragt war herzukommen. Ich wette, er hat schon Männer geschickt, bevor die Drogenbehörde sein Haus in Mexiko durchsucht hat. Der Sheriff und die Rednecks sind Opfer.“

Sie fragte: „Aber der Sheriff war nicht mit dabei?“

„Nein. Auch nicht die Rednecks. Wie es in dieser Scheune aussieht, waren sie mit einer anderen Operation beschäftigt. Grady war höchstens an ihrem Meth-Geschäft beteiligt. Ich lag falsch. Jemand anders hat die Mädchen verschleppt. Wir haben hier zwei verschiedene Operationen. Die Rednecks haben mit Meth gehandelt, Oskar Tega mit Menschen. Deshalb war Grady so zurückhaltend damit, Außenseiter mit hineinzuziehen. Er hat die Rednecks geschützt. Zwischen ihnen muss jetzt etwas schiefgelaufen sein.“

Sheldon schwieg.

Ich betrachtete die Gesichter der Toten. Ich sagte: „Tega ist da, und jetzt ist es an der Zeit, aufzuräumen. Genau das macht er gerade. Seine Männer haben diese Leute getötet, um ihre wahre Operation zu verbergen oder um Mitwisser auszuschalten. Ich weiß es nicht. Womöglich will er, dass die Cops ihn für einen Drogendealer halten. Das hat für ihn bisher gut funktioniert. Er wird die Mädchen verschleppen. Wir müssen sie finden, bevor das geschieht, sonst wird man sie niemals wiedersehen.“

Sheldon blieb weiter stumm.

Ich trat aus der Scheune. Ich steckte die CZ 52 in den Gürtel und senkte die Taschenlampe, dann sah ich in die Ferne. „Wo könnten sie noch sein?“, fragte ich.

Vom Haupthaus konnte ich den See nicht erkennen, doch jetzt dehnte sich der Nebel wieder aus wie ein lebendes Geschöpf, als würde etwas da draußen –ein Riese – ausatmen. Er waberte niedrig am Boden. Ein paar Gewitterwolken hingen noch in der Luft, doch es donnerte nicht mehr.

Ich blickte hinaus über den See und war überrascht. Ich sah leuchtend orangefarbenes und rotes Licht, das sich in den Himmel erhob. Da war ein Feuer. Auf der anderen Seite des Sees brannte es. Orangefarbene Schwaden stiegen in den Himmel. Schwarzer Rauch vermischte sich mit den Wolken. Und dann gab es eine Explosion. Das Feuer hatte einen Gas- oder Propantank erreicht. Das Geräusch hallte über den Horizont, und die Explosion schoss hoch in einer erschreckenden Rauch- und Feuerkugel.

Ich sah entsetzt zu, als das Feuer das Eckhart Medical Center verschlang. Eine Sache kam mir in den Sinn, eine Erkrankung – Asthma.

Faye Matlind hatte starkes Asthma.